Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.07.2005

Anrede: Herr Präsident, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/95/854795/multi.htm


ich bin zum ersten Mal hier in Kaliningrad, und ich habe beschlossen, wieder zu kommen, um etwas mehr zu erfahren von der Stadt, von dem Geist, von der Region. Wenn man hier steht als deutscher Bundeskanzler ist man in einer Weise berührt, die vielleicht nicht immer gleich verstanden wird. Als der russische Präsident hier geredet hat und, wie ich finde, wichtige historische Punkte genannt hat, habe ich mir vorgestellt: Was wäre eigentlich passiert, wenn der gleiche Kreis 1920, 1930, 1940, 1950, 1960 usw. hier hätte stehen können, wenn jeweils eine neue Generation von Studentinnen und Studenten miteinander geredet hätte, sich verstanden hätte und einander näher gekommen wäre? Was wäre eigentlich passiert? Und was wäre uns allen erspart geblieben, wenn es den Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die damalige Sowjetunion nicht gegeben hätte? Was wäre diesem Europa, dieser Welt, erspart geblieben? Trotzdem dürfen wir nicht vergessen: Das alles hat es gegeben. Aber das Wunderbare ist, dass Menschen Geschichte nicht vergessen dürfen, aber sie überwinden können.

Ich bin dem russischen Präsidenten, meinem Freund Vladimir Putin, sehr dankbar für diese Einladung. Sie ist ein wichtiges Beispiel in der Kette unserer gemeinsamen Bemühungen um Versöhnung, Verständigung, Partnerschaft und Freundschaft. Das ist, glaube ich, für die russischen Menschen genauso wichtig wie für die deutschen. Der Präsident hat heute über Immanuel Kant wiederholt, was er gelegentlich deutlich gemacht hat. Er hat ihn bezeichnet als unseren gemeinsamen Mitbürger, hier gerade in dieser Stadt, als jemanden - ich zitiere den Präsidenten - , dessen Ideen ohne Einschränkungen den internationalen Beziehungen zu Grunde liegen. Besser kann man Kant nicht würdigen. Nicht nur uns Deutschen und Russen hat dieser große Philosoph sehr viel gegeben. Nein, er hat ganz Europa viel gegeben. Er steht für Autonomie, für die Würde des Individuums, für die Freiheit von Bevormundung. Was gäbe es Wichtigeres für diejenigen, die den Staat zu leiten haben, als davon überzeugt zu sein und dafür einzutreten? Kant hat - so klar wie niemand vor ihm - die Grundlagen eines modernen, eines humanen Staatswesens und damit die Voraussetzungen für das definiert, was er "ewigen Frieden zwischen den Völkern" genannt hat. Vielleicht wird man es ganz nie erreichen. Aber bemühen werden wir uns darum schon.

Sie können stolz darauf sein, in der Tradition dieser Stadt leben zu können. Das, was in dieser Stadt damals begann und solch eine Blüte erlebte, ist zu Grunde gegangen - wir wissen es wohl, und wir sollten es nicht vergessen - durch einen verbrecherischen Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland verbrochen hat. Deshalb ist für manch einen der Gedanke an das vergangene Königsberg gerade in diesen Tagen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur mit Perspektive, sondern auch mit dem Gedanken an Flucht und an Vertreibung, an unermessliches Leid verbunden. Aber wir wissen um die Ursachen. Und auf dieser Basis wollen wir den alten Geist, nicht zuletzt durch Sie, neu beschwören und neu entdecken. Die Lehre aus dieser Geschichte zu ziehen, heißt, gemeinsam mit aller Kraft für eine immer engere Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland zu arbeiten und daran zu bauen, dass das Wirklichkeit wird.

Kaliningrad ist heute die westlichste Stadt der russischen Föderation, und das ist in Ordnung. Für viele ist das schmerzhaft; aber das ist Geschichte. Diese Stadt hat eine riesige Chance, und ich möchte, dass sie sich realisiert, nämlich eine wahrhaft europäische Metropole zu werden und damit Grenzen, die gezogen sind, zu überwinden. Das könnte die Bestimmung sein, die den Geist Kants, den Geist dieser Universität und vielleicht auch Ihren widerspiegelt. Ich würde es mir jedenfalls wünschen und bedanke mich noch einmal sehr, verehrter lieber Herr Präsident, für die Einladung gerade heute und dafür, dass Sie gekommen sind.