Redner(in): Michael Naumann
Datum: 20.04.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/14813/multi.htm


KUNST & KULTUR: Jüngst warnten Sie vor Kulturpolitikern mit Visionen, weil diese danach trachteten, unweigerlich ihre Visionen umzusetzen. Bevor Sie Ihr Amt als Kulturminister antraten, erlebte man einen Michael Naumann, der durchaus kulturpolitische Visionen verbreitete. Hat Sie Ihr Amt dahin gebracht, Steinchen auf Steinchen zu bauen?

MICHAEL NAUMANN: Nein, ich habe schon zu Wahlkampfzeiten gesagt: Hüten Sie sich vor Kulturpolitikern mit Visionen, wenn damit ästhetische oder künstlerische Projekte gemeint sind. Es ist nicht die Aufgabe von Politikern, die zu hegen, sondern es ist ihre Aufgabe, die Möglichkeiten dafür zu schaffen, damit andere - Maler, Regisseure, Musiker, andere, deren Beruf es ist, diese Visionen zu entwickeln - das auch können. Wenn Sie aber von politischen Plänen sprechen, diese Podien bereitzustellen, zu fördern und die Erinnerung daran zu pflegen, was andere zuvor geleistet haben, dann habe ich allerdings Pläne, sogar eine Menge. Die sind zum Teil auch schon realisiert.

Die Gespräche mit der IG Medien über die Umgestaltung des Künstler-Sozialversicherungsgesetzes gehören dazu?

Monika Papke, Wolfgang Schimmel und Gerd Nies haben eine Fülle von Vorschlägen zur Neugestaltung des Gesetzes eingebracht, die - davon gehe ich aus - zum Teil auch berücksichtigt werden. Die letzte Entscheidung hat der Bundestag.

Bei einem der zurückliegenden Gespräche fiel Ihrerseits das Wort von "Scheinselbstständigen". Muss das Wort für Künstler und alle mit Kultur Befassten nicht zynisch klingen?

Was ich gesagt habe, hat eigentlich nur das widergespiegelt, was ein Mitarbeiter der IG Medien zu diesem Thema sagte: nämlich, dass die plötzliche Zunahme der Mitglieder in der Künstlersozialkasse auch etwas zu tun hat mit dem so genannten "Outsourcing" von Mitarbeitern aus den Betrieben, den Verlagen, Medienfirmen, Zeitungen... . von Schauspielern, Grafikern, Musikern. . .

Nein, ich rede nur von denen in den Verlagen. Auf Grund der veränderten Arbeitswelt ist es oft aus Kostengründen nützlicher für große Unternehmen, Lektoren und andere - ein furchtbares Wort - "outzusourcen" ". Manche fallen da in ein soziales Nichts. Und mit dieser Entwicklung, die übrigens in den letzten Jahren auch von den Finanzämtern in einigen großen Häusern gestoppt worden ist, hat es denn auch - da sind wir durchaus noch im Dissens mit der IG Medien - einen" Zuwachs " in der Künstlersozialkasse gegeben, einen Zuwachs durch einen Personenkreis, der vom Gesetzgeber ursprünglich nicht gemeint war.

Wen meinen Sie?

Als das Gesetz 1983 verabschiedet wurde, waren Lektoren nicht die Zielgruppe des Gesetzgebers. Jetzt sind sie plötzlich Nutznießer der Künstlersozialkasse. Es stellt sich die Frage, ob die Verlagerung dieser sozialpflichtigen Beiträge, die in der Vergangenheit von Unternehmen gezahlt wurden, umdefiniert und auf den Staat umgelagert werden kann. Es handelte sich um eine Summe von 26 Millionen Mark, und da hat der Staat gesagt: Das war nicht der Sinn des Gesetzes, deshalb muss novelliert werden.

Von Seiten der Verwerter war zu hören, dass es womöglich dagegen eine Verfassungsklage geben könnte. . .

Es gibt eine einzige Verwertergruppe, die sich gegen die Erhöhung der Hebesätze auf vier Prozent wehrt, und das ist die Fono-Industrie. Bei der ursprünglichen Verabschiedung des Künstler-Sozialversicherungsgesetzes zog auch eine Sparte vor das Verfassungsgericht: die Verlage. Und die haben dort verloren.

Also keine Besorgnis?

Wer will schon, dass die Gesetzgebung von Verfassungsklagen begleitet wird? Andererseits ist das in Deutschland fast schon so üblich wie der Gang zum Amtsgericht. Ich glaube nicht, dass eine Klage eine Chance haben wird. Aber im Vor - Vorfeld wird es mit der Fono-Industrie Gespräche geben.

Ist es denkbar, dass als Ergebnis dieser Gespräche der Hebesatz abgesenkt wird, etwa auf drei Prozent? Und muss nicht darauf hingearbeitet werden, die Künstlersozialversicherung für neue Berufe zu öffnen, weil sich die Medienlandschaft rasant verändert hat?

Sicherlich hat sich die Medien- und die Kunstlandschaft verändert. Gleichzeitig sind Gewinne und Umsätze in der Medienlandschaft exorbitant in die Höhe geschossen. Hier werden riesige Summen bewegt und Menschen in enormer Zahl beschäftigt. Warum soll der Staat in eine Sozialversicherungspflicht genommen werden, für die nach unserem Verständnis die Arbeitgeber eintreten müssten? Ich bin wirklich gespannt auf ein "gewerkschaftliches" Argument, speziell der IG Medien, warum Arbeitgeber aus ihren Pflichten entlassen werden sollen.

Weil der Gesetzgeber offenbar nicht wahrhaben will, dass die Zahl derer gewachsen ist, die sich freiberuflich künstlerisch betätigen oder ihre Tätigkeit so definieren.

Aber die haben doch Abnehmer. Tatsache ist doch: Die Eigenverwertung hat ab- , die Fremdverwertung zugenommen. Wer verwertet? Eine zunehmende Zahl von Unternehmen. Und die sollen plötzlich nicht mehr in der Sozialverpflichtung sein?

Nehmen wir zum Beispiel einen Menschen, der an seinem PC Plakate entwirft. Der Qualität seiner Arbeit verdankt es sich, dass er beispielsweise immer wieder von einer städtischen Musikschule Aufträge für Plakate, Handzettel und Programme bekommt. Er tut das also in einem fast abhängigen Beschäftigungsverhältnis. Ist er also ein Scheinselbstständiger? Muss ihn die städtische Musikschule versichern, die sich das nicht leisten wird und kann? Es geht auch um die kommunale Kultur, um die Befürchtung, dass vor allem in den neuen Bundesländern durch die Novellierung des Künstler-Sozialversicherungsgesetzes Schaden entstehen könnte. Dort gibt es unglaubliche Arbeits- und Existenzbedingungen für Künstler, die sich - so die Angst - weiter verschlechtern werden, wenn man die kommunalen Auftraggeber stärker in die Zahlungspflicht nimmt.

Der Bund - und schon gar nicht diese Regierung - wird sich nicht aus seiner sozialpolitischen Verantwortung stehlen. Die Künstlersozialversicherung wird auch in Zukunft für diese Menschen bezahlen. Einer nämlich ist von dieser Debatte nicht gefährdet: der Künstler. Was zur Debatte steht, ist die Rolle des Verwerters. Jetzt haben Sie eine städtische Schule genommen. Aber nehmen Sie doch einmal einen Konzern, einen großen Nutznießer von künstlerischer und publizistischer Leistung. Wir wollen, dass der kompensiert, was an Mehrkosten durch die arbeitspolitische Veränderung auf die Künstlersozialversicherung zugekommen ist. Hier geht es nicht darum, dass der Künstler, der Publizist mehr zahlen soll. In dem Gesetz war seinerzeit auch vorgesehen, dass der Bund seinen Beitrag von 25 Prozent überprüft und anpasst - im Zusammenhang mit den Anteilen der Eigen- und Fremdverwertung. Es gibt einen Dissens unter den Beitragszahlern, Bund und Verwertern. Er besteht ganz unabhängig von den Künstlern. Die IG Medien sollte ihre Mitglieder darauf aufmerksam machen, dass es um Unternehmen geht, bei denen viele dieser Mitglieder früher einmal beschäftigt waren, bevor sie "outgesourct" wurden. Diese Unternehmen müssen jetzt die politischen Konsequenzen tragen. Einige haben das bereits getan - auch unter dem Druck der Finanzbehörden - und sind wieder zu Festeinstellungen übergegangen. Das ist doch ein positives Ergebnis.

Festeinstellungen werden die Ausnahme bleiben. . .

Das muss man sehen.

Die Befürchtung rührt ja auch daher, dass sich die Rahmenbedingungen für Künstler generell verschlechtern. Das spürt man auch hier in Berlin, wo zu DDR-Zeiten immer vom "Schaufenster der Republik" die Rede war. Ist der Eindruck richtig, dass die Schaufenster-Metapher, wonach Berlin kulturell besonders gestärkt wird, wieder auflebt?

Nicht alles, was in der DDR gesagt wurde, war Nonsens. Außerdem: In Berlin sind aus historischen Gründen mehr Kulturinstitutionen pro Quadratmeter versammelt als anderswo. Diese Institutionen absterben zu lassen, kann niemand im Sinn haben. Was immer übersehen wird: In Deutschland gibt es kein kommunales Ballungszentrum von der Größe Berlins. Wenn hier absolut mehr Geld für Kultur ausgegeben wird, liegt das auch daran, dass hier absolut mehr Menschen wohnen als etwa in Wuppertal. Um diesen schlichten Sachverhalt im individuellen, föderalistisch geprägten, politischen Gemüt zu verankern, bedarf es hin und wieder solcher Metaphern wie "Schaufenster". Das hat nichts mit Prunk und Angeberei zu tun. Anders ausgedrückt: Dies ist ein Schaufenster zu uns selbst. Wenn Kunst und Kultur nichts anderes tun als Formen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses auszuprobieren, dann öffnet dieser Prozess ein Fenster zu unserem eigenen Selbstverständnis, durch das man selbst schauen kann, aber auch das so genannte Ausland. Also ist die Metapher ganz nützlich.

Nun ist in diesem Schaufenster einiges in Unordnung. . .

Die Dekorateure sind sich uneinig, das kann man wohl sagen.

Was haben Sie gedacht, als Sie vom Berliner Bürgermeister in Richtung Künstler benutzte Wort, , abgelatscht " hörten?

Da habe ich an Kötzschenbroda gedacht. Selbst wenn der Bürgermeister von Kötzschenbroda das gesagt hätte, wäre ich nie darauf gekommen, dass man so etwas sagen könnte. Ich bin immer noch völlig fassungslos.

Alles deutet darauf hin, dass Berlins Theater-Topografie Einbrüche hinnehmen muss.

Das glaube ich nicht. Und wenn so etwas käme, wäre es auch eine Bilanz der Kulturpolitik des geschiedenen Senators Radunski. Der Senat hatte zehn Jahre lang nach der Schließung des Schillertheaters die Chance, eine Strukturreform, auch eine arbeitspolitische, zu organisieren - samt der Vorschläge, die jetzt auf dem Tisch liegen. Auch die sind so alt wie das Brandenburger Tor, nämlich ziemlich alt. Aber es ist nichts geschehen in Berlin. Schon 1991 hat Ivan Nagel hier ein Papier vorgelegt, wie man die Maläse beheben kann.

Nagel hat damals befürchtet, drei Theater stünden zu Disposition. . .

Ja, von Seiten Berlins. Heute kann man im Lichte der scheinbaren kulturellen Unterfinanzierung in der Stadt sagen, verschiedene Formen der Synergie im Bereich der Theaterwerkstätten und der Verwaltungen, der Abrechnung, des Kartenverkaufs und anderer, unendlich vieler Möglichkeiten hätten in Angriff genommen werden können - ohne künstlerische Verluste. Das wird nun die Aufgabe von Herrn Stölzl sein. Ich hoffe, dass Antrittskonditionen vereinbart wurden, die es ihm ermöglichen, die Strukturreformen - die ja nicht sofort, sondern erst über die Jahre Kostensenkungen bringen werden - in Angriff zu nehmen.

Wird sich der Bund noch stärker in Berlin engagieren?

Vielen Dank für das "noch". Die Stärke und der Umfang unseres Engagements werden immer übersehen. Unser Angebot ist ganz klar: Berlin hat einen Kulturetat von etwa 720 Millionen Mark, der Bund zahlt für das Kulturleben dieser Stadt inklusive der Strukturkosten für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz - vor allem für den Aufbau der Museumsinsel - 463 Millionen Mark, das heißt: Mehr als die Hälfte des Berliner Kulturetats wird noch einmal vom Bund hinzu gelegt. Wir haben in der Periode zwischen 2000 und 2003 einen fast 20-prozentigen Anstieg unserer Unterstützung für das Kulturleben Berlins - bei einem gleichzeitigen Sanierungsprozess des Bundeshaushalts von 12,5 Prozent. Was wiederum bedeutet: Der Bundeshaushalt, zu dem ich mit meinem Haushalt gehöre, wird um 12,5 Prozent reduziert. Meiner auch! Und trotzdem erhöht der Bund die Zahlen für Berlin um 20 Prozent. Mehr ist - auch im Namen des Föderalismus - nicht drin. Das wissen die Berliner, und das werde ich ihnen immer wieder sagen, wenn sie behaupten, der Bund tue nicht genug für Berlin. Das hätte man in den Jahren, als die alte Regierung mehrere Milliarden der Zuwendungen für Berlin kürzte, sagen können. Da man aber unter Parteifreunden war, hat Herr Diepgen diesen Konflikt nicht gewagt. Herr Kohl hat ihn ausgesessen. Der Stadt Berlin sind etwa vier Milliarden Mark an Bundessubventionen verloren gegangen. Das Lamento jetzt, da die neue Regierung in Berlin ist, der Bund tue nicht genug für diese Stadt, ist - um es zurückhaltend zu formulieren - Desinformation.

Werden Sie auf die Strukturen einwirken, in dem Sie Bedingungen stellen, was die Effizienz betrifft, wie die Bundesgelder einzusetzen sind?

Nein. Ich bin doch nicht der Kultursenator. Wir werden allerdings versuchen, eine Reihe von Kulturinstitutionen 100-prozentig zu finanzieren, um so für das Prinzip von Haushaltswahrheit und -klarheit zu sorgen: das Jüdische Museum, die Berliner Festspiele, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, das Haus der Kulturen der Welt und möglicherweise das Philharmonische Orchester. Das wird sich herausstellen: Das Orchester selbst wünscht die Trägerschaft des Bundes, das ist eine deutliche Aussage. Dann gibt es noch andere Projekte, zum Beispiel den Gropiusbau. Da wird jetzt neu verhandelt.

Berlin ist noch eine Insel der Glückseligen, vergleicht man das Kulturangebot mit den Schließungen und Einbrüchen drum herum, etwa in Frankfurt / Oder. Was tun?

Das müssen Sie mit dem Oberbürgermeister von Frankfurt diskutieren. Die neue Regierung hat die Zuwendungen für die neuen Länder enorm angehoben, nämlich verdoppelt. Darüber hinaus haben wir das Investitionsförderungsgesetz erweitert: In Zukunft werden auch Investitionsprojekte für Kulturinstitutionen - etwa Theaterrenovierungen - zur Verfügung stehen. Zum Beispiel sind zusätzlich zu den 100 Millionen Mark, die der Bund nach Sachsen gibt, noch mal 20 Millionen gekommen, die der Kulturminister aus dem Aufbauprogramm Ost abzweigen konnte. Die sind früher in den Straßenbau gegangen. In Sachsen kann ich vor meinem Kollegen nur den Hut ziehen, der das geschafft hat. Auch in Sachsen-Anhalt geht man so vor. Gerd Harms, der dortige Kultusminister, hat dort zum ersten Mal ebenfalls aus dem Aufbauprogramm Ost mehrere Millionen Mark für die Kultur abzweigen können. Wir haben jedenfalls Instrumente zur Verfügung gestellt, Haushaltsklippen zu umschiffen. Warum die Instrumente offenbar in anderen Bundesländern nicht genutzt werden, das müssen Sie die Länder selbst fragen.