Redner(in): Christina Weiss
Datum: 22.06.2005

Untertitel: In ihrer Laudatio anlässlich der Verleihung des Kulturgroschens des Deutschen Kulturrates an Bundespräsident a.D. Johannes Rau am 22. Juni 2005 in Berlin hebt Kulturstaatsministerin Christina Weiss die Bedeutung der Kultur für das Alltagsleben hervor. Die gesunkene Beachtungin den Regierungen der Bundesländern Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sei kein gutes Zeichen für eine Kulturhoheit der Länder.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/09/849009/multi.htm


wenn man es recht bedenkt, ist doch ein Groschen eine viel zu kleine Münze, um Johannes Rau etwas für seine Verdienste zurückzuzahlen. Dennoch ist der Kulturgroschen des Deutschen Kulturrates eine so vorzügliche Währung an der Börse des Geistes, dass man den Preisträger ohne Zögern dazu beglückwünschen kann. Und die Jury ebenfalls. Denn diese Auswahl ist von exzellenter Note, weil sie ein kulturpolitisches Lebenswerk anerkennt und sich keineswegs nur auf die Amtszeit des Bundespräsidenten Johannes Rau beschränkt. Alles, was der Mensch treibt, kultiviert ihn ", schreibt Goethe und formt damit einen Kulturbegriff, der auf die Lebens- , Haltungs- und Geistesfragen eines Volkes abzielt. Wer die kulturellen und kulturpolitischen Verdienste Johannes Raus rühmen will, muss hier ansetzen.

Es ist eben zuvorderst die Kultur in der Lebensweise einer freien Gesellschaft, die ihn antreibt, emporreißt und die zu predigen er nicht müde wird. Sein Anliegen ist die Kultur des Zusammenlebens in einem Gemeinwesen, die politische Kultur in all ihren Erscheinungsformen. Und von dieser Kultur, umfassend verstanden, hängt auch Kulturpolitik im engeren Sinne ab: Verstanden als Ressortpolitik zählt die Kultur zu den zarten Pflanzen im großen Garten. Als Realpolitik ist sie allerdings eine bedeutende, bewegende und vor allem eine einende und befruchtende Kraft. Es hängt viel, sehr viel vom Atmosphärischen ab, von vertrauensbildenden Maßnahmen, von einer Wertschätzung gegenüber den Künsten. Die Kraft der Kultur ist besonders auf ein Klima angewiesen, das nicht den Lauttönern und Matadoren des Plakativen überlassen darf.

Wie nur wenige lebt Johannes Rau die Tugenden der Demokratie vor. Sein politisches Wirken ist auf Verständigung angelegt. Nicht im Sinne eines harmonisierenden Zukleisterns real existierender Konflikte - für die hat er sehr wohl einen scharfen Blick. Ihm war vielmehr immer bewusst, wie sehr eine demokratisch verfasste Res Publica davon abhängt, dass wir uns des dialogischen Charakters in Politik und Gesellschaft bewusst sind, dass wir ihn ernst nehmen. Von diesem Bewusstsein zeugt nicht zuletzt Raus sorgsamer, überlegter Umgang mit Sprache. Diese Ernsthaftigkeit schließt den entwaffnenden Witz nicht aus - auch dies gehört zu den vielen Dingen, die man von Johannes Rau lernen kann. In einer Rede vor dem Verband Deutscher Schriftsteller hat Johannes Rau einmal die besondere Kompetenz charakterisiert, mit der Schriftsteller sich öffentlich einmischen können. Die Beschreibung lautete wie folgt: Sie schauen, bevor sie schreiben, genauer hin als die meisten - bei sich und anderen.

Sie achten genauer auf die Töne und auf die Untertöne der Sprache.

Sie spüren sensibler, wohin sich die Menschen orientieren, woran sie sich halten und wovon sie sich abwenden.

Sie entdecken oft als erste, nach welchen Werten die Menschen sich richten, wem sie vertrauen, wem sie nicht mehr glauben, was sie hassen und was sie lieben."

Meine Damen und Herren,

dem Buch war Johannes Rau immer besonders eng verbunden. Schriftsteller ist er allerdings nicht geworden, sondern Politiker, und dies mit Leib und Seele.

Die zitierten Eigenschaften jedoch machen auch seine besondere Autorität aus. Als Bundespräsident hat Rau große, schwierige Themen gewählt und dabei immer die richtigen Worte gefunden. Ich denke hier an seine "Berliner Reden" zur bio-medizinischen Ethik, zur Globalisierung, zu Deutschlands Rolle in der Welt nach dem 11. September. Ich denke vor allem aber auch an die Rede zum Thema Migration aus dem Jahr 2000 - gehalten im Haus der Kulturen der Welt. Diese Reden sind ausgewogen, das mag zum Amt des Präsidenten gehören. Aus ihnen spricht aber auch eine besondere Offenheit, eine Nachdenklichkeit und Herzensbildung, und diese Eigenschaften erwirbt man nicht qua Amt; sie sind Eigenschaften der Person Johannes Rau.

Mit der Berliner Rede zur Migration zum Beispiel hat Rau gleich zu Beginn seiner Amtszeit verdeutlicht, dass der kulturelle Dialog zu seinen zentralen Anliegen gehört. Jenseits einer naiven multikulturellen Romantik plädiert er eindringlich und zugleich für die offene Gesellschaft, zu der es gehört, sich für den Rang der Kultur in anderen Ländern zu interessieren. Nur durch diese Neugier und Offenheit lässt sich lernen, Unterschiede gelten zu lassen, Gleichgültigkeit abzubauen und respektvoll miteinander umzugehen.

Voraussetzung dafür ist und bleibt - auch darauf wies Johannes Rau immer wieder hin - eine umfassende Bildung. Wer stolz sein kann auf Wissen und Kompetenz, der kann auch stolz sein auf seine Mündigkeit. Eine Demokratie braucht fähige Denker und die kreative Energie des Geistes, um seine eigene Freiheit zu garantieren. Johannes Rau wusste das als Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen sehr genau.

Er hat in acht Jahren eine ganze Reihe von Hochschulgründungen initiiert, realisiert und begleitet, darunter die bis heute in Deutschland singuläre Fernuniversität in Hagen. Als Ministerpräsident hat er sich in zwanzig weiteren Jahre mit Nachdruck für Bildung, Wissenschaft und Kultur eingesetzt. Und es ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass das Ruhrgebiet heute als Kulturregion wahrgenommen wird und die Schätze nicht nur aus dem Erdinnern, sondern auch in den Köpfen gehoben werden. Umso schmerzhafter ist es, wenn jetzt, wie es aus Düsseldorf herüberdringt, die Kultur keinen eigenen Vertreter mehr am Kabinettstisch haben sollte. Auch in Schleswig-Holstein wurde das Kulturressort verzwergt. Eine Kulturhoheit der Länder stelle ich mir anders vor.

Meine Damen und Herren,

dass Bildung Verstand und Sinne ansprechen muss, dass sie übergreifend und umfassend gedacht werden muss, hat Johannes Rau in seiner Zeit als Bundespräsident immer wieder betont. Nicht ohne Hintergrund und nicht nur mit Worten: Mit der Initiative "Musik für Kinder" hat er sich aktiv in die kulturpolitische Debatte eingebracht und den Stellenwert der ästhetischen Bildung, der kulturellen Bildung insgesamt anschaulich unterstrichen. Sein Signal gegen die drohende "musikalische Versteppung" Deutschlands hat Wirkung gezeigt: Dass es heute eine ganze Reihe von Initiativen für die kulturelle Bildung gibt, verdanken wir nicht zuletzt seinem Anstoß. Denn, und hier zitiere ich gern meinen Kabinettskollegen Otto Schily: Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit.

Johannes Rau - Sie wissen es alle - hat sich aber auch in diffizile Strukturfragen eingemischt. Mit dem "Bündnis für Theater" berief er einen hochkarätigen Kreis, dessen Beratungen auf einen "neuen Konsens" ausgerichtet waren, auf die Frage, wie wir das Theater so erhalten können, dass es auch künftig eine herausragende Rolle in unserer Gesellschaft spielt. Und wer hier ein "Kaffeekränzchen im Bellevue" vermutet, liegt gänzlich falsch: Das "Bündnis für Theater" hat alle zentralen Probleme des Theaters ausführlich diskutiert und zum Teil sehr konkrete Vorschläge erarbeitet. Sie bilden eine zentrale Basis für die Theaterdebatte insgesamt, aber auch für die Arbeit der Bundestags-Enquete zur "Kultur in Deutschland".

Einen strukturellen Impuls hat Johannes Rau auch mit seinem Plädoyer für Kultur als Pflichtaufgabe und die Niederschrift im Grundgesetz gegeben. Seinen Vorstoß hat er einmal in der ihm eigenen Art auf den Punkt gebracht: "Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es die Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe auf allen staatlichen Ebenen. Ich weiß, dass das der Kultur noch keinen Euro mehr bringt. Aber nur wenn die Kultur und die für sie Verantwortlichen auf einer, auf der gleichen Stufe mit anderen wichtigen Aufgaben stehen, rücken sie dahin, wo sie hingehören, in die erste Reihe." Auch in diese Debatte ist inzwischen Bewegung gekommen, auch hier war Johannes Rau der bewegte Beweger.

Als jemand, der lange Zeit hohe politische Verantwortung getragen hat, weiß Rau um die Bedeutung von Strukturen. Als jemand, der darüber nie das Maß des Menschen aus den Augen verloren hat, weiß er aber genauso, dass Politik sich letztlich immer am Individuum orientieren muss, und zwar auch abseits des Rampenlichts.

Konsequent hat er auch sein kulturelles Engagement als Bundespräsident nicht allein den institutionellen Fragen gewidmet. Eine besondere Herzensangelegenheit war ihm immer ein Instrument der individuellen Hilfestellung, die Deutsche Künstlerhilfe, die Künstlerinnen und Künstler in Not unterstützt. Mit Sensibilität und Energie zugleich hat Johannes Rau dieses Instrument genutzt. Dafür möchte ich ihm ganz besonders danken.

Kultur, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist kein Tummelplatz für Eingeweihte, sondern das Maß unseres Umgangs miteinander. Johannes Rau hat dafür gesorgt, dass wir mit Kultur behelligt werden. Es geht eben nicht nur um ökonomische Schwierigkeiten, es geht auch um die Probleme, die dieses Land mit sich und seiner Selbstwahrnehmung hat. Die Kulturnation Deutschland hat sich am Ganzen zu orientieren und sich gegen die Reduktion auf den rein wirtschaftlichen Nutzen zu wenden.

Die Kultur ist das notwendig emotional motivierende Gemeinschaftsbildende, das die Summe aller regionalen Einheiten nationstauglich zu machen vermag.

In diesem Zusammenhang fällt mir ein Zitat ein, das Johannes Rau mehrfach, nicht ohne Witz und doch mit voller Überzeugung verwendet hat. Es handelt sich um einen Satz des Philosophen, Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen: "Wenn der Mensch nur noch als Homo oeconomicus daherkommt und nur noch Nutzen und Präferenzen im Kopf hat, dann wird er zum rationalen Trottel".

Seit der Französischen Revolution unterschied man zwischen dem citoyen und dem bourgeois, zwischen dem gebildeten und dem besitzenden Bürger. Sie, verehrter Johannes Rau, haben uns beigebracht, dass Bildung der größte Besitz des Bürgers ist. Und obwohl der Begriff des Bildungsbürgers noch immer unter Generalverdacht steht, haben Sie uns bewiesen, dass dieses Verdikt der Achtundsechziger kein Bestand hat. Im Gegenteil. Sie waren Deutschlands Bürgerpräsident, sie sind der Deutschen Erster Bildungsbürger.

Herzlichen Glückwunsch!