Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 08.05.2006

Untertitel: Kulturstaatsminister Bernd Neumann stellte in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum - die zweite wesentlich erweiterte Auflage des Gedenkbuchs vor.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-08-gedenkbuch-opfer-der-verfolgung-der-juden-unter-der-nationalsozialistischen-gewaltherrschaft-in,layoutVariant=Druckansicht.html


unter dem deutschen Titel "Alle Namen" erschien vor einigen Jahren ein Roman des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago, ein Roman über ein Archiv, in dem man sich über umfangreiche Personenkarteien Zugang zu menschlichen Schicksalen verschaffen kann. Daran fühlte ich mich erinnert, als ich von diesem Gedenkbuch erfuhr, das Tausenden von jüdischen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland wieder einen Namen gibt, ja ihren Namen gibt, und sie der Anonymität der Geschichte entreißt. Von 149 625 Namen und Schicksalen berichtet dieses Gedenkbuch. Wir verneigen uns vor den Opfern. Und wir wissen, dass diese Zahl nur ein kleiner Teil jener sechs Millionen ist, die durch den nationalsozialistischen Terror in ganz Europa ermordet wurden.

Im September 2001 stellte einer meiner Amtsvorgänger, Herr Staatsminister a. D. Julian Nida-Rümelin, hier an diesem Ort ein wichtiges Zwischenergebnis für das jetzt neu bearbeitete und erweiterte Gedenkbuch vor: das Bundesarchiv hatte bis dahin die "Ergänzungskarten zur Abstammung und Vorbildung" der Volkszählung von 1939 vollständig ausgewertet. Diese Ergänzungskarten wurden bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 neben den Haushaltungslisten verwendet mit dem Ziel, alle jüdischen Einwohner im Reichsgebiet zu erfassen. Bis 1990 lagen die Ergänzungskarten bei der Archivverwaltung der DDR unter Verschluss. Die daraus inzwischen vom Bundesarchiv erstellte Datenbank ist eine bedeutende Quelle für die Forschung.

Bei der Hinterlegung der ersten Auflage des Gedenkbuchs in der "Stadt der Namen" - Yad Vashem in Jerusalem im Jahre 1986 hatte die Bundesregierung das Versprechen abgegeben, ein seinerzeit unvermeidliches Manko in einer zweiten Auflage zu beheben, ein Versprechen mit einer politischen Dimension: Bestand doch dieses Manko in den großen "weißen Flecken", die das Gedenkbuch im Jahre 1986 noch in Bezug auf die Gebiete der damaligen DDR und der ehemaligen Ostgebiete aufwies.

Trotz intensiver Bemühungen der Bundesregierung um Zusammenarbeit mit der Regierung der DDR gelang es bei der ersten Auflage nicht, eine namentliche Gesamtliste der ermordeten jüdischen Opfer des Deutschen Reiches zu erstellen. Das Bundesarchiv hat sich seit der Herstellung der deutschen Einheit nach Kräften bemüht, dieses Versprechen zu erfüllen, und konnte sich dabei in vielen Fällen auf Angaben der Angehörigen der Opfer des Holocaust stützen. In der neuen Auflage des Gedenkbuches wird nun auch die jüdische Bevölkerung auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer und der ehemaligen Ostgebiete berücksichtigt.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage sind zwanzig Jahre vergangen, in denen das Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und am Holocaust auch auf regionaler und lokaler Ebene nicht nachließ. Eine Fülle vielfältiger Veröffentlichungen belegt dies. Auch die Archive in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa und Übersee haben weitere Bestände zur jüdischen Geschichte, zur Ausgrenzung und Verfolgung während der nationalsozialistischen Diktatur für Forschungszwecke erschlossen.

Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesarchivs aus beiden Teilen des seit 1990 vereinten Landes haben am Gedenkbuch mitgewirkt. Mehr als 300 Quellengruppen wurden für die Bearbeitung der zweiten Auflage des Gedenkbuches ausgewertet. Die große Bereitschaft zahlloser Partner, die ihre Forschungsergebnisse und Kenntnisse bereitwillig zur Verfügung stellten, ist zugleich das Spiegelbild einer engagierten Gesellschaft, die sich der Ehrung der Opfer, der Geschichte ihrer Familien und dem Nichtvergessen der begangenen Verbrechen verpflichtet fühlt. Ich habe daher vielen für ihre Mithilfe zu danken, ohne die dieses Gedenkbuch nicht hätte erscheinen können und danke mit besonderem Respekt den Hinterbliebenen, die sich mit Hinweisen zu ihren Angehörigen beteiligt haben.

Ob mit wachsender zeitlicher Distanz auch die emotionale Teilnahme am Geschehen jener Jahre und das Mitleiden für die entrechteten und ermordeten Menschen abnehmen wird, weiß heute niemand. Für die öffentliche Erinnerungskultur birgt diese zunehmende zeitliche Entfernung Gefahren. Der Kreis der Überlebenden verringert sich stetig. Der Zeitpunkt, an dem niemand mehr aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben von Entrechtung und Demütigung, Ausgrenzung und Verfolgung, Erniedrigung und Vernichtung, Ermordung und Auslöschung berichten kann, rückt unaufhaltsam näher. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass die Neuauflage des Gedenkbuches jetzt erscheint.

Mit der Erstellung der Liste der jüdischen Einwohner des Deutschen Reiches von 1933 bis 1945 setzt das Bundesarchiv gemeinsam mit der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" sein Engagement bei der Sicherung des Gedenkens an das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Deutschland fort.

Eigentlich sollte ich Ihnen dieses Gedenkbuch zusammen mit Paul Spiegel vorstellen. Sein Tod ist für unser Land ein großer Verlust. Paul Spiegel stand nach Innen und Außen für Versöhnung. Er baute Brücken für die nachfolgenden Generationen, und er trat dafür ein, dass aus der Verantwortung vor der Geschichte erst die Kraft für die Gestaltung der Zukunft erwächst. Wir gedenken seiner mit tiefer Trauer, aber auch mit tiefer Dankbarkeit für sein Wirken zum Wohl unseres Landes.

Mit dem Blick nach vorn, mit dem Wunsch, dass eine Aufarbeitung der Geschichte Europas die Wunden der Vergangenheit heilen möge, haben wir die moralische Verpflichtung, die Erinnerung an alle jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wachzuhalten und an künftige Generationen weiterzugeben.

Vielen Dank.