Redner(in): Angela Merkel
Datum: 26.05.2006

Untertitel: Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs am 26. Mai 2006
Anrede: Sehr geehrter Herr Mehdorn, sehr geehrter Herr Kommissar Verheugen, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, Herr Kollege Tiefensee, alle, die Sie einmal Verkehrsminister waren, Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Herr Ratsvorsitzender, Herr Weihbischof, Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/05/2006-05-26-angela-merkel-zur-eroeffnung-des-berliner-hauptbahnhofs,layoutVariant=Druckansicht.html


Es ist mir natürlich auch eine große Freude, heute bei der Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs dabei zu sein. Berlin hat in den letzten Jahren viele großartige Tage erlebt, aber ich glaube, der heutige ist auch nahe an einem Superlativ. Es ist ein symbolträchtiger Tag, weil dies einfach auch ein symbolträchtiger Ort ist.

In unmittelbarer Nähe zu dem früheren Verlauf der Mauer wird jetzt so etwas wie ein nochmaliger Brückenschlag zwischen den verschiedenen Himmelsrichtungen vorgenommen, der auch die früher getrennten Teile Berlins auf eine ganz neuartige Weise miteinander verbindet. Es wird ein Stück Berlin weiter vollendet, mit Ausnahme der kleinen, freien Flächen. Parlamentsgebäude, Bundeskanzleramt - alles vor mehr als zehn Jahren begonnen und heute mit diesem eindrucksvollen Hauptbahnhof abgerundet.

Der Berliner, der ja ein Kiez-Mensch ist, hat jetzt einen Hauptbahnhof. Man braucht sich eigentlich nicht zu wundern, dass ihm das nicht ganz leicht fällt. Aber ich bin sicher, er wird es eines Tages zu schätzen wissen, und schon heute sind es ziemlich viele, die froh sind, dass es so ist.

Dieser Hauptbahnhof ist nicht nur ein funktionales Stück, sondern er hat auch einen solch tollen Architekten, eine Gruppe, die daran mitgearbeitet hat, und Bauleute, die wirklich ihr Äußerstes geben mussten. Ein bisschen ist es so -ich weiß nicht, wo Herr von Gerkan sitzt- , dass es mir in den letzten Tagen, wenn ich die Baubeschreibung gesehen und von Herrn Azer gehört habe, oft so vorkam, wie Komponisten früher Violinenkonzerte geschrieben haben und anschließend gehofft haben, dass es einen geeigneten Geiger gibt. So haben sich hier glücklicherweise Bauleute und Architekt auch so gefunden, dass das Ganze formvollendet zu Ende gebracht werden konnte. Ich hoffe, dass auch noch in den Generationen nach uns die Menschen einfach sagen werden: Das war der Anfang des 21. Jahrhunderts, das Ende des 20. Jahrhunderts, und das war die Baukunst, die einfach das öffentliche Leben geprägt hat.

Dieser Bahnhof steht mit seinem Glas, seinen vielen Etagen, seinen vielen Richtungen, seinen Geschäften und mit allem, was es hier gibt, dafür, dass es ein modernes, aufgeschlossenes, weltoffenes Gebäude ist und damit auch symbolträchtig für Berlin und für unser Land, die Bundesrepublik Deutschland. So wünsche ich es mir jedenfalls.

Meine Damen und Herren, gestalterische und technische Maßstäbe sind gesetzt: Hell, modern, transparent. Das ist vielleicht auch ein Zeichen für die Wandlungsprozesse, die wir alle durchleben und die insbesondere Deutschland im Prozess der Einigung hinter sich gebracht hat und zum Teil noch weiter durchlebt. Aber der Hauptbahnhof stimmt in seiner Ausgestaltung optimistisch, was uns bei der zukünftigen Bewältigung der Probleme auch helfen wird.

Ich möchte jetzt nicht auf 12Jahre der Geschichte der Bahnreform zurückblicken. Da gäbe es viel Interessantes zu erzählen. Aber der Schritt, 1994 die Deutsche Bundesbahn in Richtung eines privatrechtlichen Unternehmens zu entwickeln, war auch ein wichtiger, wegweisender Schritt. Die Gründe, die dies erforderlich gemacht haben, lagen auf der Hand: Verluste an Marktanteilen trotz wachsenden Verkehrsaufkommens, Zunahme der Verschuldung trotz Bundeszuschüsse. Man hatte einfach den Eindruck, eine Behördenbahn musste in ein modernes Dienstleistungsunternehmen umgewandelt werden. Auch die Deutsche Reichsbahn musste integriert werden. Lieber Herr Hansen, wir haben darüber gesprochen: Wenn wir heute sagen können, dass die Deutsche Bahn AG ihre Produktivität seit Beginn um sage und schreibe 150 % gesteigert hat, dann kann sich das sehen lassen.

Ich möchte an dieser Stelle und an diesem Tag deshalb auch darauf hinweisen: Dieser intensive Umbauprozess der Bahn ist gemeinsam mit den Beschäftigten vollzogen worden, nicht nur mit den Managern und Führungskräften -mit denen auch- , sondern mit den Beschäftigten. Dafür ein herzliches Dankeschön! Tausende Lokführer, Zugbegleiter, Rangierer, Techniker und Beschäftigte am Schalter sind das Rückgrat der Bahn und werden es auch bleiben. Ohne sie funktioniert nichts. Sie sind die Gesichter, mit denen die Kunden die Bahn erleben, und deshalb, glaube ich, dürfen wir sie auch in den Mittelpunkt unserer heutigen Feier stellen. Sie werden genauso wie in vielen anderen auch in diesem modernen Bahnhof dafür Sorge tragen, dass alles gut funktioniert und dass das, was sich Herr Verheugen für diesen Hauptbahnhof gewünscht hat, dann auch in die Tat umgesetzt werden kann. Wenn es einmal nicht auf die Sekunde genau funktioniert, sollte man nicht gleich mit dem Meckern beginnen, aber die Ziele sind klar.

Meine Damen und Herren, heute feiern wir. Das ist wunderschön. Die Bürgerinnen und Bürger von Berlin und aus allen Teilen Deutschlands und der Welt werden Gelegenheit haben, auch den morgigen Tag zu nutzen, um diesen tollen Bahnhof zu besichtigen. Aber ausruhen kann und darf sich die Bahn nicht. Der Reformprozess der Bahn muss weitergehen. Ich bin auch ganz fest davon überzeugt: Er wird weitergehen. Das ist schon 1994 so angelegt worden. Deshalb werden wir auch alles daran setzen, dass dieser Weg nicht vorzeitig stecken bleibt. Ich bin mir dabei auch mit dem Kollegen Tiefensee sehr einig. Auf eine Regierungskrise dürfen Sie also nicht hoffen. Darauf, dass die Europäische Union einschreitet, können Sie auch nicht hoffen. Also werden wir gemeinsam mit den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und natürlich auch mit dem Bundesrat besprechen, wie es weitergeht, wenn es um Form und Zeitpunkt der Privatisierung geht, die aus meiner Sicht nicht nur kommen sollte, sondern kommen muss. Denn die Bahn hat viel erreicht, aber muss fit gemacht werden für die Zukunft.

Wir unterstützen auch den Bahn-Vorschlag -das möchte ich ausdrücklich sagen- , bei all den Bemühungen nicht nur auf dem deutschen Verkehrsmarkt gut dabei zu sein, sondern auch eine führende Rolle auf dem europäischen Verkehrsmarkt zu spielen. Lieber Herr Verheugen, dabei setzen wir nun natürlich wieder alles darauf, dass die Kommission mit Argusaugen darüber wacht, dass nicht nur in Deutschland die Öffnung des europäischen Schienennetzes für alle Verkehre ab dem 1. Januar des kommenden Jahres möglich wird, sondern dass dies auch für die Züge der Deutschen Bahn AG in anderen Verkehrsnetzen gilt.

Was wir -das möchte ich allerdings dazu sagen- für unsere deutschen Unternehmen in Europa einfordern, das muss auch in Deutschland gewährleistet sein. Wir brauchen faire Wettbewerbsbedingungen auf dem Schienennetz für alle Anbieter. Auch das ist eine Verpflichtung, der sich die deutsche Bundesregierung und die Regulierungsbehörden stellen und bei der wir auf tätige Mithilfe und immer währende Einsicht der Deutschen Bahn AG setzen.

Meine Damen und Herren, die Tatsache, dass wir die Bahnreform in Angriff genommen haben und sie fortsetzen wollen, zeigt nichts anderes, als dass wir auf den Verkehrsträger Schiene setzen. Wir sind fest davon überzeugt, dass er den Interessen unserer Wirtschaft dient und dass er zugleich auch dem Umweltschutz dient. Das heißt, dass es sich um einen nachhaltigen und umweltfreundlichen Verkehrsträger handelt. Die Schiene soll -zum Teil ist sie es schon- ein leistungsfähiger Verkehrsträger erster Güte werden. Das ist wichtiger denn je, gerade in Zeiten der Globalisierung und der Arbeitsteilung. Das heißt aber auch, dass der Schienenverkehr nicht mehr allein sektoral betrachtet werden kann, sondern dass er Hand in Hand und verzahnt mit anderen innovativen Transport- und Logistikbereichen gehen muss. Ich glaube, dass die Deutsche Bahn AG dies sehr fest im Blick hat.

Das heißt: Allein mit dem Ausbau der Schienennetze ist es nicht getan. Wenn man den Verkehrsprognosen glauben darf und sich einmal anschaut, wie der Güterverkehr angeblich steigen wird, dann wäre der Bund mit seinen finanziellen Mitteln z. B. nie in der Lage, die Neubaukapazitäten alleine zu schaffen. Das heißt, wir müssen bei einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur auch immer an Effizienzverbesserungen denken, und das ist auch ein Teil dessen, was Sie als integrierte Verkehrskonzepte im Auge haben. Das heißt, wir werden Container haben, die aus Singapur kommen und in Hamburg landen, die vielleicht sogar noch ein Stück auf einem Lkw fahren und anschließend auf der Schiene bis nach Italien oder anderswohin fahren. Ein Binnenmarkt braucht auch ein einheitliches Verkehrskonzept, und an diesem Verkehrskonzept möchte sich die Bundesrepublik Deutschland und mit ihr die Bahn AG natürlich auch beteiligen.

Ich glaube, wir feiern deshalb heute nicht nur einfach die Inbetriebnahme eines neuen Bahnhofs. Wir bekennen uns zu einem Konzept, für das dieser Bahnhof in Zukunft symbolisch stehen wird - wirtschafts- und verkehrspolitisch. Wenn es heute Abend dann noch eine Lichtshow geben wird, dann ist das auch ein symbolischer Lichtblick für viele Bereiche, in denen sich Deutschland anschickt, im fairen Wettbewerb mit anderen eine führende Rolle zu spielen. Wir vertrauen auf die Menschen in diesem Land, die viele Wandlungsprozesse bewältigt haben. Wir glauben, dass wir mit diesen Menschen eine Zukunft haben. Wir versuchen, Hand in Hand mit Wirtschaft und Politik zu arbeiten.

Ich danke allen, die an diesem wunderschönen Bauwerk mitgewirkt haben. Ich wünsche Ihnen allen viel Kraft, den Kunden viel Freude und denen, die einkaufen, immer gute Waren. Ich freue mich darauf, wenn ich abends im Kanzleramt einmal gar nichts mehr zu essen bekomme, entweder einen Döner zu essen oder bei McDonald's oder -jetzt bekomme ich gleich Ärger- auch in einer deutschen Buletten-Bude oder wie immer man das hier nennt -wahrscheinlich etwas gehobener- vorbeizuschauen. - Herzlichen Dank, dass ich dabei sein darf, und Glückwunsch von der ganzen Bundesregierung!