Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 27.06.2005

Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Donohue, sehr geehrter Herr Irwin, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/18/850918/multi.htm


Bei unserer Begegnung heute Vormittag haben Präsident Bush und ich intensiv sowohl über bilaterale Fragen, die Europäische Union und die Schwierigkeiten, in der diese Union gegenwärtig steckt, als auch über den bevorstehenden G8 -Gipfel und andere internationale Fragen gesprochen. Es gab, und ich bin froh darüber, in vielen Punkten große Übereinstimmung. Diese Übereinstimmung ist Ausdruck einer Freundschaft, die Deutschland und die Vereinigten Staaten seit langem verbindet. Sie basiert auf gemeinsamen Grundwerten, und diese Grundwerte sind das feste Fundament unserer Freundschaft, auf dem wir dann gelegentlich auch miteinander diskutieren - meistens übereinstimmend und gelegentlich auch kontrovers, wie das unter Freunden so ist.

Freiheit und Demokratie, Rechtstaat und Menschenrechte sind unser gemeinsames Erbe, übrigens ein Erbe der europäischen Aufklärung, das sich in der amerikanischen Verfassung in seltener Deutlichkeit niedergeschlagen hat. Gemeinsam treten wir für das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen, für den Schutz vor Gewalt und auch vor staatlicher Willkür sowie für den Anspruch aller Menschen auf eine gerechte Teilhabe an den produzierten Gütern in der Welt, aber auch an den politischen Entscheidungen ein.

Meine Damen und Herren, die Partnerschaft zwischen unseren beiden Nationen hat durch die intensiven und wirklich umfassenden wirtschaftlichen Beziehungen für viele Menschen hier, in den Vereinigten Staaten, und erst Recht in Deutschland Arbeit gebracht und damit Wohlstand möglich gemacht. Im vergangenen Jahr ist unser gemeinsames Handelsvolumen auf rund 135 Milliarden Dollar angestiegen. Durch zahlreiche Investitionen deutscher Unternehmen in den USA - der Präsident hat darauf hingewiesen - und amerikanischer Unternehmen bei uns sind unsere Volkswirtschaften nicht nur wohlhabender geworden, sondern sie sind auch immer enger miteinander verflochten.

Das ist auch ein Grund dafür, dass wir - Deutschland und die Vereinigten Staaten - ein gemeinsames Interesse am Ausbau des multilateralen Welthandelssystems haben. Deutschland hat sich in diesem Zusammenhang für einen erfolgreichen Abschluss etwa der Doha-Welthandelsrunde eingesetzt. Wie die USA versprechen wir uns durch die Liberalisierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte einen wirklich nachhaltigen Anschub für die Weltwirtschaft. Alle WTO-Mitglieder können dadurch neue Chancen auf den Exportmärkten erhalten. Es ist deshalb erfreulich, dass die Dynamik in den Kernbereichen der Verhandlungen, die gegenwärtig laufen, wirklich zugenommen hat. Die Europäische Union hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet, indem sie ihren Agrarbereich grundlegend reformiert hat.

Ich bin sicher, dass auch die USA in der Lage sein werden, Gleichwertiges anzubieten. Dies ist nicht nur für die Entwicklungsländer wichtig, sondern auch Voraussetzung, um Erfolge beim Abbau der Industriezölle oder der Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte zu erzielen.

Meine Damen und Herren,

viele ausländische Investoren wissen seit langem, dass Deutschland ein sehr guter Standort für Investitionen ist. Wir wollen, dass das so bleibt. Ausländische Investoren - ich betone: auch Finanzinvestoren - sind und bleiben deshalb in unserer Volkswirtschaft hoch willkommen. Unverzichtbar ist jedoch, dass sie sich an die gemeinsam erarbeiteten Spielregeln halten. Darauf achten wir nicht nur der Spielregeln wegen, sondern darauf müssen wir gerade auch im Interesse der vielen Unternehmer und Unternehmen achten, die dies ganz selbstverständlich tun. Jede Verletzung der Regeln ist nicht nur ein Regelverstoß, sondern schädigt auch diejenigen, die sich daran halten. Wir diskutieren in unserem Land über das eher kurzfristig angelegte Engagements nicht aller, aber schon des einen oder anderen Hedge-Fonds. Das hat Fragen aufgeworfen, die beantwortet werden müssen. Wir wollen stabile Finanzmärkte.

Dazu brauchen wir weltweit eine wirklich durchgreifende und wirkungsvolle Aufsicht. Wichtigstes Ziel der Aufsicht muss nicht Regulierung sein, sondern muss eine deutlich verbesserte Transparenz dieses Teilmarktes sein. Wir stimmen in der Forderung nach Transparenz übrigens auch mit sehr wichtigen Vertretern der hiesigen Administration überein. Das ist einer der Gründe, aus dem ich mich auf dem G8 -Gipfel in Gleneagles in der nächsten Woche dafür aussprechen werde, den Versuch zu machen, international einheitliche Mindeststandards für diese Bereiche zu definieren. Es geht übrigens um die Herstellung einer Transparenz, wie sie hier im Land in vielen Fällen bereits gang und gäbe ist. Aktueller denn je ist nach meiner Auffassung auch die Notwendigkeit zur Herstellung von mehr Transparenz auf den Ölmärkten mit dem klaren Ziel, Spekulation einzudämmen. In den Preisen in diesem Bereich spiegeln sich eben nicht nur die Aufwendungen der Förderländer wider, sondern vielfach auch Spekulationen, die die Preise in die Höhe treiben und das weltwirtschaftliche Gleichgewicht gefährden. Auch dazu werde ich mich in Gleneagles äußern.

Ein besonders wichtiger Bereich des Themas, das wir hier miteinander besprechen, also des Themas, wie es uns gelingt, die Weltwirtschaft in Ordnung zu halten und besser zu machen, ist übrigens der Schutz des geistigen Eigentums. Hier gibt es gerade auch in asiatischen Ländern, auch und vor allem in China, noch bedenkliche Entwicklungen. Den Schutz des geistigen Eigentums, also dessen, was von Menschen erfunden und erarbeitet worden ist, halte ich für einen der wichtigsten Grundsätze in der internationalen Wirtschaftspolitik. Es kann nicht angehen, dass Volkswirtschaften und Unternehmen, die gewaltige Summen in Forschung, Entwicklung und Innovationen investiert haben, durch die, die das nicht getan haben, um die Früchte ihrer Arbeit gebracht werden. Der Schutz des geistigen Eigentums, aber auch Regeln für einen geordneten Technologietransfer müssen international weit wirkungsvoller als bislang durchgesetzt werden. Wir werden auch dieses Thema auf dem Gipfel in Gleneagles intensiv erörtern. Darüber hinaus möchte ich diesem Thema einen ganz besonderen Stellenwert beim Weltwirtschaftsgipfel 2007 in Deutschland geben.

Meine Damen und Herren,

auf dem G8 -Gipfel in Gleneagles werden wir für hoch verschuldete Entwicklungsländer einen vollständigen Schuldenerlass beschließen. Damit setzen wir unsere - die deutsche - Entschuldungsinitiative fort, die 1999 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Köln begonnen wurde. Insgesamt werden die Entwicklungsländer um rund 56 Milliarden Dollar zusätzlich entlastet. Das ergibt einen langfristigen Spielraum für Investitionen, die diese Länder besonders brauchen: Investitionen in Bildung und in die soziale Infrastruktur, aber auch in Wasserversorgung und Gesundheit insgesamt. Aber der Schuldenerlass hat eine gute Regierungsführung als Voraussetzung, wenn er die erstrebten Ziele denn auch wirklich erreichen soll. Daran muss man festhalten, und auch daran muss man in guter Partnerschaft mit den Ländern, die betroffen sind, arbeiten.

Meine Damen und Herren,

ich freue mich, dass heute der Präsident der amerikanischen Handelskammer in Deutschland, Fred Irwin, hier auf dem Podium sitzt. Er ist ein hervorragender Kenner der deutschen Wirtschaft. Er weiß deshalb, wie innovativ und wie flexibel der Wirtschaftsstandort Deutschland inzwischen ist. Wir sind im Jahr 2004 Exportweltmeister geworden, und dies zum zweiten Mal hintereinander. Ein wichtiger Grund für unsere Exporterfolge besteht darin, dass unsere preisliche Wettbewerbsfähigkeit stetig zugenommen hat. Dazu hat insbesondere die günstige Lohnstückkostenentwicklung beigetragen. Die Produktivität wächst bei uns deutlich schneller als im gesamten Euro-Raum. Diese Erfolge sind letztlich Ergebnis einer auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichteten Reformpolitik meiner Regierung unter dem Begriff "Agenda 2010". Dazu gehört die deutliche Entlastung der Unternehmen und der Bürgerinnen und Bürger bei Steuern und Abgaben. Mit den mehreren Schritten der Steuerreform, die wir gemacht haben, haben wir Wirtschaft und Bürger seit 1998 um rund 60 Milliarden Euro entlastet. Wir hatten im vergangenen Jahr die niedrigste Staatsquote seit der Wiedervereinigung, und wir gehören unter den OECD-Ländern zu den Ländern mit der niedrigsten Steuerquote.

Wir haben darüber hinaus unseren Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme an entscheidenden Stellen modernisiert. Wir haben die Möglichkeiten für Neueinstellungen verbessert und die Anreize für die Aufnahme auch niedrig entlohnter Arbeit deutlich gestärkt. Wir haben bei der Renten- und Krankenversicherung auf zwei Probleme reagieren müssen, mit denen sich alle entwickelten Industriestaaten, jedenfalls die in Europa, auseinandersetzen müssen: Das eine ist ein radikal veränderter Altersaufbau unserer Gesellschaften, und das andere ist das mit dem Globalisierungsbegriff Umschriebene, was letztlich ein Begriff für einen deutlich verschärften weltweiten Wettbewerb ist.

Wir haben darauf reagiert, indem die Balance zwischen dem, was gemeinsam, solidarisch finanziert wird, und dem, was der Einzelne für sich selbst zu tun hat, in Richtung Eigenverantwortung neu definiert wird. Wir haben durch die Arbeitsmarktreformen dafür gesorgt, dass die Beschäftigten in unserem Land sehr flexibel sind. Das spüren auch Unternehmen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die in Deutschland produzieren. Ich will nur zwei Beispiele von vielen nennen: Motorola produziert Mobiltelefone im Norden von Deutschland.

Um die Produktion jederzeit der Auftragslage anpassen zu können, hat Motorola einen flexiblen Schichtdienst eingeführt. Mit einem Tag Vorwarnung können die Mitarbeiter zu Sonderschichten auch an Wochenenden einberufen werden. AMD wird in diesem Jahr in Dresden seine zweite Chipfabrik einweihen. Dresden, eine sehr schöne Stadt in Sachsen, also in einem der neuen Bundesländer, hat sich in den vergangenen 15 Jahren zum führenden Elektronikstandort nicht nur in Deutschland, sondern in Europa entwickelt. Die Werke in Ostdeutschland sind die produktivsten, über die das Unternehmen weltweit verfügt. Der Bau eines weiteren Werkes wird gegenwärtig geprüft. Das ist nicht nur Ausdruck der Innovationsstärke Ostdeutschlands, sondern ohne Zweifel auch Ausdruck der hohen Leistungsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur dort, aber eben auch dort.

Meine Damen und Herren,

nicht nur bei Handel und Wirtschaft, sondern auch im politischen Bereich werden wir die großen und globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nur meistern, wenn die engen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und den USA sowie Kanada wirklich Bestand haben und stetig weiter entwickelt werden. Unverändert gilt, und das ist meine feste Überzeugung: Eine enge transatlantische Bindung ist sowohl im deutschen und damit naturgemäß auch im europäischen, aber eben auch im amerikanischen Interesse. Ich habe mich daher im Februar für eine Intensivierung des transatlantischen strategischen Dialogs ausgesprochen, damit wir die Zusammenarbeit etwa im Bereich der NATO, aber nicht nur dort, besser auf die neuen Herausforderungen einstellen können. Hierbei gibt es erste Fortschritte. Die Außenminister der NATO sind sich einig, dass der politische Dialog im Bündnis ausgebaut werden muss, ein Dialogs, den wir brauchen, wenn wir gemeinsam Entscheidungen treffen wollen und für diese gemeinsam getroffenen Entscheidungen dann auch einstehen wollen.

Der EU-USA-Gipfel in der vergangenen Woche in Washington hat erneut den politischen Stellenwert der transatlantischen Zusammenarbeit unterstrichen. Damit hat dieser Gipfel eine klare Botschaft für die Weltöffentlichkeit gegeben: Europa und Amerika stehen auch künftig gemeinsam für Frieden, für Demokratie und für Freiheit in der Welt ein. Dies ist selbstverständlich auch die Leitlinie der politischen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika. Dies gilt in besonderem Maße bei der von unseren Ländern gemeinsam unterstützten G8 -Initiative für "Broader Middle East and North Africa". Dies gilt genauso bei der Sicherung des Friedensprozesses im Nahen Osten und dem Aufbau von Demokratie und Freiheit im Irak, aber eben auch für andere wichtige Fragen, z. B. für die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, im Kampf gegen den Terrorismus und auch im Kampf gegen Armut und die großen Epidemien unserer Zeit.

Dabei ist und bleibt deutsche Sicherheitspolitik zuallererst eine Politik für den Frieden und für die Vermeidung und friedliche Lösung von Konflikten in der Welt. Aber wir übernehmen, und wir haben das bewiesen, auch militärische Verantwortung dort, wo das zum Schutz und zur Sicherung des Friedens und des Überlebens von Menschen in Würde unumgänglich ist. Deutsche Soldaten arbeiten z. B. in Afghanistan engst mit amerikanischen zusammen. Auf dem Balkan können wir auf lange Jahre enger und effizienter Zusammenarbeit zwischen deutschen und amerikanischen Militärs, insbesondere in Bosnien und im Kosovo, zurückblicken. In den wesentlichen internationalen Fragen kommt es eben doch auf eine enge Kooperation zwischen Amerika und der Europäischen Union an.

Der Aufbau einer handlungsfähigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist dabei völlig unverzichtbar, auch wenn er gerade aktuell mit Schwierigkeiten verbunden ist. Auch in Zukunft muss und wird gelten: Ein einiges und starkes Europa ist ein Partner Amerikas, und deswegen liegt es im beiderseitigen Interesse, ein solches einiges und starkes Europa zu haben. Klar: Die Probleme, die wir gegenwärtig haben, müssen die Europäer selbst lösen. Wir müssen das Scheitern der Finanzverhandlungen überwinden. Wir müssen den Verfassungsprozess fortführen. Wir müssen also das großartige Projekt der europäischen Einigung weiter vorantreiben, eines Projekts, das diesem Kontinent nach blutigen Jahrhunderten zum ersten Mal eine lange Periode des Friedens und der wirtschaftlichen Entwicklung gebracht hat. Kein Rückschlag und keine Schwierigkeit dürfen uns von dem Ziel, das ganze Europa in einer politischen Union zusammenzubinden, abbringen.

Wenn wir dieses Ziel aus den Augen verlören und es nicht mit aller Hartnäckigkeit immer wieder verfolgten, erhielten wir zurecht bittere Vorwürfe unserer Kinder und Kindeskinder, weil der Kontinent nur durch das einige Europa und durch die Union ein Ort stetigen Friedens und Wohlergehens seiner Menschen bleibt oder dazu werden kann. Deutschland wird sich also immer wieder konstruktiv für diesen Einigungsprozess einsetzen, und ich bin ganz sicher, dass er im Interesse aller Menschen und erst Recht im Interesse der transatlantischen Zusammenarbeit liegt.

Meine Damen und Herren,

zusammen mit unseren transatlantischen und europäischen Partnern setzen wir uns seit langem für einen effektiven Multilateralismus ein. Wir unterstützen daher die Pläne von Kofi Annan für eine umfassende Reform der Vereinten Nationen und natürlich auch für eine Reform des Sicherheitsrates. Wir sind bereit, noch stärker als bisher internationale Verantwortung zu übernehmen, und wir tun das. Wenn wir das sagen, dann machen wir das auch und sagen es nicht nur.

Das ist übrigens der Grund, aus dem wir, weil wir das tun, sagen: Wer in dieser Weise aktiv ist, der hat auch das Recht auf die Kandidatur für einen Ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Ich kenne die Sorge, die es hier gibt, ob ein auf 25 Mitgliedstaaten erweiterter Sicherheitsrat handlungsfähig genug ist. Ich halte diese Sorge für unbegründet. Denn nicht Zahlen, sondern Kriterien wie Repräsentativität und Verantwortungsbereitschaft seiner Mitglieder sind, jedenfalls nach meinem Urteil, maßgeblich für die Effizienz, aber eben auch für die Legitimation eines solchen Gremiums.

Meine Damen und Herren, um unsere enge transatlantische Partnerschaft für die Zukunft zu festigen, können wir nicht zuletzt unsere Wirtschaftsbeziehungen immer wieder nutzen. Diese bilateralen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen sind sehr stabil und exzellent, und sie können ausgebaut werden. Wir sollten das miteinander tun. Denn indem wir das tun, schaffen wir auf Basis unserer gemeinsamen Werte und Überzeugungen die besten Voraussetzungen für Wachstum, Arbeit und damit verbunden eben auch für Sicherheit in unseren Ländern.