Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.06.2005

Untertitel: Ansprache von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Buchpräsentation von Erhard Eppler "Auslaufmodell Staat?" am 21. Juni 2005
Anrede: Lieber Erhard Eppler, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/848292/multi.htm


Ich bin - wie Sie sich vorstellen können - gern zu dieser Buchvorstellung gekommen; zum einen natürlich, weil ich Erhard Eppler sehr als Menschen und als politischen und auch wissenschaftlichen Ratgeber schätze, zum anderen, weil er mit seinem Buch "Auslaufmodell Staat?" genau eine der zentralen Zukunftsfragen für die nationale und internationale Politik aufwirft, die Frage nämlich, welche Rolle wir dem Staat und dem Handeln multinationaler Institutionen beimessen wollen. Dies wird - man spürt das ja schon - eine der großen Auseinandersetzungen sein, in Deutschland, in Europa und darüber hinaus.

In Deutschland werden die Menschen in den nächsten Monaten vermutlich eine Wahl zwischen zwei Polen zu treffen haben - zwischen der einen Position, die den Staat entkernen und das Soziale in unserer Gesellschaft beiseite drängen will, und einer Position, die einen aktiven und interventionsfähigen Staat erhalten will und die durch ausgewogene Reformen die Balance halten will zwischen der Eigenverantwortung des Einzelnen und dem Anspruch auf die solidarischen Leistungen eines handlungsfähigen Sozialstaates. Für die zweite Position - so viel ist klar - stehe ich und stehen die deutschen Sozialdemokraten. Für uns ist und bleibt die Sicherung des Sozialen und die Gerechtigkeit in den Chancen eine Hauptaufgabe von Politik und damit natürlich auch von Staat. Denn wir wissen, dass ohne einen starken Staat Eigenverantwortung nichts anderes wäre als Privatisierung - der Bildung, der öffentlichen Güter und der Infrastruktur, aber auch der Lebensrisiken.

Das wollen wir nicht. Deswegen wollen wir einen starken, einen zur Solidarität fähigen Staat - einen Staat, der sein Handeln eben nicht nach Partikularinteressen ausrichtet, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet ist, also einen sozialen und solidarischen Staat, der den Menschen in Notlagen hilft und der es ihnen ermöglicht, ein würdevolles, weil eigenständiges Leben zu führen, einen Staat im Übrigen, der in seiner Außen- und Sicherheitspolitik interventionsfähig ist, um Konflikte zu vermeiden oder zu lösen. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht mir nicht um zu viel Staat, also nicht um einen, der die Menschen bevormundet. Im Gegenteil: Ein starker Staat in dem Sinne, wie ich es versuche zu skizzieren, kann nur auf einer starken Zivilgesellschaft basieren. Er wird nur dann funktionieren, wenn er effizient organisiert ist und effizient arbeitet. Das ist, wenn man so will, der "notwendige Staat", von dem Erhard Eppler in seinem Buch spricht.

Meine Damen und Herren, auch auf europäischer Ebene gilt es ein spezielles Gesellschafts- und Sozialmodell zu bewahren, das sich insbesondere auf diesem Kontinent entwickelt hat. Dieses Modell beruht auf den Werten der Aufklärung und der französischen Revolution, und es hat sich in den sechs Jahrzehnten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges durchaus zu einem Erfolgsmodell entwickelt. Durch die Integration Europas, durch den gemeinsamen Markt und später durch die gemeinsame Währung ist es gelungen, Nationalismen zu überwinden - jene Nationalismen, die unserem Kontinent so viel Elend gebracht haben. Europa, das war die Antwort unserer Völker auf Krieg und Vernichtung, und dieses Europa ist und bleibt auch unsere Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung, auf die ökonomischen Herausforderungen ebenso wie auf die politischen. Wer nun glaubte, dieses Modell - aus welchen Gründen auch immer: aus nationalem Egoismus oder aus populistischen Motiven heraus - zerstören zu wollen, der - so finde ich jedenfalls - versündigt sich an den Wünschen, aber auch an den Rechten künftiger Generationen.

Ohne Zweifel: Nach den verlorenen Referenden in den Niederlanden und in Frankreich über die Europäische Verfassung sowie nach dem Scheitern des Europäischen Gipfels am vergangenen Wochenende befindet sich dieses Europa in einer ernsthaften Krise. Es geht aber im Kern nicht um die Frage, ob wir diese oder jene europäische Verfassung wollen. Es geht im Kern nicht einmal um die Details von Finanzierungsfragen. Im Kern geht es um die Frage: "Welches Vorstellung haben wir von Europa? Welches Europa wollen wir?" Wollen wir ein einiges, handlungsfähiges Europa, also eine wirkliche politische Union, wie es in der Verfassung durchaus intendiert ist? Oder wollen wir uns auf eine große Freihandelszone beschränken? Wollen wir also weg von der Europäischen Union zurück etwa zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft?

Diejenigen, die bei uns jetzt von der "inneren Überdehnung" Europas sprechen, die offenbaren den Kleinmut der Feigen, weil sie sich beim ersten Gegenwind, den sie spüren, wegducken. Ich bin der festen Überzeugung - und dafür werde ich mit den überzeugten Europäern in unserem Land und auf unserem Kontinent kämpfen - , wir brauchen eine politische Union. Nur eine politische Union ist in der Lage, Solidarität zu üben. Im Markt selber, im Markt allein, herrscht Wettbewerb. Man käme in große Schwierigkeiten, wenn man nur über den Markt nachdächte und nicht über die politische Union, wenn es darum geht, Solidarität mit den ärmeren Völkern in Europa zu üben. Wir werden die großen Herausforderungen, vor denen wir national wie international stehen, nur mit einem einigen Europa bewältigen können.

Wie können wir die sozialen Standards, die wir uns in Deutschland erarbeitet haben, vor Lohndumping und dem Abbau von Arbeitnehmerrechten schützen? Doch nur, wenn wir in Europa gemeinsam handeln, und zwar nicht durch Nivellierung nach unten in einem bloßen Markt, sondern durch politische Gestaltung in einer Union. Wie können wir zu einem vernünftigen Wettbewerb innerhalb Europas und darüber hinaus zwischen Europa etwa mit Amerika und Asien kommen? Doch nur, wenn es uns gelingt, faire Wettbewerbsbedingungen in der Europäischen Union und zwischen der Europäischen Union und anderen Wirtschaftsregionen zu definieren.

All dies ist nur möglich durch politischen Willen, nicht durch eine Spirale, die etwa die Steuereinnahmen immer weiter nach unten drückt. Denn darauf weist Erhard Eppler in seinem Buch zu Recht hin: Der Staat wird von den Menschen dann und nur dann respektiert werden, wenn er in der Lage ist, öffentliche Güter bereitzustellen. Das kann er aber nur, wenn er entsprechend materiell ausgestattet ist. Das betrifft alle Staaten in Europa. Das ist der Grund, warum wir diese Aufgabe nur gemeinsam werden lösen können. Harmonisierte Unternehmenssteuern in der Europäischen Union sind daher essenziell und werden aus diesem Grund von uns voran getrieben. Aber das bedeutet in der Konsequenz auch: Ein Nationalstaat kann heute nur noch stark sein, wenn er auch die innere Stärke besitzt, Kompetenzen an supranationale Institutionen abzugeben.

Meine Damen und Herren, eine besondere Bedeutung kommt der Stabilität auf internationaler Ebene zu. Es ist das große Verdienst von Erhard Eppler - und wir haben häufig darüber diskutiert - schon frühzeitig auf die Gefahren der asymmetrischen, der "privatisierten" Gewalt hingewiesen zu haben. Die Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eben nicht sicherer geworden. Viele Hoffnungen, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges und der Überwindung der bipolaren Weltordnung verbanden, haben sich nicht erfüllt. Zwar hat die Zahl der Kriege zwischen Staaten abgenommen. Doch der internationale Terrorismus, zerfallende staatliche Strukturen und die Ausbreitung von Massen-Vernichtungswaffen bedrohen unser aller Sicherheit.

Es ist ganz offensichtlich, dass es zur Bewältigung dieser globalen Bedrohungen auch globaler Antworten bedarf. Kein Land der Welt ist heute allein in der Lage, diesen neuen Herausforderungen zu begegnen. Wir brauchen dafür ein starkes und effektives multilaterales System, das auf die Stärke des Rechts und nicht auf das Recht des Stärkeren setzt - ein System, das einen verlässlichen Rahmen für Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Staaten bietet und trotz aller Interessensgegensätze globale Regierbarkeit gewährleistet. Und wir brauchen ein System, das eine nachhaltige Nutzung jener endlichen Ressourcen auf unserem Planeten fördert. Für eine solche Politik des Multilateralismus gibt es nur einen einzigen angemessenen Ort: Das sind und bleiben die Vereinten Nationen. Mit großem Nachdruck unterstützen wir deshalb die Bemühungen, die Weltorganisation zu reformieren. Deutschland ist willens und in der Lage, dabei mehr Verantwortung in den Vereinten Nationen, auch im Sicherheitsrat, zu übernehmen.

Darüber hinaus - darauf weist Erhard Eppler ebenso hin - müssen wir darauf hinwirken, alle Länder in die globalen Wirtschaftsbeziehungen einzubinden. Und wir müssen die ärmsten Länder der Welt weiter entschulden. Unsere Kölner Entschuldungsinitiative von 1999 und die Initiative der G8 waren und sind hierbei wichtige Schritte. Aber auch hier wird deutlich, dass Entwicklung nur möglich ist, wenn funktionierende staatliche Strukturen vorhanden sind. Die löblichste Entschuldungsinitiative bewirkt nichts oder jedenfalls nur wenig, wenn auf der Seite der Schuldnerländer kein gut regiertes, kein funktionierendes Staatswesen existiert. Ich halte es daher für wichtig, regionale Integrationsansätze mehr als bisher zu fördern: in Asien, in Lateinamerika oder auch in Afrika. Das sind Initiativen, die zu mehr Stabilität, zu mehr Frieden und damit zu mehr Entwicklung in diesen Ländern führen können.

Meine Damen und Herren, Erhard Eppler hat mit diesem Buch - man kann schon fast sagen: wieder einmal - einen wichtigen Beitrag zur politischen Debatte geleistet. Es geht nicht um den Wunsch nach einem allmächtigen Staat. Er wäre der Letzte, der ihn ausspräche, und ich wäre der Letzte, der ihn würdigte. Aber es geht darum, in Zeiten der Globalisierung das Primat der Politik mit neuem Leben zu erfüllen. Genau in diesem Sinne hat Erhard Eppler Recht: Der Staat mag zwar unpopulär sein, aber er ist auch unentbehrlich.