Redner(in): Christina Weiss
Datum: 13.09.2005
Untertitel: Kulturstaatsministerin Christina Weiss verleiht den CICERO Essay-Preis 2005 am 13. September 2005 in der Berliner Akademie der Künste
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/45/888845/multi.htm
Was wird aus dem 21. Jahrhundert? "Es gehörte gewiss produktiver Größenwahn dazu, diese Frage von" Cicero " anzunehmen, aber es zeugt auch von Mut, sie überhaupt zu stellen. Denn Zukunftsprognosen sind bekanntlich eine Textsorte, mit der man sich unsterblich blamieren kann.
Für langfristige Zukunftsprognosen gilt das gleiche, wie für den Wetterbericht: Je konkreter und je gewisser man sie verkündet, desto größer ist das Risiko eines Irrtums. Eine Parodie auf die Gewissheit der Propheten war denn auch eine Filmkritik, die im Februar 2000 anlässlich des Filmes "Battlefield Earth" mit John Travolta in Amerika erschien. Darin schrieb der Kritiker: Möglicherweise ist es noch etwas zu früh für solche Behauptungen, aber dies ist mit Sicherheit einer der schlechtesten Filme des 21. Jahrhunderts.
An diese Geschichte musste ich denken, als der englische, seit langem in den Vereinigten Staaten lehrende Islam-Wissenschaftler Bernard Lewis vor einiger Zeit ganz ohne jede Selbstironie verkündete, Europa werde am Ende des 21. Jahrhunderts islamisch sein. Eine so konkrete Prognose über knapp 100 Jahre hinweg - das ist schon gewagt.
Aus all den genannten Gründen werde ich hier nicht der Versuchung erliegen, mich mit einem weiteren inoffiziellen Beitrag am Wettbewerb zu beteiligen. Die besondere Schwierigkeit aller Zukunftsprognosen in verunsicherten Zeiten besteht ja darin, dass wir uns noch nicht einmal darüber einig sind, in welcher Gegenwart wir eigentlich leben.
Die gespaltene Wahrnehmung der Gegenwart unseres Landes hat uns in den vergangenen Jahren eine wahre Inflation von Sätzen beschert, die mit "Deutschland muss" beginnen. Die Häufigkeit der Formulierung zeugt von einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis. Sie verknüpft einen in der Gegenwart erkannten Mangel mit einer in die Zukunft gerichteten Handlungsanweisung. Das Land hat ein Problem, der Sprecher weiß die Lösung. Nur leider herrscht bunte Uneinigkeit bei den Diagnostikern. Deutschland muss die Lohnnebenkosten senken, Deutschland muss die Geburtenrate steigern, Deutschland muss wieder Anschluss an die Bildungsspitze finden, Deutschland muss seine Sporttalente gezielter fördern, Deutschland muss seine Einwanderer besser integrieren.
Ich erlaube mir einmal, die Urheber solcher Sätze apokalyptische Besserwisser zu nennen.
Gepaart ist dieser selbstgerechte Imperativ mit einem vermeintlichen Kollektivismus, der im "Wir müssen" gipfelt. Das Wir-Sagen ist seit ein paar Jahren wieder in Mode gekommen. Die Generationen-Bücher auf den Bestsellerlisten - diese Jugenderinnerungen junger alter Männer und Frauen - haben diesem lange Zeit in Acht und Bann geratenen Personalpronomen "Wir" den Weg zurück in den gesellschaftlichen Diskurs bereitet.
Die Operation mit dem "Wir" macht blind für die Gemeinschaft. Das "Wir" taugt nicht, um eine Gesellschaft zu beschreiben, in der jede Clique sich für die Pächterin des Allgemeinwohls und jeder Einzelne sich für einen Einzigen hält. Es taugt nicht für eine Gesellschaft, die vergessen hat, dass alle zusammen der Staat sind. Vergessen haben es vor allem die Wir-Sager, die eigentlich "ihr müsst" meinen.
Soziale Analysen kommen natürlich nie ohne eine gewisse gedankliche Kollektivierung aus. Aber das Paradoxe besteht eben darin, dass wir gar nicht wissen, wer wir sind.
Unsere Gemeinschaft definiert sich durch Kultur und Werte. Nichts anderes meint der Begriff Kulturnation, der uns wirklich neuen Halt geben kann. Bei Friedrich Schiller heißt es dazu: "Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur und im Charakter der Nation, die von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist."
Jahrzehntelang stand die Bildung nicht hoch im Kurs. Nun scheint das Ringen um Bildung wieder notwendig, und die Ringer führen die Kulturnation im Munde, und Schiller ist ihr Zeuge. Wie aber erfüllen wir heute die Vorstellung Deutschlands als Kulturnation?
Mir geht es in der Frage um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands vor allem um die Aufmunterung des Geistes, die Erneuerung des Denkens und die Fähigkeit zur kreativen Subversion. Ich will dafür werben, dass auch im Zeitalter des Pisa-Schocks Phantasie und Innovationsfähigkeit in der ästhetischen Auseinandersetzung trainiert werden können. In der Auseinandersetzung mit hellsichtigen Querdenkern und produktiven Zweiflern, mit denjenigen, die leidenschaftlich von einer Idee besessen, alle Regeln des Alltags auf den Kopf stellen und neues Denken erzeugen. Die Auflehnung gegen die Beschränkung des Denkens auf Funktionalität und Nutzen gehört zu den Anliegen kultureller, kreativer Aktivitäten, wie auch die Kritik an der Trägheit eingefahrener Sehweisen.
Man braucht nur einmal vor dem geistigen Auge eine Ausstellung der Werke Picassos Revue passieren zu lassen: Die Kunst Picassos mit ihrer unablässigen Suche nach neuen Wegen der Bildgestaltung, mit ihrem unerschöpflichen Reichtum an bildnerischem Material und Ideen, dieses Einzelwerk allein ist wie eine ungeheure Offenbarung dessen, was der Mensch an Potential von Ausdrucksmöglichkeiten, Wahrnehmungsdifferenzierung, Sinnlichkeit und Phantasie in sich trägt. In dieser Kunst blitzt leidenschaftlich auf, was Menschsein birgt. Wo sonst als in der Kunst erfahren wir, dass es zu dem, was besteht, immer auch noch mindestens eine Alternative gibt. Wo sonst werden wir immer wieder aus der eingefahrenen Bahn unserer Wahrnehmungsbeschränkung und Denkrichtung geworfen.
Wo sonst bilden wir erfahrend die Subjektivität als vollständige Menschen, bestehend aus Verstand, Emotion und Wahrnehmungsfähigkeit, aus. Die Künste sind die produktivste Variante einer erneuernden, erfrischenden Subversion. Sie sind der einzige Ort der ganzheitlichen Ausbildung des Individuums im lebenslangen kreativen Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst.
Die Vorstellung von der Kulturnation ist also eine fruchtbar anspornende Sehnsucht. Sie ist eine dauernde Ermahnung zur Freiheit des Subjekts in gemeinschaftlicher Verantwortung.
Sie ist die Aufforderung zur Wertschätzung der Kultur - die in ihrer ganzen Vielfalt die nationale Gemeinschaft erst motiviert. Unser Radius heute geht aber über die nationalen Grenzen hinaus.
Wir kommen heute stets auf zwei Faktoren zurück, wenn wir Europa zu definieren versuchen: die gemeinsamen Werte und die Kultur. Der Reichtum der kulturellen und sprachlichen Vielfalt taugt nicht nur für Verfassungspräambeln, sondern ist Grundlage unseres Zusammenlebens. Wo ist die Neugier, die Aufbruchstimmung geblieben, das Gespür für die unbegrenzten Möglichkeiten an Ideen und Visionen, die sich mit dem Geschenk von 1989 eröffneten? Wenn die europäische Einigung auch geistig vorankommen soll, müssen wir an unserer gemeinsamen Identität weiterarbeiten. Identität lässt sich aber nur schaffen, wenn es uns gelingt, unsere Wahrnehmung zu verändern und den Zauber Europas wieder zu entdecken. Und dazu brauchen wir die Kultur.
Heute, in einem geeinten Europa und einer globalisierten Welt, kann die Kulturnation vielleicht ein Stück kostbare Heimat für jeden einzelnen sein. Ein Hort der Identität, geschützt und zugänglich zugleich, ein Raum, der offen und Gästen zugänglich ist.
Das Interessante am Schlagwort Kulturnation, meine Damen und Herren, ist ja, dass der erste Teil des Wortes - nämlich Kultur - offenbar mehr zu begrifflichen Debatten herausfordert als der zweite - die Nation. Während man über unterschiedliche Kulturbegriffe geteilter Meinung sein kann, löst die Nation offenbar kaum noch Beißreflexe aus.
Das ist erstaunlich, angesichts des Tabus, mit dem die Nation in der Bundesrepublik doch lange belegt war. Aber die Nation hat sich als haltbar erwiesen. Als Schiller das Wort benutzte, war es noch recht neu - jedenfalls in dem uns heute geläufigen Sinne. Es war in Mode gekommen durch den in den Revolutionskriegen überall erregten patriotischen Geist.
Die Nation hat als Leitidee eine ebenso fruchtbringende wie schreckenerregende Herrschaft über das gesamte 19. Jahrhundert ausgeübt, und ihr Schicksal schien besiegelt zu sein, als das unfassbare Grauen, das Deutsche in ihrem Namen entfesselt hatten, endlich gebannt war. In der Nachkriegszeit ist sie aus dem politischen Vokabular zwar nicht völlig verschwunden, aber man mied sie. Man war nicht mehr unbefangen national, wie es in den alten Zeiten ja nicht nur die Nazis gewesen waren. Und keine der großen westdeutschen Parteien führte die Nation im Namen.
Das hatte Gründe: Zu aller erst hätte jeder, der sich auf die Nation berief, sich natürlich fragen müssen, welche er denn überhaupt meine.
Und die heiklen Debatten, die angesichts zweier deutscher Staaten damit provoziert worden wären, mied man lieber. Vor allem, weil angesichts des gerade eben besiegten Terrors im Namen der Nation, auch der Hinweis auf eine idealisierte Vergangenheit unmöglich war. Doch die Nation hat das Schindluder, das mit ihr getrieben wurde ebenso überstanden wie die Versuche, sie durch Wirtschaftspatriotismus und Verfassungspatriotismus zu ersetzen.
Ihre Stunde schlug in Europa 1989, als in ihrem Namen eine Reihe von wahrhaft glorreichen und weitgehend unblutigen Revolutionen die Ordnung des kalten Krieges hinwegfegten.
Wir erlebten danach das scheinbare Paradoxon, dass unser geteilter Kontinent wieder einig wurde, weil die Länder hinter dem Eisernen Vorhang endlich wieder selbstbestimmte Nationen sein wollten. Diese Wechselwirkung zwischen der Sehnsucht nach Gemeinschaft und dem Pochen auf Besonderheit sorgt seitdem in Europa für Spannung. Diese Spannung kann anstrengend sein - das erlebe ich in Gesprächen mit meinen Ministerkollegen, wenn es um heikle Themen wie Beutekunst oder Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration im Europa des 20. Jahrhunderts geht. Doch Verschiedenheit in der Einheit, das war immer die Stärke dieses kleinen, einzigartigen Kontinents.
In Deutschland gab es Anfang der 90er Jahre zunächst eine Schreckstarre, als das Gespenst der Nation plötzlich dort wieder auftauchte, wo man es am allergründlichsten ausgetrieben glaubte. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung war man erst einmal damit beschäftigt, dass Wort Deutschland wieder zu lernen. Aber man sprach es gewissermaßen nur im Flüsterton aus - als könnte jedes laute Wort einen schlafenden wütenden Riesen wecken. Aber es blieb nicht aus, dass die freundliche Entwicklung, welche die wieder erweckten Nationen Osteuropas durchlebten, der Nation auch in Deutschland ihren Schrecken nehmen würden.
Ganz leise veränderte sich etwas. Die Berliner Republik wurde Vaterland, wie es der Buchautor Eckhard Fuhr kürzlich in einem wunderbar leichten und hellen Porträt jener wieder zu sich gekommenen Nation schrieb. Und er hebt auch gebührend den Anteil hervor, den der Kanzler, dessen Regierung ich angehöre, an jener Normalisierung hatte.
Zwar ist Fuhrs Buch weniger ein realistische Sozialreportage als eine Utopie. Es ist ein Vorschlag, wo die Reise hingehen könnte. Es überhört das raue Gebrüll der Rechtsradikalen, die die Nation für sich allein in Anspruch nehmen, und hört weit jenseits davon eine leise, weitaus verlockendere Melodie: Es ist das alte Lied "Kein schöner Land in dieser Zeit". Das Lied hat dem Buch auch den Titel gegeben: "Wo wir uns finden".
Wo wir uns finden - dort ist auch die Nation, wie ich sie verstehe. Das "Wir" in dieser Liedzeile ist nicht das herrische "Wir", mit dem man zum nationalen Feldgottesdienst abkommandiert wird. Es sind bloß ein Ich und ein Du. Allzu viele andere würden das schöne Plätzchen "wohl unter Linden zur Abendzeit" zertrampeln.
So wollen wir uns die Nation gefallen lassen. Als eine Landschaft individueller Sehnsuchtsorte. Als ein vielgestaltiges Miteinander Einzelner, die nicht durch Zwang verbunden werden, sondern durch Melodien, Geschichten, Gedichte und Träume. So hat sie sich vermutlich Schiller vorgestellt. Und so ist sie auch zukunftsfähig.
Denn so wird sie auch am Ende des 21. Jahrhunderts die Menschen noch inspirieren - egal welche politische Form Europa dann angenommen hat. Das 21. Jahrhundert wird der Neupositionierung Europas auf der Basis der kulturellen Vielfalt und der gemeinsamen Werte gewidmet sein. Es geht um die Kraft der Visionen für ein nationales Selbstbewusstsein in einer globalen und offenen Welt.