Redner(in): Christina Weiss
Datum: 30.09.2005

Untertitel: Am 30. September 2005 eröffnete Kulturstaatsministerin Weiss in Berlin eine Ausstellung mit Fotografien zum 15-jährigen Bestehen der Agentur Ostkreuz.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/79/896379/multi.htm


das Deutschlandbild ist eine urdeutsche Obsession. Ich bezweifele, dass es irgendeine Nation auf der Welt gibt, die so oft darüber nachgrübelt, welches Bild man sich in anderen Ländern von ihr macht und ob man diesem Bild auch entspricht. Zum Beispiel wurde das jüngste Bundestagswahlergebnis ausführlich im Spiegel der internationalen Presse und auch selbsternannter ausländischer Beobachter gewürdigt, was schon masochistische Züge annahm. Und als vor ein paar Tagen ein britisches Magazin eine Liste der 100 wichtigsten Intellektuellen veröffentlichte, wurde sofort analysiert, was es bedeutet, dass sich auf der Liste nur vier Deutsche befinden.

Wer Deutschlandbilder aufnimmt, begibt sich also auf ein schwieriges Gelände. Jener besessene Blick auf das Deutschlandbild des Auslandes hat ganz gewiss damit zu tun, dass die Deutschen momentan so ganz und gar unschlüssig sind, wie sich selbst sehen sollen. Ihre alten Selbstbilder sind offensichtlich untauglich. Sind wir nun ein "Volk der Dichter und Denker" oder "Exportweltmeister" ? Am Beginn des neuen Jahrtausends entwickeln diese angestaubten Schablonen und Floskeln keine Bindekraft mehr. Und auch Fleiß, Disziplin, Ordnung, Sauberkeit - die alten zu deutschen Primärtugenden erklärten Sekundärtugenden, auf die man im Osten wie im Westen so stolz war - sind zweifelhaft geworden. Die geeinte Nation sucht noch nach einem neuen Bild von sich.

Denn Deutschland ist ja nicht einfach verschwunden. Es ist noch da. Und niemand bezweifelt, dass dieses Land allen Globalisierungstendenzen zum Trotz noch Gemeinsamkeiten besitzt, die man nur sehen muss, um ein einigermaßen gültiges Deutschlandbild zu bekommen. Auch wenn das vielleicht auf der Rutschbahn ins Ungewisse nur eine verwischte Momentaufnahme sein kann.

Das ist also der historische Augenblick, an dem Sie, liebe Fotografinnen und Fotografen der Agentur Ostkreuz, Ihre Deutschlandbilder zeigen. Vielleicht ist niemand befugter dazu als Sie. Denn Ihre Agentur ist gewissermaßen im selben Moment auf die Welt gekommen, wie jenes Deutschland, in dem wir uns jetzt zurechtfinden müssen. Und die Agentur hat sich in den fünfzehn Jahren ihres Bestehens ähnlich rapide gewandelt, wie das Land, mit dessen Bildern sie handelt. Längst stammen nicht mehr alle Fotografinnen und Fotografen aus dem Osten des Landes. Und viele haben die Wende und die Vereinigung nur als Kinder erlebt.

Von Anfang an folgte Ostkreuz dem Credo, künstlerischen Anspruch und wirtschaftliche Notwendigkeiten in eine Balance zu bringen. Gleichzeitig besteht die innere Überzeugung, die Kunst der Reportage zu pflegen - mit gleich starker Betonung auf Kunst und Reportage. Das ist heute vielleicht noch wichtiger als vor fünfzehn Jahren. Denn in den Printmedien ist die geschriebene Reportage ein gefährdetes Genre. Personalkürzungen und gewandelte Vorstellungen vom Journalismus haben dazu geführt, das immer weniger Schreiber für längere Zeit aus den Redaktionen ausschwärmen und sich die Dinge oder die Menschen anschauen. Und wenn sie es dennoch tun, dann verheddern sie sich allzu oft in den Klischees einer reduzierten Sprache oder vorgeprägter Stereotypen. Dadurch ist den Bildreportern fast ein Monopol für den unverstellten Blick zugekommen, aber ihre Verantwortung ist auch noch gewachsen. Aber auch sie brauchen Zeit für Bilder, weil sie nicht nur für den Augenblick fotografieren, sondern auch für unser Gedächtnis.

Natürlich ist auch Ihr Beruf seinen eigenen neuen Versuchungen ausgesetzt. Die Beschleunigung des Bildermarktes durch die digitale Herstellung von Bildern und durch ihren digitalen Verkauf rund um den Globus bietet Chancen und Risiken. Die Selbstdisziplin ist für Fotografen größer geworden. Man kann Materialschlachten veranstalten, sich aber auch die Frage stellen, wann man nicht auf den Auslöser drückt. Die Einsamkeit des Labors und die Verzögerung durch klassische Entwicklungsprozesse bescherten früher auch Gelegenheiten zum Nachdenken und zum Noch-einmal-auf-das-Bild-schauen, die heute oft schon luxuriös wirken. Aber man merkt den Bildern in dieser Ausstellung an, dass sie meist frei vom Druck unerbittlich zum Redaktionsschluss verrinnender Sekunden entstanden sind. Es sind Bilder, die Fragen stellen: Nach Heimat und Fremde, Lebensgefühl und Zukunftsangst, nach Idylle und den Abgründen dahinter, den Unterschieden im Gemeinsamen, dem Verborgenen im Offenkundigen. Ich hoffe, dass Sie, meine Damen und Herren, sich im schwierigen Miteinander von Markt und persönlichem Wahrhaftigkeitsanspruch die Freiheit zu solcher Genauigkeit auch weiterhin erhalten.

Ohne dem Einführungsvortrag von Herrn Ribbat vorgreifen zu wollen, erlaube ich mir ein paar Gemeinsamkeiten zu benennen, die mir beim ersten Blick auf die hier versammelten Arbeiten aufgefallen sind. Zuallererst ist das Deutschland auf Ihren Bildern nicht mehr bloß deutsch. Das gilt für die asiatische Ehefrau auf einem Foto von Wolfgang Bellwinkel ebenso wie für die Russen in Berlin auf den Fotos von Michael Trippel. Aber zugleich kann es doch kaum eine Gruppe geben, die für das Deutschland von heute repräsentativer ist, als die Essener Türken auf den Bildern von Dawin Meckel, die mit den Altdeutschen die Erfahrung von Arbeitslosigkeit, Depression und Niedergangsempfindung teilen.

Verschwunden ist das homogene typisch Deutsche aber auch aus der Architektur. Die Häuser oder Behausungen auf den Bildern sind fast immer Produkte eines Fabrikstils, der sich von aller Historie und aller Regionalität freigemacht hat. Romantische oder gotische Elemente, die draußen in der Welt immer noch Bestandteil jedes gängigen Deutschlandbildes sind, leben höchstens als serielle Gespenster fort: Etwa in der Ornamentik der Rummelbuden auf den Festplätzen, die Werner Mahler fotografiert hat.

Das Haus Deutschland gleicht wohl am ehesten jenem Restaurant auf einem Bild von Linn Schröder: Die Holzverkleidung seiner Fassade und die Zierlampen im Zille-Stil sollen irgendwie altertümliche Gemütlichkeit verströmen. Doch der Betongrund und die Neubauten, die sich in den Fenstern spiegeln, machen klar, dass wir es mit Plastik-Kneipenfolklore aus dem Baumarkt zu tun haben. Der Betonsockel und die auffällige Alarmanlage lassen scheinbar Rückschlüsse auf die Festungsmentalität der darin sich verbarrikadierenden Deutschen zu. Aber das Restaurant heißt längst "India Haus" und die Frau, die im Eingangsbereich putzt, ist möglicherweise keine geknechtete ausländische Reinigungshilfe, sondern Mitglied eines Familienunternehmens, in dem die Aufstiegsträume von Einwanderern verwirklicht werden sollen.

Selten werden diese Gebäude von Sonnenstrahlen beschienen. Die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, haben offenbar das Gefühl, dass schlechtes Wetter für ein Deutschlandbild angemessener ist. Da zeigt sich, dass der objektive Blick, den ich eben den Fotoreportern bescheinigt habe, natürlich seine Grenzen hat. Sie wissen das selbst, und das Nachdenken über die subjektiven Grundlagen der Objektivität gehört zu den Voraussetzungen Ihres Handwerks. Deshalb haben Sie dieser Ausstellung den Titel "Neueinstellungen" gegeben, dessen schillernde Mehrdeutigkeit mir gefällt. Fotografie ist Emotion, vor allem aber Einstellungssache. Nicht nur im technischen Sinne. Sondern natürlich auch, indem die persönlichen Einstellungen eines Fotografen seinen Blick auf die Welt lenken. Und nicht zuletzt entscheidet die Einstellung des Betrachters darüber, was er eigentlich in einem Bild sehen wird.

Dafür ist vielleicht ein Bild aus dem Zyklus "Die Alten" von Ute Mahler das beste Beispiel. Es zeigt einen Kreis von Rentnern an Kaffeetischen, deren Augen auf einen kleinen mechanischen Spielzeughund gerichtet sind. Wer geneigt ist, kann darin ein anklagendes Sinnbild für die Unmenschlichkeit zu sehen, mit der unsere Gesellschaft ihre alten Menschen in ein Schattenreich abschiebt, wo emotionale Zuwendung nur noch vom Fließband kommt. Einem anderen mag positiv auffallen, dass dies eines der wenigen Bilder ist, auf denen die Menschen herzhaft lachen. Und jeder wird es seiner Voreinstellung gemäß in sein ganz persönliches Deutschlandbild integrieren. Darum geht es bei dieser Ausstellung, in den Positionen der siebzehn Fotografinnen und Fotografen. Spätestens an dieser Stelle muss ein Wort des Dankes an den schlichtenden Kurator Arno Fischer gerichtet werden, dessen kluge Kunst der Auslese für das Projekt signifikant war. Außerdem bin ich sehr froh und glücklich, dass es mit Hilfe des Hauptstadtkulturfonds des Bundes gelungen ist, diese wunderbare Schau auch in Berlin zu zeigen. Ich wünsche ihr sehr viele wache und aufmerksame Besucherinnen und Besucher, die es wagen, sich gemeinsam mit den Künstlerinnen und Künstlern auf eine unvoreingenommene Suche nach Deutschland zu begeben. Und dies nicht nur in Berlin, sondern auch auf der Weltreise, zu der das Goethe-Institut eingeladen hat. Denn wenn man sich im Ausland ein Bild von Deutschland machen will, dann vertraut man eben auf Ostkreuz. Viel Erfolg für diese Tournee! Ich danke Ihnen!