Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 08.04.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, sehr geehrte Ehrengäste,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/99/11799/multi.htm


sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine grosse Ehre und eine große Freude, die Festansprache anlässlich des 50. Jährigen Jubiläums der "Gemeinschaft ehemaliger politischer Häftlinge - VOS e. V." halten zu dürfen.

Dieses Jubiläum, das uns heute hier zusammengeführt hat, ruft in fast allen unter Ihnen die Erinnerung an Jahrzehnte der aus unmittelbarer Betroffenheit gespeisten, persönlichen Verbundenheit und an das entschiedene Eintreten für die gemeinsame Sache innerhalb ihrer Gemeinschaft wach.

Ich konnte Ihre Arbeit seit meiner Zeit als Abgeordneter der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR im März 1990 und im Deutschen Bundestag verfolgen. Ihnen zu vermitteln, warum ich diese Arbeit aus voller Überzeugung unterstützen konnte und dies auch heute, als Staatsminister beim Bundeskanzler in meiner Verantwortung für die Angelegenheiten der neuen Länder, gern weiter tun werde, gibt mir der heutige Tag Gelegenheit. Dafür danke ich ihnen herzlich.

Nicht im Sinne eines historischen Exkurses will ich den Weg und die Leistung der VOS beschreiben - das hieße an diesem Ort und vor Ihnen, Eulen nach Athen zu tragen - sondern aus meiner zehnjährigen Beobachtung und der persönlichen Perspektive eines einundvierzigjährigen Ostdeutschen will ich die Verdienste, die sich die VOS in fünfzig Jahren um dieses Land und seine Menschen erworben hat, auf drei Ebenen hervorheben: Diese drei Ebenen beschreiben die Leistung, den die Mitglieder der VOS in den vergangenen 50 Jahren für unser Land erbracht haben.

Erstens: In der Bedeutung und auch in der Geschichte des VOS vornan steht als erster Verdienst die Interessenvertretung der ehemaligen politischen Häftlinge der SBZ und der DDR. Die VOS ist politische Heimat für die Opfer von Gewalt und Unterdrückung.

Die Geschichte der deutschen Teilung ist von Anfang an auch die Geschichte politischer Verfolgung und Repressionen zunächst in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR gewesen. Viele tausend Menschen wurden verhaftet, eingesperrt, zu langen Haftstrafen verurteilt und verschleppt. Viele verloren ihr Leben. Das Andenken der inhaftierten Kameraden und Leidensgenossen zu wahren, auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und sich für deren Befreiung einzusetzen, hat sich die VOS von Anfang an zur Aufgabe gemacht.

Für viele dieser hilflos der stalinistischen Repression ausgesetzten Menschen waren Sie Zuflucht und Hoffnung; die ist sicher auch die Quelle für den engen Zusammenhalt und die grosse Verbundenheit, die sie füreinander nach so vielen Jahren noch empfinden.

Doch auch wer das Glück hatte, in den Westen freizukommen, trug Schädigungen davon, die sein weiteres Leben beeinträchtigten und: - Schäden an der Seele hat wohl jeder erlitten. Damals litten aber vor allem viele der ehemaligen Häftlinge große finanzielle Not; die Hilfsmaßnahmen, die beispielsweise ehemalige Kriegsgefangene und Vertrieben erhielten, standen ihnen nicht zu.

Diese Menschen hatten zunächst keine Lobby, bis die VOS - hervorgegangen aus der Unterstützung für Häftlinge des Lagers Sachsenhausen, sich schliesslich aller ehemaliger politischer Häftlinge der sowjetischen Besatzungszone, aber auch Angehöriger von noch Inhaftierten und Verschleppten annahm und ihr Einsatzgebiet von Westberlin auf die ganze Westzone ausweitete.

Wie hoch die Akzeptanz war, zeigen die Mitgliedszahlen dieser frühen Jahre: Die Zahlen aus jener Zeit sind beeindruckend: Allein im Jahr 1952 nahmen 22.145 Menschen die Hilfe der VOS in Anspruch, ein Jahr später waren es bereits über 60.000! Im Jahr 1954 zählte die VOS über 3.000 Mitglieder, zum ersten Bundestreffen in Königswinter vom 8. bis 10. Oktober 1954 reisten über 1.000 Mitglieder an.

Zu den grossen Leistungen der VOS in diesem Zusammenhang zählt nach meiner Überzeugung gerade auch der Einsatz für eine rechtlich abgesicherte Unterstützung für die ehemaligen politischen Häftlinge.

Ich bin der Überzeugung: Hätte die VOS nicht im Zuge der Häftlingswellen nach dem 17. Juni 1953 durch einen eigenen Gesetzentwurf Druck auf den Bundestag ausgeübt und sich dabei auch Verbündete gesucht, wäre das Häftlingshilfegesetz jedenfalls nicht bereits am 10. August 1955 in Kraft getreten Dieses Gesetz hat den Grundstein für die heutigen Regelungen über die Rehabilitierung und Entschädigung von DDR-Unrecht gelegt. Sie meine Damen und Herren, hatten durch die VOS massgeblichen Anteil daran; es war einer Ihrer ersten großen politischen Erfolge!

Das starke parlamentarische Engagement der VOS habe ich in den Jahren seit 1990 beim Einsatz für das 1. und 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz selbst erleben und auch begleiten können - wenn unsere Arbeit zunächst auch im Ergebnis nicht befriedigend war. So habe ich die Vertreter der VOS gerade hier als unbequeme Streiter und geschickte Anwälte für die Interessen der ehemaligen politischen Häftlinge kennengelernt. Noch gut in Erinnerung ist mir die Demonstration vor dem Reichstag und die Anhörung zum Gesetzentwurf des 1. SED Unrechtsbereinigungsgesetzes am 19. März 1992 in Halle: Unmittelbar nach Eröffnung der Anhörung verlas ein Beauftragter nahezu aller Opferverbände - auch der VOS - den eindrucksvollen "Protest von Halle".

Auch wenn der Vorstoss damals nicht erfolgreich war und der unzureichende Gesetzentwurf letztlich verabschiedet wurde - im Bewußtsein der Betroffenen und der Öffentlichkeit blieb der Einsatz des VOS verankert und öffnete damit auch die Möglichkeit für spätere Verbesserungen im Gesetzeswerk.

Erst mit dem Regierungswechsel im September 1998 kam wieder Bewegung in diese Thematik. Die VOS hat durch ihren Bundesvorsitzenden von Anfang an die Gespräche der neuen Bundesregierung um eine Verbesserung der Rehabilitierungsgesetze massgeblich mit geprägt und ist somit eine der "Mütter" des endlich eingetretenen Erfolges. Denn am Ende dieser Bemühungen steht diesmal die Durchsetzung zentraler Forderungen der VOS aus den vergangenen Jahren: Seit Anfang dieses Jahres ist neben anderem endlich die Kapitalentschädigung auf einheitlich 600 DM pro Haftmonat angehoben und damit ein wichtiger Schritt auch zur Verwirklichung der inneren Einheit getan worden. Dass ich selbst eine - sagen wir - Hebammenfunktion bei dieser Geburt haben durfte, freut mich besonders und Sie hoffentlich auch.

Die zweite Ebene der Verdienste der VOS, die mir als Ostdeutschem, wie Sie sich denken können, besonders bedeutsam ist, will ich mit der Rolle der VOS als Mahnerin gegen Unterdrückung und gegen die deutsche Teilung beschreiben. In dieser Funktion haben Sie damals, meine Damen und Herren, weit über den Kreis der ehemaligen und noch in Haft befindlichen Opfer der DDR-Repression für viele eine grosse Bedeutung gehabt.

Auch wenn es in der Geschichte beider deutscher Staaten längere Perioden gab, in denen bei vielen Menschen die Hoffnung auf ein Leben im gesamten Deutschland mit demokratischen Freiheitsrechten und ohne einengende Mauern und Stacheldrähte der Resignation, zumindest aber der nüchternen Akzeptanz des Status quo gewichen war - die Wirkung, die die Botschaften der "Freiheitsglocke", aber vor allem der Deutschlandtreffen hatten und die sie stellvertretend für Ostdeutsche organisierten, sollte keiner unterschätzen. Vereinigungen wie die VOS haben die Idee eines vereinigten Deutschland unter demokratischen und freiheitlichen Vorzeichen so, wie es das Grundgesetz uns aufgegeben hatte, wach gehalten. Und sie haben diese Werte dem Pragmatismus, der durch Begriffe wie "friedliche Koexistenz" und "Wandel durch Annäherung" beschrieben wird, eher zur Seite als entgegengestellt. Dies hat für viele Bürgerinnen und Bürger der DDR sehr viel bedeutet. Und der Mut und die Kraft, die die Menschen für die friedliche Revolution in der DDR gebraucht und schließlich aktiviert haben, wurde zweifellos auch gespeist von Vereinigungen wie der VOS. Sie hielt die Idee lebendig, dass der Eiserne Vorhang kein unabänderliches Schicksal sei, sondern gegen Menschenwürde und Menschenrecht verstieß. Für die Wachsamkeit gegen dieses Unrecht, meine Damen und Herren, möchte ich Ihnen am meisten danken.

Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei der dritten Säule Ihrer Arbeit, die ihre ganze Bedeutung nach meinem Eindruck nach der Vereinigung entfaltet hat und bis heute entfaltet: Ich meine den Einsatz der VOS für die Aufarbeitung der Vergangenheit, für das Gedenken an die Opfer und das Vermitteln der Geschichte der Unterdrückung.

Es gibt nach meiner Überzeugung kein wirksameres Gegengift wider das Vergessen vor allem von staatlichem Unrecht, und kein besseres Instrument, als die Anschauung, die Erinnerung und die Berichte von Zeugen. Der Einsatz für die Erhaltung oder museale Nutzung etwa eines ehemaligen Arbeitslagers, Gesprächsangebote für den Geschichtsunterricht oder Vorträge in Fortbildungseinrichtungen, aber auch die eindrucksvollen Gedenkveranstaltungen des VOS, wie sie in Sachsenhausen und Buchenwald nach 1990 stattgefunden haben - sind und bleiben die Aufgabenfelder der VOS.

Schliesslich gehört dazu die Pflege des Andenkens an die Opfer, ihrer Gräber und Gedenksteine. Diese Arbeit geht weit über das Wachhalten persönlicher Erinnerung und Empathie hinaus. Gerade bei jungen Menschen, die das Glück hatten, Terror und Unrecht nicht erlitten zu haben, kann so im Bewußtsein verankert werden, dass die Opfer von Diktaturen nicht allein in Zahlenkolonnen zu betrachtten sind, sondern Einzelschicksale dahinterstehen, Opferschicksale, deren Leid fortwirkt über Generationen.

Meine Damen und Herren, zum Abschluss möchte ich noch einige Gedanken darauf verwenden, wo sie Ihre Zukunft sehen. Ich kann sie, auch10 Jahre nach der Vereinigung nur bitten: Lassen Sie sich nicht beirren.

Als ich mich auf den heutigen Tag vorbereitete und überlegte, wie ich mein Interesse und meine Sympathie für Ihre Arbeit auf den Punkt bringen kann, fiel mir eine kleine, sarkastische Glosse in der "Freiheitsglocke" von Januar / Februar diesen Jahres in die Hände. Der Text beschäftigte sich mit der in der Öffentlichkeit - wie ich finde zu Recht - umstrittenen Fernsehsendung "Big Brother" - dies ist die Fernsehshow, in der sich 10 Personen in einem Haus zusammenpferchen und Tag und Nacht von Kameras beobachten lassen. Die Glosse erinnerte daran, dass diese Form totaler Kontrolle, die diese Menschen freiwillig über sich ergehen lassen, Tausenden von Häftlingen in der DDR als erniedrigende Tortur über Jahre aufgezwungen wurde.

Ich bin weit davon entfernt, die Bedeutung dieses peinlichen Spektakels überhaupt bewerten zu wollen. Es soll mir nur als Beispiel für die latente Gefahr dienen, die von einem sorglosen Umgang oder gar der freiwilligen Aufgabe der persönlichen Integrität und Würde ausgehen kann. Diese Gefährdung kann niemand besser beurteilen und in Erinnerung rufen als Sie, die die Unfreiheit erzwungenermassen, für lange Jahre und ohne die Möglichkeit, bei Überdruss auszusteigen, erlebt und erlitten haben.

Zu mahnen, den ungeheuren Wert menschlicher Freiheit und Solidarität zu achten, aber auch zivilgesellschaftliche Verantwortung für die Gesellschaft im Bewusstsein zu halten, wird auch in Zukunft notwendig sein. Und es werden Menschen wie Sie sein - von der eigenen Lebensgeschichte mit einem besonders feinen Sinn dafür ausgestattet - die der Generation ihrer Kinder und Enkel dieses feine Gefühl weitergeben müssen.

Sicher, das vereinigte Deutschland ist ein demokratischer Rechtsstaat, doch Bürgerfreiheiten und Menschenwürde müssen in der sich immer schneller verändernden Welt immer neu erstritten werden, wenn man sie bewahren will.

Und ausserdem - politische Unfreiheit und Unterdrückung sind zwar bei uns überwunden. In anderen Ländern sind sie jedoch noch an der Tagesordnung. Auch auf die dortigen Zustände muss hingewiesen werden, um Freiheit und Demokratie überall zum Durchbruch zu verhelfen.

Nein, die VOS ist keine überlebte, sondern eine höchst aktuelle Einrichtung; sie repräsentiert Grundwerte, die für uns auch in Zukunft von höchster Bedeutung sind.

Die VOS hat in den letzten 50 Jahren viel auf den Weg und viele in Bewegung gebracht; sie hat Konflikte bestanden, Siege eingefahren und auch Niederlagen einstecken müssen. Sie hat sich in jedem Falle verdient gemacht um unser Land. Ihnen hierfür Anerkennung und Dank - auch im Namen des Herrn Bundeskanzlers - auszusprechen, dazu bin ich heute hierher gekommen.

Und, um Ihnen mit meinem Vortrag zu beweisen: Es gibt noch viel für Sie zu tun. Ich appelliere an Sie, in Ihrem Engagement nicht nachzulassen.

Vielen Dank.