Redner(in): Christina Weiss
Datum: 18.06.2005

Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss hielt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Künstler.Archiv" am 18.06.05 folgende Rede.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/39/847939/multi.htm


von Walter Benjamin gibt es das wunderbare Diktum: "Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen." Benjamins Räuber wildern nun hier, sie verstecken sich auch in seinem Nachlass, der vor zwei Jahren der Akademie der Künste übergeben wurde. Aus diesem Grunde wollte ich den großen Philosophen und Essayisten hier zuerst zu Wort kommen lassen. Und es gab noch einen anderen Grund: In einer Zeit wie der unseren, die sich immer in Eile wähnt und deshalb Zusammenfassungen, Auszüge, Videoclips bevorzugt, ist Benjamins Hinweis auf die Totalität der Kunstwerke von fast unpopulärer Dringlichkeit, ebenso wie die Schlussfolgerung, dass es nicht leicht ist, sich eine eigene Meinung zu bilden - und diese mit Herz und Verstand zu verteidigen.

Doch zum Glück haben wir Archive, in denen - als Jäger und Sammler ist der Mensch ja groß geworden - eingeholt und aufbewahrt wird, was im Lauf der Zeit gedacht und geschaffen wurde. Die Archive der Akademie der Künste sind eine ganz besondere Spezies in diesem Zusammenhang, vielleicht sogar ihr Markenzeichen. Mit der Vielfalt ihrer Originale aus Vor- wie Nachlässen von Künstlerinnen und Künstlern, zu denen Entwürfe, Briefe, Tonaufzeichnungen, Film- und Fotoaufnahmen, diverse Dokumente zählen, konservieren diese Archive zugleich so etwas wie die Fußstapfen der Kunstwerke - und den Untergrund, auf den sie gesetzt wurden.

Wir können uns hier auf eine Spurensuche im künstlerischen Kosmos begeben und zum Beispiel wieder finden, was Käthe Kollwitz an ihren Plastiken verändert hat, was Konrad Wolf aus seinen Filmen herausgeschnitten oder was George Grosz in seinen Bildentwürfen verworfen hat. Die vornehmste Aufgabe und schönste Pflicht dieser Archive besteht darin, Schritte verständlich zu machen, die zu einer künstlerischen Entscheidung geführt haben. Es geht darum, ihre ästhetischen, praktischen, mitunter durchaus von alltäglichen Zwängen und banalen Notwendigkeiten geprägten Produktionsbedingungen offen zu legen und für spätere Interessenten aufzubereiten.

Der international vorzügliche Ruf, den die Berliner Akademie der Künste auch wegen ihrer Archive genießt, bestätigt, meine Damen und Herren, wie gut und profund hier gearbeitet wird. Arbeit indes verlangen die historischen Originale auch von allen, die sich nach der Archivierung mit ihnen beschäftigen. Eine flüchtige Notiz auf der Rückseite eines Briefkuverts etwa will erst entdeckt und entschlüsselt werden, um in eine Dissertation vielleicht über Heiner Müller integriert zu werden.

Ich freue mich, dass ich heute eine Ausstellung eröffnen kann, die den lebensnotwendigen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart nochmals betont, indem sie die in den Archiven fixierten Potentiale direkt mit gegenwärtiger Kreativität kurzschließt. Neun Künstlerinnen und Künstler zeigen uns, welche Funken sprühen können, wenn sich Tradition und Aktualität verbinden, und wie wichtig das Erinnern als Teil jedweder Selbstvergewisserung ist.

Ich freue mich besonders, dass diese Ausstellung, die wir mit dem Hauptstadtkulturfonds des Bundes maßgeblich unterstützen konnten, im neuen Gebäude der Akademie der Künste am Pariser Platz stattfindet. An diesem singulären Ort, an dem sich wie wohl an keinem anderen in Berlin die Zeiten am Fuße des Brandenburger Tores überlagern, sind die geschichtlichen Bezüge im Schnittkreuz von Ost und West mit Händen zu greifen.

Das neue Akademie-Gebäude lädt allein schon mit seiner architektonischen Durchlässigkeit und kommunikativen Unaufgeräumtheit zum Dialog ein. Nichts anderes will die Ausstellung "Künstler. Archiv". Man darf zu Recht ein interdisziplinäres Zwiegespräch zwischen den historischen Sammlungen und dem aktuellen Schaffen erwarten.

Und wo, wenn nicht hier wäre der passende Ort dafür? Die Akademie besitzt unzweifelhaft eine historisch gegründete Kraft, ihre Relevanz aber muss sie im gesellschaftlichen Diskurs entfalten. Die Ausstellung "Künstler. Archiv" erlaubt uns, diese so wesentliche Auseinandersetzung in künstlerischer Gestalt zu genießen, und so vielschichtig und experimentierfreudig, wie sich die Akademie hier in Zukunft präsentieren wird.

Neun Künstlerinnen und Künstler haben sich anregen lassen, mit ausgewählten Fundstücken aus der Vergangenheit das kulturelle Gedächtnis, das die Akademie mit ihren Archiven verkörpert, nachvollziehbar anzuzapfen. Und sie haben den Mut, sich "neben die Originale" zu stellen. Dadurch können wir einerseits verfolgen, wie vielfältig die Herangehensweisen waren, andererseits auch erkennen, wie reich die Impulse sind, die aus den archivierten Materialien entspringen.

Kunst braucht keinen Grund, sie entsteht aus sich selbst heraus. Oder hilft ihr etwa ein konkreter Anlass auf die Sprünge? Ist es der gewaltige Aktenberg, den Jochen Gerz zum Stundenbuch der Bürokratie umgeschichtet hat, oder die markante Stimme des Dirigenten Hermann Scherchen, die Sie in der Toncollage von Christina Kubisch hören? Mithin fangen wir an, indem wir auf die Wurzeln schauen, auch in der Kunst nach dem Baum zu fragen, und umgekehrt: Am Baum zu bewundern, wie und wodurch er geworden ist.

Diese Ausstellung wird ausgerechnet im Schiller-Jahr am 28. August enden, das heißt an Goethes Geburtstag, der dann 256 Jahre alt geworden wäre. Lassen Sie uns das als weiteren Beleg dafür nehmen, wie unsere kulturelle Tradition mit unserer Gegenwart verwoben ist, und lassen Sie uns die Chancen nutzen, die uns ein großer Schatz wie die Archive der Akademie der Künste bieten.

Ich danke Ihnen.