Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.02.2000
Anrede: meine Herren Ministerpräsidenten, Herr Oberbürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/7311/multi.htm
Verehrte Frau Gouverneurin, In der Rede von Ron Sommer war zu spüren - das sage ich insbesondere den ausländischen Gästen und Besuchern, die ich besonders herzlich willkommen heiße - , was die Deutschen umtreibt: So viel Aufbruch war selten in Deutschland. Dass dieser Aufbruch insbesondere den Markt betrifft, den Sie bearbeiten, sollte Sie stolz machen. Natürlich verbinden sich damit Erwartungen nicht nur in der Branche selbst, sondern in der gesamten Gesellschaft, die wir nicht enttäuschen dürfen. Unser Ziel ist es, die erste Dekade des neuen Jahrhunderts zu einer Dekade der Erneuerung, des Aufbruchs und zugleich des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit zu machen. Und in keiner anderen Branche lassen sich die Zusammenhänge zwischen Erneuerung, Aufbruch und Kampf gegen Arbeitslosigkeit so klar herausstellen wie in dieser Branche. All diejenigen, die vor mir über dieses Thema gesprochen und die Wachstumsperspektiven dieser Branche aufgezeigt haben, hätten ebenso gut über die große Chance reden können, die diese Entwicklung bietet, um die Geißel der Massenarbeitslosigkeit nicht nur in unserem Land, sondern in Europa wirksam zu bekämpfen. Das Wachstum in dieser Branche zu fördern entspringt also nicht nur ökonomischer Vernunft - dies wäre allein Grund genug, - sondern es entspricht auch richtig verstandener sozialer Verantwortung. Und damit ist zugleich klar, dass es eben keinen Widerspruch gibt zwischen der breiten Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und sozialer Verantwortung, sondern dass im Gegenteil gilt: Wer in diesem Bereich nicht vorne sein will, wird im anderen Bereich - beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit - nicht vorne sein können. Welche Ziele haben wir uns vorgenommen? Sowohl Herr Jung als auch Herr Sommer haben es bereits angesprochen. Ich nenne drei: Erstens: Wegen der Bedeutung des Internets für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung wollen wir die Zahl der Abonnenten in diesem Bereich von im letzten Jahr 13 Prozent in Deutschland auf 40 Prozent im Jahr 2005 steigern. Wenn wir das vernünftig anpacken und die Idee der "Public-Private-Partnership", wie wir das in der Initiative "D 21" wie ich finde beispielhaft begonnen haben, zu einem großen Erfolg machen - und wir wollen das - , dann werden wir vielleicht auch etwas mehr als 40 Prozent erreichen. Wir sollten so ehrgeizig sein. Zweitens - auch das ist gesagt worden: Wir wollen bis zum Jahr 2001 alle Schulen mit einem Internet-Zugang ausstatten. Drittens - und das sollte nicht kleingeschrieben werden: Wir wollen ebenfalls bis Ende des Jahres 2001 die Zahl der Unternehmen in dieser Branche verdoppeln. Ein gewiss ehrgeiziges Ziel, eines, bei dem Politik nur die Rahmenbedingungen setzen kann, aber auch setzen muss. Ein Ziel aber, das aus der Gesellschaft selbst erreicht werden kann und - ich bin dessen sicher - erreicht werden wird. Das sind die Ziele, die wir uns vorgenommen haben. Welche Maßnahmen sind nötig, was müssen wir tun, was ist bereits auf den Weg gebracht? Gerade den ausländischen Besuchern möchte ich sagen: Deutschland ist ein Markt mit mehr als 80 Millionen Menschen, mit einer enorm kaufkräftigen Bevölkerung. Wir sind stolz darauf, dass das so ist. Und wir werden alles dafür tun, dass das so bleibt und - wo es geht - noch besser wird. Ein Markt also, den zu vernachlässigen eine Todsünde wider die wirtschaftliche Vernunft, wider das eigene Interesse wäre. Ein Markt im Übrigen, in dem Menschen mit erstklassiger Ausbildung auch und gerade im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien tätig sind. Was wir hinzutun müssen, darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Mir geht es darum, auf einer solchen internationalen Veranstaltung deutlich zu machen, dass - wie Ron Sommer zu Recht gesagt hat - wir nicht den geringsten Grund haben, unser Licht - auch und gerade in diesem Sektor - unter den Scheffel zu stellen. Im Gegenteil: Es gibt wohl kaum ein Land der Welt, dass eine so ausgezeichnete Infrastruktur für Informations- und Kommunikationstechnologien hat, wie das in Deutschland der Fall ist. Und ich stehe nicht an, als kleiner Eigentümer meine Freude zu zeigen über das, was die Deutsche Telekom in diesem Bereich mit ihrer umfassenden Investition in ein flächendeckendes, hochmodernes Telekommunikationsnetz geleistet hat. Das ist schon beispielhaft. Und das ist ein Grund, auch einmal mit Stolz über den Standort Deutschland zu sprechen und nicht immer nur darüber zu klagen, dass das Glas halb leer sei, wenn es doch immerhin halbvoll ist. Und den Rest können und sollten wir gemeinsam auffüllen. Welches sind unsere wichtigsten Aufgaben? Weshalb betreiben wir zum Beispiel mit besonderer Intensität die Initiative "Schulen ans Netz" und sind wir dankbar für die Unterstützung der Deutschen Telekom, aber auch der anderen Wettbewerber? Natürlich sollen sie sich kräftig einmischen in das Geschehen, nicht nur aus einem wirtschaftlichen Grund, sondern auch aus einem eminent gesellschaftspolitischen. Denn wenn wir es nicht schaffen, über die Schulen jeder und jedem eine Möglichkeit zu verschaffen, über das Internet, über die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zu kommunizieren und sich darin zurechtzufinden, dann erleben wir nach den Klassentrennungen des vorigen Jahrhunderts eine erneute Klassentrennung in diesem Jahrhundert. Und zwar in einer Weise, wie wir sie in einer entwickelten Gesellschaft einfach nicht dulden können. Jeder, der in Zukunft in diesem Bereich nicht kommunikationsfähig ist, wird nicht mehr, sondern deutlich weniger berufliche und damit Lebenschancen haben. Das ist der Grund, warum die Politik in den Bundesländern, die vor allem verantwortlich sind, aber auch im Bund eine Partnerschaft mit der deutschen Wirtschaft anstrebt. Wir wollen nicht, dass unsere Gesellschaft geteilt wird in Menschen, die eine Ausbildung in diesem Bereich haben, die diese Technologien nutzen können, und jene, die das nicht können. Denn wir wissen: Wenn wir diese Trennung zuließen, würden wir den einen Lebenschancen zumessen und sie den anderen nehmen. Aber mir kommt es darauf an, hier nicht nur deutlich zu machen, dass wir schon aus gesellschaftspolitischer, aus sozialer Verantwortung diese Trennung in Nutzer und Nichtnutzer nicht zulassen dürfen. Wir dürfen es auch nicht aus Gründen schlichter ökonomischer Vernunft. Wenn es wahr ist - und es ist wahr - , dass die Produkte der Zukunft mehr und mehr wissensbasierte Produkte sein werden, dann ist eine Ausbildung aller in diesem Bereich nicht nur ein Gebot sozialen Anstands, sondern auch der ökonomischen Rationalität. Dies deshalb, weil keine der entwickelten Industriegesellschaften es sich bei Strafe des Rückfalls leisten kann, eine einzige Begabung im Volk nicht ausgeschöpft zu haben. Das ist der ökonomische Grund, warum Chancengleichheit im Bildungswesen so eminent wichtig ist. Und das ist auch der Grund, warum wir in diesem Bereich in einer wie ich finde beispielhaften Anstrengung zwischen Wirtschaft auf der einen Seite und Staat auf der anderen Seite eine Bildungsoffensive in die Schulen, in die Hochschulen tragen wollen und tragen werden. Es geht dabei keineswegs nur um akademische Ausbildung, sondern es geht um Qualifizierung auf jeder Stufe. Auch hier insbesondere den ausländischen Gästen ein paar Zahlen, die wichtig sind und die zeigen, welche Anstrengungen wir in den letzten anderthalb Jahren unternommen haben: Wir hatten 1998 in diesem Bereich gerade 13000 Ausbildungsplätze. Im Rahmen des Bündnisses für Arbeit haben wir uns deshalb zusammengesetzt und darüber beraten, was getan werden kann, um diese nicht ausreichende Zahl an Ausbildungsplätzen zu steigern. Zu wenig nicht nur für die jungen Leute, die Plätze brauchen, sondern auch für die Industrie, die ausgebildete Menschen sucht. Und wir haben gehandelt. Bis heute sind aus den 13000 Plätzen 30000 geworden. Das gemeinsam gesteckte Ziel, bis zum Jahr 2002 40000 Ausbildungsplätze in diesem Bereich zu mobilisieren, haben wir bereits Ende dieses Jahres erreicht. Das ist ein Erfolg der engen Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Staat. Diese Zusammenarbeit ist für die Entwicklung der Informations- und Kommunikationsbranche, für das Wohlergehen der ganzen Gesellschaft in Deutschland von enormer Bedeutung - sie kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen Punkt eingehen, den Herr Jung gerade angesprochen hat. Er hat die Frage aufgeworfen, wie offen der deutsche Arbeitsmarkt für jene ist, die als hochqualifizierte Informatiker zu uns kommen wollen. Ich denke, dass die Hauptaufgabe, die wir - Bundesregierung und ausbildende Wirtschaft - uns im Rahmen der Initiative "Deutschland 21" gemeinsam gestellt haben, die ist, die eigenen Leute zu qualifizieren. Das erwartet die Gesellschaft von uns, und das müssen wir leisten und liefern. Hinzu kommt etwas anderes: Wir wissen, meine Damen und Herren, dass wir gerade auch im akademischen Bereich, aber nicht nur dort, Fehlqualifikationen haben - nicht falsche Qualifikationen, aber Qualifikationen, mit denen Einkommen und Auskommen aktuell und vielleicht auch potenziell nicht zu sichern sind. Da müssen wir nachqualifizieren. Wir haben in Deutschland etwa 60000 arbeitslose Ingenieure. Natürlich weiss ich, dass darunter viele Bauingenieure, Architekten und andere Ausgebildete sind, die wir nicht unmittelbar in ihrem Bereich einsetzen können. Aber eine Legitimation für das Anwerben anderer Spezialisten wäre es schon, wenn wir uns darauf verständigten, dass wir gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um diesen Menschen im Wege der Weiterbildung, der Zusatzqualifikation, neue Chancen zu eröffnen. Schaffen wir beides, denke ich, sollten wir aus zwei Gründen auf das, was Herr Jung thematisiert hat, positiv reagieren - und ich bin bereit dazu. Einmal, weil es in der Tat so ist: Wenn wir einen aktuellen Bedarf in der Kommunikations- und Informationstechnologie mit deutschen Arbeitnehmern nicht befriedigen können und ihn auch nicht durch Zuzug aus dem Ausland sicherstellen, dann wandern uns die Arbeitsplätze ab - und das kann keiner, ob Gewerkschafter, Arbeitgeber oder Politiker, in diesem Land wollen. Und ich will es erst recht nicht. Zweiter Punkt: Herr Sommer hat auf die Globalisierung in diesem Bereich hingewiesen, die besonders fortgeschritten ist. Und das ist ohne jeden Zweifel so. Wenn das aber so ist, dann betrifft dies nicht nur die Gütermärkte, sondern natürlich auch diejenigen, die in diesen Märkten beschäftigt sind oder beschäftigt sein wollen. Anders ausgedrückt: Ich bin für eine offenere Politik in diesem Bereich - auch deshalb, weil ich möchte, dass wir von den Fähigkeiten, von den Kenntnissen anderer profitieren. Und - verehrte Frau Gouverneurin - weil ich nicht möchte, dass Ihr so geschätzter und uns freundschaftlich verbundener Bundesstaat der USA die besten Leute allein bekommt. Die sollen auch nach Deutschland kommen. Deshalb, Herr Jung, Herr Staudt und andere, lassen Sie uns darüber reden: Wieviel brauchen wir? Und auf welchem Weg jenseits der in den Ordnungsämtern und sonstwo angesiedelten Verfahren bekommen wir für welche Zeiträume jene Spezialisten, die wir benötigen, um den Aufbruch, von dem ich geredet habe, wirklich in Arbeit, in Beschäftigung, in Wirtschaftskraft umzusetzen. Ich bin dazu bereit. Und die Bundesregierung ist dazu bereit. Dass der Arbeitsminister sagt: Ich will das aber verbunden wissen mit einer Qualifikationsoffensive unserer eigenen Leute, ist nur zu verständlich. Es sollte auch niemand etwas dagegen haben. Beides zusammen kann gehen, beides zusammen wird gehen. Wir sind dazu bereit, jene Card zu geben, die in Amerika "Green" heißt, bei uns würde sie "Red-Green" heißen. Ich hoffe, ich habe Ihnen ein wenig deutlich machen können, warum für mich die Initiative D 21, die ich auch als eine sehr persönliche Aufgabe ansehe, so wichtig ist: Weil die Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft zum Wohle des Landes in dem in der Tat in nicht allzu ferner Zukunft wichtigsten Wirtschaftssektor unserer Volkswirtschaft unverzichtbar sein wird. Und wenn diese Bedeutung unterstrichen wird von jemandem, der sich nicht ungern als Automann bezeichnen lässt, dann können sie mir wirklich glauben, dass ich das meine, was ich sage. Darüber hinaus schließe ich mich natürlich den Wünschen des Herrn Oberbürgermeisters und der anderen an, dass Sie hier sehr, sehr gute Geschäfte machen, aber auch die Schönheit dieser Stadt genießen mögen - sie ist nämlich wirklich schön und sie ist eine angenehme Stadt. Und ich schließe mich auch dem ausdrücklichen Wunsch an, dass möglichst viele von Ihnen - wenn es irgend geht - zur Weltausstellung Expo 2000 wieder hereinschauen nach Hannover. Bis dahin wünsche ich Ihnen nicht nur gute Geschäfte, sondern auch einen angenehmen Aufenthalt in dieser Stadt, in Niedersachsen und in Deutschland. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!