Redner(in): Angela Merkel
Datum: 28.10.2006

Untertitel: am 27. Oktober 2006 in Den Haag
Anrede: Lieber Jan Peter Balkenende, sehr geehrter Herr Dijkstal, sehr geehrte Frau Präsidentin Timmermann-Buck, sehr geehrter Herr Weisglas, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/10/2006-10-28-bundeskanzlerin-nieuwspoort-stiftung,layoutVariant=Druckansicht.html


ich sage als erstes ein ganz herzliches Dankeschön dafür, dass ich heute zu Ihnen in diesen wunderbaren Saal eingeladen wurde. Ich habe eine schöne Kneipe, wie man in Deutschland sagen würde, kennen gelernt. Aber heute Abend bin ich in einem ehrbaren, Ehrfurcht gebietenden Saal, der Geschichte ausstrahlt - europäische Geschichte. Das alles hier ist gebaut worden, als Menschen zwischen europäischen Orten unterwegs waren. Damals waren sich die Europäer auch schon sehr nah.

Ich habe Margreet de Boer heute Abend wiedergetroffen - vielleicht als ein Zeichen für die Große Koalition, die ich im Augenblick in Deutschland führe, aber auch als Erinnerung an eine schöne Zeit der Zusammenarbeit als Umweltministerin.

Lieber Jan Peter, ich bedanke mich für das, was du gesagt hast. Es sagt etwas darüber aus, was wir? die Niederlande und Deutschland? gemeinsam in Europa, in einer inzwischen sehr großen Europäischen Union, einbringen können. Es zeigt, dass die europäischen Interessen an vielen Stellen unsere nationalen Interessen sind, weil wir nur dann, wenn wir Brücken bauen? wie du es gesagt hast? , unsere eigenen Interessen wirklich vertreten können.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass ich heute hier bei Ihnen sein darf. Aber damit, dass Sie noch nie eine Frau als Rednerin hatten, müssen Sie sich selbst auseinandersetzen. Das ist nicht meine Angelegenheit.

Aber wenn wir auf unsere Geschichte schauen? die Geschichte zwischen den Niederlanden und Deutschland? , wenn wir an den Zweiten Weltkrieg und den Nationalsozialismus denken, dann war es alles andere als selbstverständlich, dass deutsche Regierungschefs wieder bei Ihnen reden dürfen. Europa ist nur ein Europa der Toleranz geworden, weil alle, die es mit Europa ernst meinten, Brückenbauer waren - egal, wo sie gearbeitet haben. Ob sie als Politiker, als Wirtschaftsführer oder in gesellschaftlichen Bereichen tätig waren - überall war es notwendig, Gräben zu überwinden, zu gemeinsamen Idealen zurückzukehren und zu überlegen, wie wir das, was wir unsere Heimat nennen, nach vorn bringen; und dies nicht gegeneinander, sondern in dem festen Bewusstsein: Wenn wir es gemeinsam tun, dann geht es jedem von uns besser.

Die Probleme, vor denen wir stehen, sind groß; wir haben heute darüber gesprochen. Wie schaffen wir Wirtschaftswachstum? Wie können wir soziale Sicherheit in der Globalisierung gewährleisten? Wie können wir es schaffen, in alternden Gesellschaften lebenslanges Lernen zu organisieren? Wie schaffen wir es, Menschen, die aus anderen Teilen der Welt kommen, zu integrieren, und wie verhält sich unsere innere Sicherheit zu unserer äußeren Sicherheit?

Als wir Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre das Ende des Kalten Krieges erlebt haben, waren wir alle mehr oder weniger davon erfüllt, dass der Gedanke der Freiheit und der Demokratie über die Diktaturen von Kommunismus und Sozialismus gesiegt hatte. Viele haben damals gedacht: Was kann jetzt noch passieren, nachdem eine solche Schlacht gewonnen ist? Unsere Prinzipien und unsere Werte hatten gesiegt.

Dann ist uns Mitte der 90er Jahre, zuerst mit den Ereignissen auf dem Balkan -mit den schrecklichen Morden, den Vergewaltigungen von Frauen und den Flüchtlingen? , klar geworden: Auch mit dem Ende des Kalten Krieges ist dies keine friedliche Welt geworden. Dann haben wir langsam erkannt, eine Zeit lang aber auch verdrängt, dass die Gefahr des Terrorismus auf uns zukommt. Aber seit dem 11. September des Jahres 2001 wissen wir: Dem können wir nicht entweichen. Wer dachte, das könne man vielleicht noch in Europa, der ist durch die Anschläge in Madrid und London eines Besseren belehrt worden.

Deshalb sind wir jetzt in der Situation zu fragen: Wie können wir, nachdem sich Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre die Überlegenheit demokratischer westlicher Werte so unmittelbar erwiesen hat, angesichts dieser völlig neuen Bedrohungen wieder zeigen, dass unsere Art zu leben eine ist, die die Würde des Menschen, und zwar jedes einzelnen Menschen, akzeptiert?

Dabei, finde ich, stehen wir vor ziemlich dramatischen Problemen. Das sind zum einen die Sicherheitsfragen. Im Kalten Krieg war die Sachlage ja relativ überschaubar. Die Abschreckung funktionierte, weil keiner der jeweiligen Partner die Absicht hatte, sich mit dem Sieg über den anderen auch selbst umzubringen. Dahinter steckte ein hohes Maß an Berechenbarkeit. Dieses Maß an Berechenbarkeit haben wir im Kampf gegen den Terrorismus nicht. Es gibt Menschen, die sagen: Mein Leben ist nichts wert gegenüber der großen Sache. Das heißt also: Mit einfacher Abschreckung kann ich dieser Gefahr nicht begegnen.

Außerdem haben wir das große Problem, dass wir plötzlich spüren: Äußere und innere Sicherheit hängen unmittelbar zusammen, weil Staaten einzelnen terroristischen Gruppen erlauben, aus ihren Staaten heraus zu operieren, statt diese terroristischen Gruppen zu bekämpfen. Deshalb ist vielleicht die spannendste und von uns noch nicht gelöste Herausforderung: Wie kann ich Menschen, z. B. in Afghanistan, überzeugend beweisen, dass Demokratie mehr Würde für den Einzelnen bedeutet, damit diese Menschen in ihren Heimatländern auch dazu bereit sind, für Demokratie und die Würde des Einzelnen zu kämpfen? - Wir haben uns heute darüber unterhalten und werden das in vielen Gremien tun. -

Was bedeutet das? Das bedeutet natürlich: Militärische Komponenten sind notwendig. Deutschland und die Niederlande sind in Afghanistan militärisch tätig. Aber die militärische Komponente reicht nicht, um Menschen zu überzeugen. Es muss ein völlig neuer Verbund von Entwicklungshilfe, von Aufbau demokratischer Institutionen, von Polizei und militärischen Mitteln gefunden werden. Plötzlich finden wir in unseren Ländern dazu - vielleicht ist das in den Niederlanden so wie in Deutschland - , dass wir ganz neue Wege gehen müssen. Heute haben wir in Deutschland Menschen, die? obwohl sie sich immer der Nichtregierungsarbeit verschrieben haben? nun auch die dazu gekommene militärische Komponente gutheißen, obwohl sie sich das vor 15 Jahren nicht vorstellen konnten. Andere Menschen, die immer auf militärische Kraft vertraut haben, wissen heute auch die Entwicklungshilfe zu schätzen, obgleich sie nicht dachten, dass sie unerlässlich für den Aufbau ist.

Außerdem sind wir plötzlich mit dem Sieg der Freiheit Wettbewerbern ausgesetzt, die uns auch vor große Probleme stellen. Ich spreche von der Globalisierung. Meine feste Überzeugung ist, dass die Niederlage der kommunistischen Diktaturen wesentlich durch den freien Austausch von Informationen herbeigeführt wurde, der sich letztlich in der Datenverarbeitung und im Internet niedergeschlagen hat.

Ich habe in einem solchen Staat gelebt. Wirtschaftlich sollten die Menschen höchste Leistungen vollbringen? d. h. sie mussten auf Hochtouren denken können? , und mit dem Heraustreten aus dem Arbeitsgebäude sollten sie dieses Denken verlernen, weil es politisch nicht erwünscht war. Dabei wurden sie Dissidenten oder Fatalisten. Wenn sie Fatalisten sind, dann bringen sie keine Leistung mehr. Und wenn sie Dissidenten sind, dann sitzen sie entweder im Gefängnis oder gehen in den Westen. - Das war die Situation in den sozialistischen Staaten.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und mit der Ausbreitung von Informationen bekamen jetzt aber auch Teile der Welt die Möglichkeit, an der wirtschaftlichen Entwicklung teilzunehmen, die wir früher nicht genau auf unserem Bildschirm hatten. Ich nenne hier China und Indien als Beispiele.

Jetzt stehen wir - ich spreche jetzt einmal in den Begriffen meiner Partei - vor der Frage: Was bedeutet Würde des Menschen? Was bedeutet christliches Menschenbild? Bedeutet das Entfaltung für uns in Deutschland? Bedeutet es Entfaltung für uns in der Europäischen Union? ? Ich bin davon überzeugt: Es bedeutet nicht nur das, sondern es bedeutet auch Entfaltung der Menschen in China, der Menschen in Indien und in Afrika. Also müssen wir uns dem Wettbewerb stellen.

Wir spüren aber alle, wie viele protektionistische Tendenzen es gibt. Aus meiner Sicht gibt es zum Wettbewerb, zur Offenheit, zu einem fairen Wettbewerb keine Alternative. Wieder stehen wir vor der gemeinsamen Aufgabe: Wie schützen wir denn das, was wir unsere Werte nennen?

Denn eins ist auch klar - das haben wir auch während des Kommunismus gelernt: Wenn Sie die Menschenwürde systematisch missachten, dann können Sie kurzfristig auch höhere ökonomische Erfolge erzielen. Wer sich dazu entschließt, geistiges Eigentum nicht zu achten, sondern einfach zu stehlen, der ist uns natürlich - zumindest temporär - überlegen. Deshalb müssen wir als die Länder Europas zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika und anderen dafür eintreten, dass der Schutz des geistigen Eigentums einer der unveräußerlichen Werte ist, auf die wir bestehen. Dann müssen wir uns aber auch so verhalten, und zwar gemeinsam - die, die wir uns den "gemeinsamen Westen" nennen. Denn diejenigen, die heute aufstreben, beobachten uns genau und bekommen genau mit, wann der Einzelne, der einzelne Betrieb oder der einzelne Staat um eines kleinen Geschäftes willen seine Prinzipien vergisst.

Deshalb ist es mir so wichtig, dass wir in Europa über unsere Werte diskutieren. Wir müssen darüber reden: Was ist unverzichtbar? Daneben sollten wir nicht schon die weiße Fahne hissen, wenn wir auch nur irgendeinen Angriff von außen sehen, sondern mutig und kämpferisch sein? wofür übrigens auch diejenigen, die diese Säle gebaut haben, viele Jahre gekämpft haben und eingetreten sind.

Unser Kontinent ist dem demographischen Wandel ausgesetzt. Andere auf der Welt sagen: Was hat der Wohlstand eigentlich gebracht? Er hat dazu geführt, dass ihr auf der langen Zeitachse Angst haben müsst, irgendwann auszusterben. Ist das ein erfolgreiches Gesellschaftsmodell? Diese Frage wird uns gestellt. Wir müssen diese Frage so beantworten, dass wir zumindest dazu fähig sind, diesem demographischen Wandel zu begegnen. Das geht auf der einen Seite dadurch, dass wir vollkommen umlernen. Lebenslanges Lernen ist eine schwierige Sache. Denn in Europa hat man sich daran gewöhnt, dass Autorität im Allgemeinen bei Älteren als denjenigen liegt, auf die Autorität wirken soll. Lebenslanges Lernen heißt aber nichts anderes - ich habe das beim Umstieg von der früheren DDR auf den Westen gelernt - , dass plötzlich die 25-Jährigen die 45-Jährigen unterrichten, dass die Jungen etwas wissen und die Alten es lernen müssen. Wir müssen versuchen, Lebenserfahrung mit Faktenerfahrung zusammenzubringen und lernen, dass völlig neue Hierarchien entstehen, dass der Chef plötzlich ein Student ist und dass man damit trotzdem kulturell klarkommt. So etwas hat Europa nach meiner Auffassung noch nicht gesehen.

Aber wenn wir dies nicht lernen, dann werden wir als Kontinent große Schwierigkeiten haben. Wir haben zwar noch einen anderen Ausweg: Wir haben die Integration. Aber mit der Integration tun wir uns ja auch schwer - auch wir Deutsche. Wir hatten Gastarbeiter in den 60er Jahren. Die deutsche Wirtschaft hatte damals darüber geklagt, dass bei Vollbeschäftigung die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Portugal und Spanien zu teuer wären, und dann hat man sich für Anatolier entschieden. Dann haben wir sie 30 Jahre oder 35 Jahre lang "Gastarbeiter" genannt. Irgendwann haben wir uns gewundert, dass die vierte Generation immer noch in Deutschland lebt. Irgendwann sind wir glücklicherweise dazu gekommen zu sagen: Dies sind Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben werden. Man muss wenigstens als Staat dafür sorgen, dass sie, wenn sie in die Schule kommen, auch ihren eigenen Lehrer verstehen können. Dass ein hoch entwickeltes Land dafür so lange braucht, ist auch eine interessante Erfahrung. Wir sind jetzt auf einem richtigen Weg, weil man sich damit abgefunden hat, dass in deutschen Schulen in der ersten Klasse erst einmal Deutsch gesprochen wird.

Wir haben oft auf die Niederlande gesehen. Hier wird Toleranz sehr groß geschrieben. Aber auch Sie haben - ich will mich nicht in niederländische Angelegenheiten einmischen? , erfahren, dass Indifferenz, dass Beliebigkeit und Toleranz zwei verschiedene Dinge sind. Deshalb glaube ich, dass Europa eine große Herausforderung spürt - das können wir in Frankreich sehen, aber auch in allen anderen Ländern: Was ist Toleranz im guten Sinne der Aufklärung? Auch das zu beantworten können wir als Länder nicht ganz allein schaffen, sondern hier müssen wir uns darüber austauschen.

Wenn es um wirtschaftliches Wachstum geht, dann spüren wir plötzlich, dass wir Wettbewerber haben, die uns im Nacken sitzen, und die Menschen plötzlich Angst bekommen. Mein Nachbar hier kommt von Siemens. BenQ ist eines dieser Stichwörter in Deutschland, bei dem plötzlich erkannt wird: Ich kann auf Geld verzichten, ich kann dazu bereit sein, länger zu arbeiten, doch das gibt noch lange keine Sicherheit.

Das Erfolgsrezept des deutschen Wirtschaftswunders war die Soziale Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft hat eine Sicherheit für die Menschen gebracht: Wenn es meinem Betrieb gut geht, dann geht es auch mir als Arbeitnehmer gut. Diese Sicherheit gibt es in der Globalisierung nicht. Es kann dem Arbeitnehmer in China sehr gut gehen. Das heißt noch lange nicht, dass es dem Arbeitnehmer in Deutschland bei der gleichen Firma gut geht.

Wie schaffen wir wieder diese Sicherheit, die aus der Motivation erwächst, auch neue Herausforderungen anzunehmen? Natürlich sind wir in Europa auch ein bisschen bequem geworden und haben gedacht: Wirtschaftswohlstand - das ist so etwas wie ein Rechtsanspruch, den man sich fast per Beschluss irgendwo verankern kann. Wir erleben heute aber, dass man jeden Tag darum kämpfen muss.

Jetzt habe ich die Themen Energie und vieles andere noch gar nicht angesprochen. Ich glaube nur: Wir begegnen in Europa den gleichen Problemen. Das spürt Deutschland. Das spüren die Niederlande. Ich bin der festen Überzeugung: Wir können diese Probleme nur lösen, wenn wir gemeinsam agieren. Deshalb brauchen wir die Europäische Union? nicht, um wieder irgendeine Sonnenschirm-Richtlinie zu bekommen, nicht, damit wieder irgendein Küstengebiet unter Naturschutz gestellt wird, an dem jemand eine kleine Werft bauen wollte, und nicht dafür, dass auf der nächsten Weinflasche nun auch noch steht, dass das alles so ungesund ist, nachdem wir es schon auf den Zigaretten sehen. Dafür brauchen wir Europa nicht. Europa ist ein Europa der selbstbewussten Menschen, die durchaus ein Stück weit allein entscheiden können. Aber es müssen die Interessen für unsere grundsätzlichen Werte gebündelt werden.

Da sitzt ja nun ein Mann an der Stelle, an der eine Frau sitzen sollte, wie ich das heute Abend verstanden habe. Diese Frau, die da nicht sitzt, entscheidet wahrscheinlich gerade wieder eine Frage über den Wettbewerb und wie wir den Wettbewerb so gestalten, dass er den freien Bürgern Entfaltung lässt und trotzdem nicht scharenweise Menschen in unseren Ländern an den Rand stellt. Das ist die eigentliche Herausforderung des europäischen Modells.

Deshalb, meine Damen und Herren, sage ich Ihnen: Wir können das allein nicht schaffen. Aber wir können das in Europa schaffen, wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, wenn wir uns im Gespräch mit anderen, die unsere Werte nicht teilen, für diese Werte einsetzen, wenn wir nicht jedes billige Geschäft machen, ohne auch ein paar Wertekonditionen zu bekommen, wenn wir aber auf der anderen Seite auch nicht zu prinzipiell werden, weil wir unsere Art zu leben nicht als die allein selig machende verstehen dürfen.

Da ich der Überzeugung bin, dass wir das nur gemeinsam schaffen, bin ich sehr dankbar, heute Abend hier bei Ihnen zu sein. Denn in den Niederlanden - "die" Niederlande gibt es so wenig wie "das" Deutschland - findet sich eine Vielfalt von agierenden Personen, die sich die gleichen Gedanken machen, die die gleichen Probleme sehen und die bereit sind, für die gleichen Lösungen einzustehen.

Herzlichen Dank, dass ich heute Abend hier sein durfte.