Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.11.2005
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Freund, sehr geehrter Herr Vorsitzender, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/05/913005/multi.htm
Vor vier Wochen - in der Zwischenzeit ist wahrlich viel passiert - haben wir ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei aufgeschlagen. Ich bleibe dabei: Die Verhandlungen über die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union kennen nur ein Ziel: Die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union und nichts anderes. Wenn der Satz, dass Verträge einzuhalten sind - Verträge zwischen der Europäischen Union auf der einen Seite und der Türkei auf der anderen Seite - in der internationalen Politik gilt, dann ist doch klar, dass einzuhalten ist, was vereinbart wurde, und zwar von jeder Regierung; ob in Deutschland oder in der Türkei. Beide Seiten - die Europäische Union und die Türkei - haben mit dem Beginn der Verhandlungen ein wichtiges Zwischenziel erreicht. Jetzt geht es darum, den unter der beeindruckenden Führung von Ministerpräsident Erdogan eingeleiteten Reformprozess konsequent fortzuführen, damit die Verhandlungen fortgeführt werden können. Das ist unser gemeinsamer Wunsch. Die Europäische Union ihrerseits muss sich auf die Aufnahme weiterer Mitglieder vorbereiten. Ich bin sicher, dass auch die neue Bundesregierung diesen Weg auf der Grundlage der getroffenen Entscheidungen, die von allen zu respektieren sind, fortsetzen wird. Noch einmal: Verträge sind einzuhalten. Diesem Grundsatz darf und kann sich niemand entziehen.
Ich sage das auch in aller Deutlichkeit: Für Deutschland haben diese Verhandlungen eine ganz besondere Bedeutung. Mit kaum einem anderen Land außerhalb der Europäischen Union sind wir so eng verbunden wie mit der Türkei. Mehr als zweieinhalb Millionen Menschen in Deutschland sind türkischer Abstammung. Heute haben wir mehr als 60.000 Unternehmerinnen und Unternehmer in unserem Land, deren Wurzeln in der Türkei liegen. Diese Unternehmen haben inzwischen rund eine Viertel Million Beschäftigte und stellen im Übrigen mehr als 40.000 der Ausbildungsplätze in Deutschland. Das ist gelebte Integration. Diese muss fortgeführt und noch besser werden. Sie, die Sie hier sind, und all die anderen können durchaus stolz darauf sein, dass sie einen selbständigen, einen eigenen Beitrag zu Deutschlands Wirtschaftskraft leisten. Wir wissen das jedenfalls zu respektieren. Sie haben darüber hinaus auch eine bedeutsame Brückenfunktion zwischen unseren Ländern und auch zwischen unseren Kulturen. Ganz einfach, aber ebenso unmissverständlich gesagt: Nicht zuletzt Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer demokratischen und wirtschaftlich erfolgreichen Türkei, die fest in die Europäische Union integriert ist. Wir sind gemeinsam vorangekommen. Im vergangenen Jahr - der Ministerpräsident wird sich erinnern - haben wir gemeinsam an der Gründung der Türkisch-Deutschen Handelskammer teilgenommen. Sie leistet unter der erfolgreichen Führung ihres Präsidenten Sahin einen wirklich guten und großen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, aber auch zu den ökonomischen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern.
Aber jeder weiß, dass man auch in der Türkei nicht nur politisch, sondern auch ökonomisch vorangekommen ist. Die Rahmenbedingungen, die der Ministerpräsident vor allen anderen geschaffen hat, haben wirklich ein Wirtschaftswachstum erlaubt, das beispielhaft ist und das andere ganz gerne hätten. Aber mir wird sicher nachgesehen, wenn ich neben dem Ministerpräsidenten - und ohne ihn gäbe es das hier nicht - hier jemanden besonders nenne, der großen Anteil an dem hat, was geleistet worden ist. Das ist Ali Babacan, der eine kluge Wirtschafts- und Finanzpolitik macht, der die IWF-Verhandlungen erfolgreich geführt hat und der sicher ein idealer Unterhändler für die Türkei in Brüssel ist. Wir sollten ihm, wie der Ministerpräsident das von uns erwartet, jegliche Unterstützung geben.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union ist eine Friedensgemeinschaft. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch kulturellen Reichtum aus, der auf der Vielfalt der Sprachen, Traditionen und Mentalitäten beruht. Diese gehen gut und tolerant miteinander um. Aus dieser Vielfalt entwickelt sich zunehmend eine europäische Identität, die es weiter zu fördern und zu stärken gilt. Europa muss von seinen Bürgerinnen und Bürgern als Ort des sozialen Zusammenhalts über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg begriffen und erlebt werden.
Meine Damen und Herren, mir liegt am Herzen, dass sich die Menschen aus anderen Ländern bei uns wohl und zu Hause fühlen. Das hat den schlichten Grund, dass wir es nicht zulassen dürfen, dass sie ausgegrenzt werden oder gar in Parallelgesellschaften leben oder in diese abgleiten. Denn das wird schlimme Folgen für den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaften haben. Ich bin durchaus stolz darauf, dass Deutschland seit 1998 ein Stück weltoffener und gerade in diesen Fragen auch toleranter geworden ist. Ich glaube, wir müssen noch besser werden. Wir dürfen nicht mit dem Erreichten zufrieden sein. Erfolgreiche Integration stellt Anforderungen, die ganz unverzichtbar sind, wenn man eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftlichen Leben will. Dabei ist selbstverständlich, dass die Verfassung und die Grundwerte des Gastlandes respektiert und gelebt werden müssen. Keine Frage. Ich bin ganz sicher, dass das auch geschieht. Wichtig sind ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache, weil das die zwingende Voraussetzung dafür ist, dass es gelingt, Menschen in unsere Gesellschaft zu integrieren. Das ist der Grund, warum wir ein Zuwanderungsrecht geschaffen haben, in dessen Mittelpunkt der Integrationskurs steht. Das bedeutet vor allem Sprachkurse, die auch von uns bezahlt werden, damit diese Integration gelingen kann. Diesen Weg müssen wir auch in Zukunft fortsetzen.
Meine Damen und Herren, zum Schluss: Integration kann nicht alleinige Aufgabe von Politik sein. Wir können einen Rahmen setzen. Wir können uns vornehmen, immer besser zu werden. Aber wir bleiben auf die Mithilfe der Zivilgesellschaft angewiesen und auf die Mithilfe vieler Vereine wie diesen, dessen Gast wir heute sind. Wir bleiben auf die Mithilfe türkischer und deutscher Menschen angewiesen, die sich mit Integrationsfragen beschäftigen und dafür eintreten. Politik soll sich diesem annehmen und vernünftige Rahmenbedingungen setzen. Aber der Erfolg steht und fällt damit, dass Menschen wie die, die hier versammelt sind, sich für diese riesige Aufgabe weit über die Politik hinaus einsetzen. Deswegen kann ich nur begrüßen, dass diese Art von Veranstaltungen stattfinden. Sie werden uns allen helfen, erfolgreiche Integrationspolitik zu machen. Diese ist die Voraussetzung dafür, dass es eben nicht zu sozialen Konflikten kommt, die wir alle nicht brauchen können.