Redner(in): Angela Merkel
Datum: 25.10.2006

Untertitel: am 25. Oktober 2006 in Düsseldorf
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/10/2006-10-25-rede-bkin-60-jahre-nrw,layoutVariant=Druckansicht.html


Ihre Königliche Hoheit,

Herr Ministerpräsident, lieber Jürgen Rüttgers,

sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, liebe Regina van Dinther,

sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,

sehr geehrter Herr Kollege Steinbrück,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Landtagen und aus dem Bundestag,

verehrte Gäste dieser Geburtstagsfeier,

ich bedanke mich für die Einladung und bin natürlich sehr gern nach Düsseldorf gekommen, in ein Bundesland, in dem ich sehr viele Jahre verbracht habe - zumindest arbeitsmäßig gleich nach der deutschen Wiedervereinigung. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, fast 9Jahre lang in Bonn zu arbeiten. Und deshalb verbindet mich inzwischen mehr mit diesem Land, als ich mir erträumt hatte, aber auch als andere vielleicht dachten. Ich darf als persönlichen Dank sagen: Ich habe mich in Nordrhein-Westfalen und in Bonn immer wohl gefühlt.

Deshalb empfinde ich es auch als einen schönen Moment, dass ich heute hier gemeinsam mit Ihnen den 60. Geburtstag Nordrhein-Westfalens feiern darf. Wenn ich mir das erlauben darf, dann darf ich auch im Namen von gut 60Millionen anderen Deutschen gratulieren, die es auch noch gibt - außerhalb von Nordrhein-Westfalen.

60Jahre Nordrhein-Westfalen - das ist eine beachtliche Erfolgsgeschichte. Was 1946 vielleicht manch einem noch wie ein Kunstgebilde erschien, das ist ein in sich gewachsener, fester Bestandteil der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland geworden. Manche sagen, hier schlägt das Herz der Republik. Ich glaube, dass Ministerpräsident Jürgen Rüttgers eben sehr deutlich gemacht hat, dass die Entwicklung Deutschlands mit der Entwicklung Nordrhein-Westfalens aufs Engste verknüpft war und dass die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft auf das Engste mit dem Wohl und den Möglichkeiten Nordrhein-Westfalens verknüpft sein wird.

Nordrhein-Westfalen ist ein Beispiel nicht nur wegen seiner Größe, seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft, sondern auch wegen dem, was dieses Land ausmacht: Ein Beispiel für starke und selbstbewusste Bundesländer. Als Bundeskanzlerin bin ich der tiefen Überzeugung, dass die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland, die Existenz der Länder, die Vielfalt der Länder, ein entscheidender Impulsgeber für die Entwicklung unserer ganzen Republik sind.

Manche sagen, Föderalismus ist nicht immer leicht zu durchschauen. Das stimmt sicherlich, insbesondere, wenn man an den Vermittlungsausschuss denkt. Andere sagen, es ist alles so kompliziert und dauert so lange, bis man zu Entscheidungen kommt. Dritte sagen vielleicht, dass die jeweiligen Interessen zu unterschiedlich sind. Aber die demokratische Stabilität unseres Landes und die Akzeptanz von politischen Entscheidungen in den vergangenen 60Jahren wären ohne die Existenz der Länder so nicht denkbar. Deshalb war es gut und richtig, dass wir eine Föderalismusreform verabschiedet haben, dass wir Ländern auch wieder mehr Entscheidungsmöglichkeiten gegeben haben, dass wir Verantwortung klarer organisieren. Deshalb brauchen wir auch eine Föderalismusreform Nummer2, damit die finanziellen Beziehungen klarer werden.

Aber ich glaube, es ist gut und richtig, dass in Deutschland niemals eine Diskussion darüber geführt wird, dass wir uns zentralistischen Tendenzen zuwenden würden. Die Kommunen, die Länder und der Bund - das ist das gelebte Subsidiaritätsprinzip; ein Prinzip, das die Entscheidungen so nah wie möglich bei den Menschen lässt und das für Kreativität und Vielfalt den Raum gibt, der notwendig ist.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jürgen Rüttgers, in Ihrer Rede haben Sie noch einmal an die Rolle der britischen Militärverwaltung vor 60Jahren erinnert: "Operation Marriage" die Rolle als "Ehestifter". Die Vereinigung der Regionen war damals nicht unumstritten. Was ich nach der deutschen Wiedervereinigung über Nordrhein-Westfalen gelernt habe, war auch, dass, bis es als Bundesland unumstritten war, doch ein bisschen Zeit verging. Vielleicht hat die CDU auch länger gebraucht als andere. Jedenfalls schien es ab und zu Streit zu geben. Aber es war unter dem Strich eine weitsichtige Entscheidung der britischen Militärverwaltung.

Deshalb freut es mich, dass Sie, Königliche Hoheit, die Herzogin von Gloucester, heute an diesem Festakt teilnehmen. Ich möchte Ihnen stellvertretend für das ganze Vereinigte Königreich meinen herzlichen Dank aussprechen: Für die Gründung dieses erfolgreichen Landes, für 60Jahre Partnerschaft zwischen unseren beiden Ländern. Wenn man sich überlegt, dass heute Deutsche und Briten freundschaftlich verbunden als gute Nachbarn und Mitglieder der Europäischen Union zusammenleben, wenn man sich überlegt, wie viele familiäre und persönliche Bande geknüpft worden sind, dann darf man an einem solchen Tag auch einmal dankbar sein für eine solche Entwicklung in Europa.

Das, was in Nordrhein-Westfalen geschehen ist im Verhältnis auch zu Großbritannien, zeigt: Der Weg Deutschlands in Europa und in der Welt wurde maßgeblich auch von Nordrhein-Westfalen aus bestimmt. Die Bundesrepublik wurde 1949 bekanntlich ja auch in Nordrhein-Westfalen gegründet, genauer gesagt in Bonn. Bonn hat sich als Regierungssitz etabliert. Auch heute noch ist die idyllische Stadt am Rhein für viele ein besonderes Symbol - ein Symbol für die parlamentarische Demokratie in Deutschland, die sich so erfolgreich entwickelt hat, und für eine deutsche Politik, die konsequent auf die europäische Einigung gesetzt hat.

Viele Persönlichkeiten aus Nordrhein-Westfalen hatten maßgeblichen Einfluss auf die deutsche Politik. Jede Aufzählung lässt riesige Lücken. Aber etwa der erste Bundeskanzler, Konrad Adenauer, kam aus Nordrhein-Westfalen. Der nach der ersten Landtagswahl 1947 gewählte Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Karl Arnold, hat Wesentliches geprägt; die Soziale Marktwirtschaft ist hier erwähnt worden. Und vier Bundespräsidenten? Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel und Johannes Rau? kamen aus Nordrhein-Westfalen. Jeder der genannten Personen hat Deutschland auf seine Weise geprägt. Und dafür kann Deutschland dankbar sein.

Nordrhein-Westfalen, das ist heute gesagt worden, ist ein Land der Vielfalt im besten Sinne. Es gehört die Fähigkeit, Menschen mit unterschiedlichster Herkunft zu integrieren, mit Sicherheit als eine der herausragenden Eigenschaften dazu. Seine Markenzeichen sind Weltoffenheit und Toleranz. Und vielleicht hat ja auch die Nähe zu den Nachbarländern Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich diese weltoffene Haltung immer wieder befördert.

Millionen von Menschen haben in den vergangenen Jahrhunderten in diesem Land immer wieder eine neue Heimat gefunden. Daran ist schon erinnert worden. Seit dem 19. Jahrhundert kamen unzählige Menschen aus Polen und den östlichen Provinzen Preußens als Arbeitskräfte für den Bergbau in die Region. Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten über eine Million Vertriebene und Flüchtlinge hier eine erste Bleibe. Sie halfen bei der Trümmerbeseitigung und beim Wiederaufbau mit. Die Integration derer, die vertrieben waren, gehört sicherlich zu den ganz großen Leistungen, die in der Bundesrepublik Deutschland vollbracht wurden, ohne dass daraus politische Spannungen erwachsen sind. Für viele Menschen war es so, dass aus einer Übergangslösung, erst einmal hier zu sein, eine endgültige Entscheidung für dieses Land wurde. Viele Menschen haben hier eine wirkliche Heimat gefunden.

In den 50er und 60er Jahren kamen erneut mehr als eine Million Menschen als damals so genannte Gastarbeiter aus dem Süden Europas, später aus der Türkei. Sie haben wesentlich zum weltweit bestaunten Wirtschaftswunder Deutschlands beigetragen. Und heute? es hat vielleicht sehr lange gedauert? ist uns allen bewusst: Die Integration der bei uns lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund ist eine wichtige, umfassende Aufgabe. Nordrhein-Westfalen stellt sich dieser Querschnittsaufgabe. Wir in der Bundesregierung halten dies für richtig und werden unsererseits für ganz Deutschland einen Beitrag dazu leisten, dass Integration in unserer Gesellschaft auf die Tagesordnung kommt. Denn nur gemeinsam können wir die Zukunft gestalten.

Meine Damen und Herren, wir haben natürlich, wenn wir integrieren wollen, wenn wir den Menschen eine Heimat geben wollen, vor allen Dingen die Aufgabe, allen eine Chance zu geben: Bei der Bildung, beim Einstieg ins Berufsleben, bei der Teilhabe am Wohlstand. Dazu sind Anstrengungen notwendig - Anstrengungen im Integrationsbereich und Anstrengungen im gesamten politischen Bereich. Deshalb glaube ich, dass der "Aktionsplan Integration" von Nordrhein-Westfalen ein wichtiger Schritt ist, um auch ein Integrationskonzept für ganz Deutschland zu erstellen.

Wenn man über die Stärken spricht, dann ist Integration mit Sicherheit eine Stärke. Eine weitere Stärke ist die Fähigkeit zum Wandel. Gerade von den Regionen dieses Landes ausgehend, in denen der Bau von Infrastrukturen vorangetrieben wurde und Industrialisierung stattgefunden hat, hatte sich das Bürgertum in Deutschland wesentlich entwickelt. Und dieses Land ist jetzt in einer Situation, in der es seit vielen Jahren auch wieder Strukturwandel kennt - ein Land, das neue Wege finden muss, auf denen nicht mehr die Steinkohle und die Schwerindustrie allein im Mittelpunkt stehen, sondern auf denen Zukunftsperspektiven ins Auge zu fassen sind.

Jürgen Rüttgers hat aufgezählt, an welchen Stellen dieses Land schon vorn ist. Aus dem einstigen Land von Kohle und Stahl der 50er und 60er Jahre wurde ein moderner, zukunftsgerichteter Industrie- und Dienstleistungsstandort. Mittlerweile befinden sich hier Zentralen von weltweit agierenden Energieunternehmen ebenso wie von großen Handels- und Dienstleistungskonzernen, von Chemie- und Maschinenbauunternehmen. Das heißt, Nordrhein-Westfalen beweist immer wieder mit seinen Menschen, wie viel Innovationskraft in diesem Land steckt.

Ich glaube, Integration und Strukturwandel, das sind auch die Herausforderungen, vor denen wir in ganz Deutschland stehen. Deshalb hängt von der Frage, ob das hier in Nordrhein-Westfalen gelingt, so viel für unser ganzes Vaterland ab. Es sind Dinge, die wir in vielen Beispielen miteinander beraten müssen: Bei neuen Wegen für Bildung und Forschung? ich glaube, heute ist hier gerade ein wegweisendes Gesetzeswerk verabschiedet worden? , bei den Fragen der sozialen Sicherheit und der Sozialreform, bei der Frage der Gestaltung unseres Arbeitsmarkts, bei der Frage, was wir regeln müssen und was wir nicht regeln dürfen, wo wir Bürokratie abbauen müssen, bei der Frage, wie unser Steuersystem der Zukunft aussehen muss und wo Zukunftsinvestitionen vorgenommen werden müssen.

Meine Damen und Herren, die Zeiten sind lange vorbei, in denen Nordrhein-Westfalen als das Land aus der Retorte, als Bindestrich-Land bezeichnet wurde. Die Menschen hier haben sich ihre Individualität, ihre Tradition bewahrt. Sie sind? so begegnen sie uns jedenfalls, wenn sie außerhalb Nordrhein-Westfalens agieren? Rheinländer, Westfalen und Lipper mit all ihren wahren oder nachgesagten Eigenheiten. Und trotzdem sind sie inzwischen eng miteinander verbunden. Man mag vielleicht manchmal übereinander ein wenig lästern, es mag auch ein beliebter Volkssport sein, bestimmte Biersorten zu verpönen oder zu lieben und jeweils die seinige in den Rang regionaler Kulturgetränke zu stellen. Aber ich glaube, für dieses Land gilt, was auch sonst gilt: Was sich liebt, das neckt sich. Und diese Fähigkeit sollten Sie sich erhalten.

Die Vielfalt ist es, die Nordrhein-Westfalen so lebens- und liebenswert macht - die Vielfalt der Landschaften ebenso wie die Vielfalt der Kulturen. So erfuhr das Land ja nicht nur eine, sondern viele sympathische Noten von Ludwig van Beethoven. Max Ernst oder der in Düsseldorf gebürtige Heinrich Heine und viele andere haben in den vergangenen Jahrhunderten bewiesen: Auf dem Boden dieses Landes gedeihen eben nicht nur Industrien, sondern auch Kunst und Kultur.

Ich möchte auch am Sport nicht vorbeigehen. Es war schließlich der in Essen gebürtige Helmut Rahn, der mit seinem entscheidenden Treffer zum 3: 2 im Finale der Fußballweltmeisterschaft, zwar nicht das Wunder von Essen, aber das Wunder von Bern besiegelte. Und neben dem Wirtschaftswunder hat dieses Wunder damals in der noch sehr jungen Bundesrepublik für eine beachtliche Aufbruchstimmung gesorgt. Dass Essen? es wird ja bald auch offiziell verkündet? stellvertretend für das Ruhrgebiet zur Kulturhauptstadt Europas 2010 erklärt wird, ist eine besondere Auszeichnung für das Ruhrgebiet und zeigt, was da geschehen ist und dass so manches Klischee über das Ruhrgebiet verfehlt ist.

Zum 50. Landesjubiläum hatte Johannes Rau als damaliger Ministerpräsident den Ausspruch geprägt: "Wir in Nordrhein-Westfalen". Ich darf Ihnen sagen: Sie in Nordrhein-Westfalen, Sie sind ein starkes Stück Deutschland. Herzlichen Dank dafür, und seien Sie das weiter so!