Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.04.2000
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Dr. Hieckmann, Herr Ministerpräsident Dr. Höppner, Herr Oberbürgermeister Dr. Polte, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/8040/multi.htm
Vor 175 Jahren, am 9. April 1825, erhielt das Statut der "Korporation der Kaufmannschaft zu Magdeburg" das königlich-preußische Gütesiegel.
Dieses Datum markiert den Geburtstag der - wie sie jetzt heißt - Industrie- und Handelskammer Magdeburg, den wir heute feiern.
Und es fällt - fast auf den Tag - zusammen mit dem Zeitpunkt der Wiederbegründung der Kammer am 12. April 1990 - nach dem Fall von Mauer und Stacheldraht.
Zu beiden Anlässen überbringe ich allen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern sowie den Mitgliedsunternehmen der Kammer die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung.
Für den wirtschaftlichen Aufbau in Ostdeutschland war es besonders wichtig, das Heranwachsen mittelständischer Unternehmen von Anfang an mit ganzer Kraft zu fördern.
Wie vielerorts in den neuen Ländern haben auch in Magdeburg Unternehmer aus der Region selbst die Initiative ergriffen.
Noch vor der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands haben sie die Neugründung der Industrie- und Handelskammer Magdeburg durchgesetzt.
Sie haben sich damit eine solide Plattform geschaffen für die Mitgestaltung der unternehmerischen Rahmenbedingungen auf kommunaler und regionaler Ebene.
Die Zahl von inzwischen rund 40.000 Mitgliedsunternehmen, von denen viele im vergangenen Jahrzehnt neu gegründet worden sind, ist damit auch eine gute Erfolgsbilanz der Kammer-Arbeit.
Diese Bilanz spiegelt zugleich eine Entwicklung wider, die wir nahezu überall in den neuen Ländern beobachten können.
Inzwischen gibt es über eine halbe Million mittelständische Unternehmen. Mehr als 3 Millionen Menschen sind hier beschäftigt.
Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Ostdeutschland ist seit 1991 von rund 40 Prozent des Westniveaus auf mittlerweile mehr als 60 Prozent gestiegen.
Der Ausbau der Infrastruktur kommt unübersehbar voran - und dies lässt sich gerade auch für die Region Magdeburg feststellen.
Der umfassende Ausbau der Autobahn von Berlin nach Hannover und weiter nach Nordrhein-Westfalen ist abgeschlossen.
Die neue Autobahn in die Region Halle-Leipzig, ins mitteldeutsche Industrierevier, wird noch in diesem Jahr fertiggestellt.
Das hochmoderne Wasserstraßenkreuz von Elbe und Mittelland-Kanal - eine künftige Drehscheibe der Binnenschifffahrt in Ost-West- und Nord-Süd-Richtung - wird mit Hochdruck gebaut.
Dies eröffnet Magdeburg gute Chancen, wieder anzuknüpfen an seine Tradition als wichtiger Handelsplatz in der Mitte Deutschlands.
Nicht zuletzt auch tragen die Anstrengungen der Menschen in Ostdeutschland Früchte, sich ein attraktives Umfeld zu schaffen - und auch dies lässt sich in Magdeburg beobachten.
Diese Stadt, die von den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges in besonderer Weise getroffen wurde und die anschließend stark gelitten hat unter der kalten Frontalarchitektur des Staatssozialismus - diese Stadt ist im Begriff, ein modernes, ein menschliches Gesicht zurückzugewinnen.
Viele Besucher, die im vergangenen Jahr zur Bundesgartenschau hierher gekommen sind, haben sich ein positives Bild des neuen Magdeburg machen können.
Aus den Erfolgen, die es beim Aufbau Ost hier wie anderswo unbestreitbar gibt, allerdings die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern mehr oder weniger sich selbst überlassen werden könne, wäre nichts als "blühender Unsinn".
Dies sage ich auch im Hinblick auf manche Wortmeldungen in der Diskussion der vergangenen Woche über die Frage der Fortsetzung der finanziellen Unterstützung der neuen Länder nach 2004. Denn Tatsache ist: Die Lücke zwischen ost- und westdeutscher Wirtschaftsleistung ist immer noch beträchtlich und die Arbeitslosenquote in den neuen Ländern doppelt so hoch wie in Westdeutschland.
Deshalb wird die Bundesregierung auch in Zukunft der ostdeutschen Wirtschaft ganz gezielt dort auf die Beine helfen, wo sich selbsttragende Strukturen noch nicht entwickelt haben.
Neben den Maßnahmen zum weiteren Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur gehören dazu zum Beispiel die Investitionszulage für Erstinvestitionen, die seit Anfang dieses Jahres um 25 Prozent erhöht wurde, die regionale Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern mit 5 Milliarden DM jährlich, der Wettbewerb "InnoRegio", mit dem wir den Aufbau innovativer regionaler Netzwerke bis 2005 mit insgesamt 500 Millionen DM unterstützen und das Sofortprogramm Arbeit und Ausbildung für 100.000 Jugendliche, das in diesem Jahr mit einem Schwerpunkt von 40 Prozent der insgesamt verfügbaren 2 Milliarden DM in den neuen Ländern fortgesetzt wird.
Ich bin sicher, dass diese Maßnahmen dem wirtschaftlichen Aufholprozess der neuen Länder weitere Impulse geben werden.
Doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vor uns liegende Weg für viele - nicht für alle - Regionen in den neuen Ländern noch schwierig ist.
Und dass er auch weiterhin Geduld, einen langen Atem und vor allem die harte, ausdauernde Arbeit der Menschen erfordert.
II. Meine Damen und Herren,
für einen wirklich nachhaltigen Aufschwung Ost ist vor allem aber auch die richtige Gestaltung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in ganz Deutschland von entscheidender Bedeutung.
Ziel unserer Politik ist es, die "Deutschland AG" zu modernisieren, den Strukturwandel voranzutreiben und die Innovationsdynamik unserer Volkswirtschaft zu stärken.
Dafür setzen wir alle Hebel in Bewegung. Mit einer Verbindung von angebots- und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik werden die wichtigsten volkswirtschaftlichen Antriebs-Aggregate - Investition und Konsum - gleichzeitig angestoßen.
In einem ersten Schritt hat die Bundesregierung gleich nach Amtsantritt die Wiederbelebung des privaten Verbrauchs in den Vordergrund gestellt.
Denn die Binnenkonjunktur war in der Vergangenheit das größte Sorgenkind der Wirtschaftspolitik.
Deshalb haben wir mit Vorrang die Steuern für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen gesenkt und das Kindergeld für Familien angehoben.
Inzwischen können wir feststellen, dass sich der private Verbrauch nach jahrelanger Schwäche erholt und im Begriff ist, sich zu einer der Antriebskräfte der Konjunktur zu entwickeln.
Hinzu kommt, dass die Exporte nach Überwindung der weltwirtschaftlichen Turbulenzen, die uns noch vor einem Jahr in Atem gehalten haben, eine neue kraftvolle Dynamik entfalten.
Zu Beginn des Jahres 2000 stehen alle Konjunktursignale auf Aufschwung.
Für dieses Jahr erwarten wir ein reales Wachstum in der Größenordnung von 2,5 Prozent.
Dies eröffnet zugleich gute Perspektiven, unserem wichtigsten Ziel näher zu kommen: dem schrittweisen Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
Die Arbeitslosigkeit wird im Durchschnitt dieses Jahres nach allen Prognosen um 200.000 Personen zurückgehen und damit erstmals seit 1996 wieder unter die 4 Millionen-Grenze sinken.
Jetzt kommt es darauf an, die Konjunkturbelebung in einen dauerhaften Aufschwung überzuleiten.
Dazu werden wir unseren Reformkurs verstärken und in einem zweiten Schritt einen besonderen Schwerpunkt auch auf die Verbesserung der Investitionsbedingungen legen.
Wir setzen auf einen Dreiklang bestehend aus Haushaltskonsolidierung ( Zukunftsprogramm ) , Steuersenkungen ( Steuerreform 2000 ) und sozialem Dialog ( Bündnis für Arbeit ) .
Als weiteres Element bereiten wir die Rentenreform vor, mit der wir das System der Alterssicherung auf ein dauerhaft tragfähiges Fundament stellen und die Lohnzusatzkosten weiter begrenzen wollen.
Kernbestandteil des Zukunftsprogramms ist die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die wir im vergangenen Sommer eingeleitet haben.
Damit gestalten wir die Grundlagen für die Zukunft unserer Kinder, denn für uns ist Sparen kein Selbstzweck.
Sparen ist die Voraussetzung dafür, dass der Staat handlungsfähig bleibt. Das ist wichtig für den Aufbau Ost, für Zukunftsinvestitionen zum Beispiel in den Bereichen Bildung und Forschung sowie für ein funktionierendes System der sozialen Sicherung.
Vor allem aber wollen wir den Staat damit auch wieder handlungsfähig in der Steuerpolitik machen.
Mit der Einleitung eines konsequenten Konsolidierungskurses schaffen wir die Voraussetzung für eine durchgreifende Steuerreform.
Eckpunkte unserer steuerpolitischen Konzeption bis zum Jahr 2005 sind die weitere schrittweise Senkung des Eingangssteuersatzes von derzeit 22,9 Prozent auf 15 Prozent, Anhebung des Grundfreibetrags von derzeit 13.500 DM auf 15.000 DM, Senkung des Spitzensteuersatzes von derzeit 51 Prozent auf 45 Prozent.
Davon profitiert in besonderer Weise auch die mittelständische Wirtschaft.
Und zwar - entgegen einem verbreiteten Vorurteil - in der Mehrheit nicht etwa, weil der Spitzensteuersatz gesenkt wird.
Sondern weil wir den Eingangssteuersatz herabsetzen und den Grundfreibetrag erhöhen.
Denn Tatsache ist: 78 Prozent der Steuerpflichtigen mit überwiegend gewerblichen Einkünften erzielen ein zu versteuerndes Jahreseinkommen unter 100.000 DM.
Diese Unternehmen werden kräftig entlastet: Bei einem zu versteuernden Jahresgewinn von 100.000 DM zahlt ein verheirateter Unternehmer ab 2005 nur noch 19,1 Prozent Steuern statt 25,3 Prozent in 1998 - das ist rund ein Viertel weniger.
Die zukünftige durchschnittliche Gesamtbelastung einer Kapitalgesellschaft von rund 38 Prozent - Unternehmensteuersatz 25 Prozent zuzüglich Gewerbesteuer - wird ein verheirateter Personenunternehmer erst bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 400.000 DM erreichen.
Dieses Einkommensniveau überschreitet lediglich eine Minderheit des Mittelstands. Und auch diese Betriebe lassen wir nicht im Stich.
Ich nenne vor allem die Maßnahme, neben der bereits bestehenden Möglichkeit des Abzugs der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe künftig zusätzlich pauschaliert die Gewerbesteuer mit der Einkommensteuerschuld verrechnen zu können.
Fazit: Entgegen der aus manchen Verbänden vorgetragenen Kritik sind die Mittelständler - und nicht die Großbetriebe - auf der Wirtschaftsseite die hauptsächlichen Nutznießer der Steuerreform.
Denn während der Mittelstand im Zeitraum 1999 bis 2005 netto um rund 20 Milliarden DM entlastet wird, müssen die Großunternehmen eine - wenn auch geringfügige - Mehrbelastung tragen.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur geplanten Steuerfreiheit für Gewinne aus dem Verkauf von Beteiligungen bei Kapitalgesellschaften.
Auch hier geht es nicht - wie gelegentlich verbreitet wird - darum, das "Großkapital" zu bevorzugen.
Sondern darum, eine ungerechtfertigte Doppelbesteuerung dieser Veräußerungsgewinne, die sich aufgrund des Systemwechsels bei den Körperschaften ergeben würde, zu vermeiden.
Denn dies würde die notwendige Restrukturierung der Wirtschaft behindern.
Wir wollen das Gegenteil erreichen und die in den Depots von Kapitalgesellschaften schlummernden Beteiligungen zu neuem Leben erwecken.
Dies öffnet die Chance, dass sich zusätzliche unternehmerische Aktivitäten entwickeln, die wir brauchen, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Im Übrigen gilt ohne wenn und aber der Grundsatz: Gewinne, die die Sphäre des Unternehmens verlassen und in das Portemonnaie von Unternehmern oder Anteilseignern wandern, werden besteuert.
Und zwar ganz gleich, ob es sich dabei um Kapitalgesellschaften oder Personengesellschaften handelt.
Bevorzugt werden lediglich Personenunternehmer, die ihre Alterssicherung in ihren Betrieb investiert haben und diese für ihren Ruhestand durch Verkauf des Unternehmens erlösen wollen.
Und die neue Fünftel-Regelung, die es erlaubt, den Verkaufserlös steuerlich auf 5 Jahre zu verteilen, bietet die Möglichkeit, bei vielen Betriebsübergaben gegenüber der alten Regelung noch Steuern zu sparen.
Meine Damen und Herren,
neben der Haushaltskonsolidierung und der Steuerreform gibt es ein drittes Element in dem Dreiklang unserer Wirtschaftspolitik, auf das ich hinweisen will.
Es ist und bleibt meiner Auffassung nach Aufgabe der Tarifparteien, das, was wir mit der Konsolidierungspolitik und der Steuerpolitik auf den Weg gebracht haben, in ihrem autonomen Verantwortungsbereich nicht zu konterkarieren, sondern zu unterstützen.
Mit diesem Ziel habe ich das Bündnis für Arbeit ins Leben gerufen.
Voraussetzung für einen Konsens über ein gleichgerichtetes Handeln von Politik und Tarifpartnern, das Standortmodernisierung und Beschäftigungsaufbau voranbringt, ist gegenseitiges Vertrauen.
Dieses Vertrauen wächst nicht über Nacht. Doch es wächst.
Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre ein gemeinsames Bekenntnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften zu einer beschäftigungsorientierten Tarifpolitik undenkbar gewesen.
Unter dem Dach des Bündnisses haben sich beide Partner darauf verständigt. Und sie haben damit begonnen, ihre Selbstverpflichtung einzulösen.
Die Tarifabschlüsse in der westdeutschen Chemie- und Metallindustrie eröffnen Spielräume für mehr Investitionen, mehr Wachstum und mehr Beschäftigung.
Ich wünsche mir, dass auch die ostdeutschen Tarifpartner beider Branchen diese Maßstäbe an ihre noch ausstehenden Abschlüsse anlegen.
Die zweijährige Laufzeit der Verträge gibt Arbeitgebern und Beschäftigten dieser Branchen nicht nur Planungssicherheit.
Sie verschafft den Sozialpartnern auch eine Atempause. Und diese Pause sollten wir nutzen, einmal grundsätzlich darüber zu sprechen, welche Schlussfolgerungen aus der sich verändernden Rolle des Arbeitnehmers im Wirtschaftsprozess zu ziehen sind.
Die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts wandelt sich zur immer stärker wissensbasierten "Neuen Ökonomie".
Das klassische, hierarchisch geprägte "Befehl- und Gehorsam-Prinzip" stirbt aus.
Gefragt sind selbständige, kreative und eigenverantwortliche Mitarbeiter, die sich in ihr Unternehmen einbringen.
All dies auszusprechen, klingt schon beinahe wie eine Binsenwahrheit.
Und doch habe ich den Eindruck, dass die Wirklichkeit mit unserem intellektuellen Erkenntnisstand nicht immer Schritt hält.
Zwar gibt es in vielen Unternehmen interessante Modelle der Mitarbeiterbeteiligung.
Doch müssen wir feststellen, dass bislang erst 6 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland an "ihrem" Unternehmen beteiligt sind.
Auf dem Weg zur "Teilhabegesellschaft", die die Arbeitnehmer umfassend einbezieht und damit anspornt, gibt es also noch viel zu tun.
Darüber, was wir - die Tarifpartner und die Politik - gemeinsam tun können, werden wir im Bündnis für Arbeit sprechen.
Der Handlungsbedarf ist offenkundig. Die "Neue Ökonomie" verlangt neue Antworten - auch beim Thema Mitarbeiterbeteiligung.
Und ich will, dass Deutschland hier eine führende Position erreicht.
Natürlich darf - und wird - dies nicht auf Kosten der traditionellen Wirtschaftszweige gehen.
Sie behalten in der "Neuen Ökonomie" ihren hohen Stellenwert.
Worauf es ankommt ist, dass beide Bereiche - traditioneller und moderner Sektor voneinander profitieren.
Und damit den bestmöglichen Beitrag für mehr Beschäftigung leisten.
III. Meine Damen und Herren,
Verantwortung, Engagement, Teilhabe - für die Industrie- und Handelskammern sind dies seit jeher alltägliche Begriffe.
Denn getragen wird ihre Tätigkeit - hier in Magdeburg seit 175 Jahren - durch den ehrenamtlichen Einsatz einer großen Zahl von Unternehmern.
Sie tun damit nicht nur Gutes für ihr Unternehmen, sondern beweisen zugleich ein großes Maß an Bürgersinn.
In diesem Sinn wünsche ich den Mitarbeitern und Mitgliedern der Industrie- und Handelskammer Magdeburg für ihre zukünftige Arbeit Glück und Erfolg.