Redner(in): Angela Merkel
Datum: 01.11.2006
Untertitel: am 1. November 2006 in Frankfurt an der Oder
Anrede: Sehr geehrter, lieber Günter de Bruyn, liebe Frau Zeplin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Matthias Platzeck, Herr Schönbohm, Regierungsmitglieder, Abgeordnete, Herr Baring als Laudator, werte Festversammlung!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/11/2006-11-01-rede-bkin-bruyn,layoutVariant=Druckansicht.html
Lieber Herr de Bruyn, ich gratuliere Ihnen ganz, ganz herzlich zu Ihrem 80. Geburtstag! Es ist mir eine große Ehre und Freude, als Bundeskanzlerin, aber auch als Angela Merkel, dies hier heute tun zu dürfen.
Dies ist ein besonderer Tag heute: "Mit 80 gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen." Das haben Sie in Ihrer "Zwischenbilanz" geschrieben. Ich will dieser Bilanz selbstverständlich heute hier nicht vorgreifen. Zu vielschichtig und facettenreich ist Ihr Lebenswerk, als dass meine Redezeit für eine treffende Bilanz ausreichen würde. Zu herausragend ist Ihr Sprachgefühl, Ihre Sprachfähigkeit, als dass diese Bilanz auch nur annährend so eloquent ausfallen könnte wie bei Ihnen.
Aber ich möchte sagen, warum ich heute hier gerne zu Ihnen spreche. Ich fühle mich Ihnen nicht nur durch die Lektüre Ihrer Werke sehr verbunden. Diese Verbundenheit ist auch gewachsen durch wenige, aber sehr intensive persönliche Begegnungen mit Ihnen. Ich denke gerne an Ihre Lesung im September 2003 in Alt Placht zurück.
Wir teilen viele Erfahrungen: Das Leben in der DDR, die Sehnsucht nach Freiheit, der Stellenwert der Religion, die Bindung an die märkische Heimat. All das ist Grund genug, auch ganz persönlich heute gerne zu gratulieren. Aber ich bin mir sicher, für viele, viele andere ‑im Übrigen in Ost und in West‑ sagen zu können: Sie haben uns großartige Literatur geschenkt. Sie verführen mit Ihrer phantasievollen Sprache zum Träumen. Ihr Lebenswerk ist eine große Gabe an die Kulturnation Deutschland. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
In Ihren Büchern finden sich viele Erklärungen der Geschichte und Gegenwart unseres Landes. Sie machen Verborgenes der preußischen und brandenburgischen Geschichte sichtbar. Sie schenken Unbeachtetem des sozialen und politischen Alltags in der DDR Beachtung. Sie führen auseinander laufende Fäden unserer gesamtdeutschen Gegenwart immer wieder zusammen. So z. B. auch beim Verhältnis von Literatur und Politik, was naturgemäß kein leichtes ist- schon gar nicht, wenn wir uns die Geschichte unseres Landes im 20. Jahrhundert vergegenwärtigen. Die Zeit des Nationalsozialismus hat Sie zu einem ‑ich zitiere‑ "politischen Analphabeten" werden lassen. So habe ich es in Ihrer "Zwischenbilanz" gelesen. Nach den Schrecken dieser Zeit war, auch zu Beginn der DDR, Ihr "Interesse an Politik gering", wie Sie schreiben.
Keine Frage: Sie, der preußische Katholik, waren und sind im besten Sinne des Wortes unabhängig. Genau diese geistige Unabhängigkeit befähigte Sie, die Schrecken in der Zeit des Nationalsozialismus und die 40Jahre Diktatur in der DDR auszuhalten. Sie entwickelten die Kraft zu träumen, zu schreiben, zu leben, ohne sich anzupassen. Ob Biermann-Ausbürgerung, Abrüstungsdiskussion oder Ablehnung des DDR-Nationalpreises ‑immer wieder haben Sie Ihre Ansichten still, aber nie vage kundgetan. Sie sind ein Meister der leisen, tiefgründigen Töne. Wunderbar ist, dass Ihnen dabei der Humor nie verloren gegangen ist.
Sie haben dem Denken der Herrschenden niemals die Herrschaft über Ihr eigenes Denken gegeben. Sie können aus meiner Sicht Unbeschreibliches beschreiben, z. B. Glück. So auch in der Erzählung "Fedezeen". Mittelpunkt dieses modernen Märchens sind "Glücksteiche". Tief in den Wäldern sind diese Glücksteiche aus den Tränen einer verfluchten Prinzessin entstanden. Wer darin schwimmt, wird mit Glück überschüttet. Sie schreiben - ich zitiere: "Glück war das Leben an den Teichen, fern der Stadt, fern ihrem Lärm aus Lautsprechern und Fanfaren, ihren uniformierten Horden, fern von Schule, Benzingestank und Kommandos. Großvater wusste: Viele litten wie wir, aber keine außer uns beiden kannte den Ausweg ins Glück, die Wälder, die Teiche." - Ende des Zitats.
Hier zeigt sich viel von der Genialität, mit der Sie es geschafft haben, Ihre Kritik am SED-Regime deutlich zum Ausdruck zu bringen. Auch wenn Sie nie politisch sein wollten, so sind Sie dennoch -zum Teil jedenfalls- zu einem politischen Autor geworden. Mit Ihrer Wachsamkeit, Ihrer Skepsis und Wahrhaftigkeit haben Sie Ihre Überzeugungen in bester aufklärerischer Tradition in künstlerische Form gegossen. So sind Ihre Bücher auch für andere eine Anleitung für den Gebrauch des eigenen Verstandes, für Wachsamkeit, für Wahrhaftigkeit und für die Liebe zur Freiheit. Auch seit der Deutschen Einheit sind Sie ein politischer Autor geblieben: Kein Mensch, der Politik macht, wohl gemerkt -aber doch einer, der sie beobachtet und sich immer wieder zu Wort meldet, wenn er es für nötig hält.
Lieber Herr de Bruyn, ich danke Ihnen für Ihren Glauben an die Deutsche Einheit und für Ihr Eintreten für die Freiheit zu einer Zeit, als beides so unendlich fern schien. Ihr Beitrag zur Gestaltung des wiedervereinigten Deutschlands ist herausragend. Sie haben sich auf unvergleichliche Weise nicht nur um die literarische Kultur, sondern auch um die politische Kultur in unserem Land verdient gemacht.
Identität und Halt gibt Ihnen dabei die Verbundenheit mit der märkischen Heimat. Ich kann das gut verstehen. Damit zeigen Sie: Region und Nation, Patriotismus und Weltoffenheit sind keine Gegensätze. Ich sage sogar: Sie bedingen sich gegenseitig. Uns beide eint - wie viele andere hier auch - die Liebe zur Mark Brandenburg. In Ihren Büchern finde ich vieles, was ich aus meiner Kindheit kenne und liebe: Die Menschen, die Kultur, die Landschaften, die Alleen, Dörfer und Seen. In Ihren Wanderungen und Erzählungen nehmen Sie uns und mich gleichsam an die Hand und zeigen uns die Heimat auch von völlig neuen Seiten.
Ihre Wurzeln waren und sind stark - auch deshalb sind Sie in der DDR geblieben, obgleich das Ringen um Gehen oder Bleiben schmerzhaft war, wie wir in Ihrem Werk "Vierzig Jahre" nachlesen können. Geholfen hat Ihnen dabei immer die Literatur. Sie war Ihr Schutzraum gegenüber einer nur als schwer erträglich empfundenen Realität. So sind wunderschöne Werke wie der "Märkische Dichtergarten","Abseits","Mein Brandenburg" oder "Unter den Linden" entstanden. Sie zeigen das ganze kulturhistorische Panorama Berlins und Brandenburgs zwischen "Waldeinsamkeit" und "Großstadtleben", zwischen "märkischem Sand" und "Beton".
Ihre Bücher sind Werke gegen das Vergessen und es sind Werke gegen die Unwissenheit. Ihre Bücher sind Werke für Bodenhaftung und für eine Neuentdeckung der Heimat. Das macht sie zu einem wertvollen Wegweiser in einer für viele immer unübersichtlicher werdenden Welt -ein Wegweiser, der uns hilft, die Zeitläufe, unser Leben, ja uns selbst in unserem Streben nach Glück besser zu verstehen.
Aber was braucht der Mensch zum Glücklichsein? Ihr literarisches Vorbild Theodor Fontane hat darauf einmal geantwortet - ich zitiere: "Ein gutes Buch, ein paar Freunde, eine Schlafstelle und keine Zahnschmerzen." Auch wenn die Antwort zugegeben etwas lapidar ausfällt, so ist sie doch treffend. Günter de Bruyn hat mit seinen Büchern der deutschen Kulturnation viele glückliche Momente voller sprachlichen und geistigen Genusses beschert. Lieber Herr de Bruyn, ich danke Ihnen dafür und ich verneige mich auch ein Stück vor Ihrem Schaffen -reich an Phantasiereisen, reich an Landschaftsreisen und reich an Bildungsreisen.
Mit Freude habe ich die letzten Worte in Ihrem jüngsten Buch "Als Poesie gut Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807" gelesen: "Ende des ersten Teils" steht dort geschrieben. Ich freue mich auf den zweiten Teil und weitere Fortsetzungen.
Ich wünsche Ihnen nicht nur heute ein paar schöne Stunden, sondern auch Gesundheit, Wohlergehen und Gottes Segen!