Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 03.11.2006
Untertitel: Es gilt das gesprochene Wort!
Anrede: Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/11/2006-11-3-rede-chefbk-bundesrat,layoutVariant=Druckansicht.html
Herr Präsident, im Namen der Bundeskanzlerin und der gesamten Bundesregierung überbringe ich Ihnen die besten Glückwünsche zu Ihrer Wahl. Ich verbinde dies mit der Hoffnung auf eine weiterhin gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern.
Zugleich gilt mein Dank dem scheidenden Bundesratspräsidenten, Ministerpräsident Carstensen, dessen Amtszeit das erste Jahr der neuen Bundesregierung begleitet hat. Für die konstruktive Zusammenarbeit möchte ich Ihnen und dem ganzen Haus herzlich danken. Viele wichtige Projekte wurden auf den Weg gebracht und abgeschlossen.
Ihre Amtszeit war mit einem bedeutenden gemeinsamen Projekt von Bund und Ländern verbunden: der Föderalismusreform I. Die jahrelangen Vorbereitungen konnten vielleicht nur unter der günstigen Konstellation der Großen Koalition zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden.
Mit diesem Reformwerk haben wir die bundesstaatliche Ordnung neu ausgerichtet und Wege für neue Gestaltungen geöffnet. Die Entflechtung von Zuständigkeiten wird nicht nur zu mehr Transparenz und klaren Verantwortlichkeiten führen. Sie wird auch, wenn wir es richtig anpacken, den für das gesamte Gemeinwesen förderlichen Wettbewerb der Ideen und Konzepte stärken. Das ist kein Plädoyer für einen puren Wettbewerbsföderalismus. Aber wenn jetzt die Länder z. B. den Ladenschluss selbst regeln können, dann ist das ein guter Wettbewerb zwischen ihnen. Wir bewegen uns damit ein Stück weg von der Beteiligung an der Bundesgesetzgebung hin zu mehr Eigenverantwortung der Länder. Lösungen eigeninitiativ umzusetzen und zu erproben ist entschieden einfacher, als den Bund und 15andere Länder von einer bundeseinheitlichen Regelung zu überzeugen das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.
Auch nach dieser Reform wird es ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Gesetzgebung geben. Ich möchte das nicht bedauern: Unser Föderalismus trägt ganz wesentlich zu einem freiheitlichen, lebendigen, vielgestaltigen und innovationsfähigen Gemeinwesen bei. Wir sind gemeinsam aufgerufen, diese Entfaltungskraft regionaler Bindungen und Interessen ebenso auszuschöpfen wie die Fähigkeit zu Konsensbildung und gesamtstaatlicher Verantwortung.
Im Bundesrat vertreten die Länder ihre Interessen. Aber der Bundesrat ist nicht die Ministerpräsidentenkonferenz. Der Bundesrat ist ein Bundesorgan. Deswegen hat der Bundesrat, ob er es will oder nicht, auch gesamtstaatliche und Bundesverantwortung.
Neben dem Wettstreit gehört zur bundesstaatlichen Ordnung die bundesstaatliche Solidarität. Die Stichworte hierfür lauten Länderfinanzausgleich im Allgemeinen und Solidarpakt I und II im Besonderen. Beides ist bis einschließlich 2019 befristet.
Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dennoch Mängel in der Finanzarchitektur zwischen Bund und Ländern und zwischen den Ländern gezeigt. Auf die Reform der Zuständigkeitsverteilung wird daher wie zwischen uns verabredet unter der Überschrift Föderalismusreform II das Gespräch zu den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern folgen. Ganz wesentlich wird es dabei um das Thema Vorbeugung vor zu viel Schuldenaufnahme und um die Bewältigung von Haushaltskrisen gehen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Berlin-Entscheidung vom vorvergangenen Donnerstag mit Nachdruck die Eigenverantwortung der Länder hervorgehoben. Das ist ein Eckpunkt für die geplante Neuordnung.
Ebenso sollten wir mit den FöderalismusII-Gesprächen die Staatsaufgaben einer kritischen Prüfung unterziehen und auch die Frage nach mehr Effizienz und Bündelung von Verwaltungsaufgaben stellen.
Beide Themen bilden insgesamt ein äußerst ambitioniertes Projekt. Die Vorarbeiten dazu haben bei Bund und Ländern begonnen und werden vorangetrieben.
Sicher sind zu all diesen Themen die Meinungen noch sehr unterschiedlich. Das sollte aber kein Hinderungsgrund sein, dieses Reformvorhaben ernsthaft anzugehen mit dem Ziel, es in dieser Legislaturperiode abzuschließen. Im Dezember wird die Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der Länder das weitere Verfahren erörtern. Ich erhoffe mir, dass bei dieser Gelegenheit mit den Ländern ein Fahrplan für die Reform aufgestellt werden kann.
Meine Damen und Herren,
Bund und Länder sind gemeinsam aufgefordert, die Grundlagen unseres Wohlstandes wie auch die Chancen der kommenden Generationen zu sichern.
Dabei haben wir Grund, angesichts der erfreulichen Nachrichten dieses Jahres zuversichtlich zu sein: Wir erwarten in diesem Jahr ein Wachstum von 2,3 Prozent. Das ist der beste Wert seit dem Jahr 2000 und der drittbeste seit der Wiedervereinigung Deutschlands überhaupt. Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen mit einem Wachstum in dieser Höhe. Vor einem Jahr lag ihre Prognose noch bei 1, 2Prozent für 2006. Die positive Konjunktur wirkt nun allmählich auch auf den Arbeitsmarkt. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Oktober um über 470.000 unter dem Stand des Vorjahres. Das ist der stärkste Rückgang seit der Wiedervereinigung.
Die Bundesregierung hat in den vergangenen zwölf Monaten zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Dabei hat sie sich auf eine konstruktive wenn auch zuweilen kritische Begleitung durch den Bundesrat verlassen können.
An erster Stelle zu nennen ist dabei der von der Regierung eingeschlagene Konsolidierungskurs. Er zeigt erste Erfolge: Erstmals seit fünf Jahren ist Deutschland wieder in der Lage, den Europäischen Stabilitätspakt einzuhalten. Das Defizitverfahren gegen Deutschland ruht und wir können davon ausgehen, dass es angesichts der Haushaltsentwicklung nächstes Jahr eingestellt wird.
Weiter haben wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gestärkt: mit einem Mittelstandsentlastungsgesetz, mit der Beschleunigung von großen Infrastrukturvorhaben und mit einem neuen Ansatz beim Bürokratieabbau. Die Bundesregierung wird mit der Einführung des Standardkostenmodells erstmals Bürokratiekosten konkret beziffern können. Der Normenkontrollrat soll uns allen helfen, um weitere Freiräume für Bürger und Wirtschaft zu schaffen und Bürokratiekosten zu senken. Und es ist nur konsequent, dass wir auch auf europäischer Ebene auf Bürokratieabbau hinwirken werden. Die geplante Reform der Unternehmensteuer schafft die Voraussetzungen für internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und für mehr Investitionen in Deutschland. Die steuerliche Erleichterung der Unternehmensnachfolge wird Arbeitsplätze gerade auch im Mittelstand sichern, die ansonsten durch die erbschaftssteuerliche Belastung gefährdet wären. Zu einer weiteren Entlastung der Unternehmen und der Arbeitnehmer wird die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung zum 1. Januar 2007 führen.
Mit neuen Ansätzen zur Arbeitsmarktpolitik werden wir weitere Beschäftigungs-potentiale ausloten: durch eine Reform des Niedriglohnsektors, eine Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik sowie die Förderung älterer Arbeitssuchender.
Eine besonders dringliche Herausforderung, die wir in enger Abstimmung mit den Ländern bewältigen müssen, ist die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Die Rente mit 67 ist im Grundsatz beschlossen. Der Gesetzentwurf folgt Ende November.
Und die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche den Gesetzentwurf zur Gesundheitsreform beschlossen, der sich nun im parlamentarischen Verfahren befindet. Wir wollen ein Gesundheitswesen, das dauerhaft finanzierbar bleibt. Wir brauchen mehr Wettbewerb im Gesundheitssystem, damit auch in Zukunft medizinische Versorgung auf hohem Niveau für alle möglich bleibt, und wir wollen damit beginnen, dass die Belastung der Arbeitskosten von den Beitragskosten abgekoppelt wird.
Es ist uns gelungen, in dieser äußerst schwierigen Materie innerhalb eines
überschaubaren Zeitraumes von wenigen Monaten eine Lösung vorzulegen. In vielen anderen Ländern hat dies wesentlich länger gedauert. Bitte konzentrieren wir uns in den Beratungen jetzt auf die Sache und auf das Gemeinwohl, nicht auf alle, die jetzt um ihre Besitzstände fürchten.
Für die Bundesregierung darf ich Ihnen mitteilen, dass wir in Gesprächen mit den Ländern am gestrigen Abend einen Streitpunkt gelöst haben, der seit der Verabschiedung der Hartz IV-Reformen die Finanzbeziehungen zwischen dem Bund und den Ländern belastet hatte. Und der im vergangenen Jahr kurz nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung einer nur vorläufigen Lösung zugeführt werden konnte. Ich meine die Aufteilung der Kosten für Unterkunft und Heizung für Bedarfsgemeinschaften im Rahmen des Arbeitslosengeldes II.
Die Einigung des gestrigen Abends sieht wie folgt aus:
1. Der Bund beteiligt sich mit einer Quote von 31,8 % an den Kosten der Unterkunft. Die vorläufige Regelung dieses Jahres betrug 29,1 % . Die verabredete Quote von 31,8 % entspricht einer Kostenbelastung für den Bund in Höhe von 4,3 Mrd. Euro.
2. Für die kommenden Jahre gibt es eine Gleitklausel: Steigt die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften, dann steigt auch der Anteil des Bundes an den Kosten der Unterkunft. Sinkt aber die Zahl der Bedarfsgemeinschaften um 1 % , dann sinkt die Beteiligungsquote des Bundes um 0,7 Prozentpunkte. Die konkrete technische Anwendung der Gleitklausel erfolgt durch ein Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
3. Diese Regelung gilt für die Jahre 2007 bis einschließlich 2010. Also ein Jahr über die Legislaturperiode hinaus.
4. Die für die ostdeutschen Länder zur Verfügung gestellten Sonderbundesergänzungszuweisungen enden nicht 2009, sondern werden um ein Jahr verlängert, um sie an die gleiche Frist wie die Gesamtregelung zu knüpfen.
5. Die Bundesregierung wird den entsprechenden Gesetzentwurf am Sonntag beschließen. Das parlamentarische Verfahren soll und wird bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen sein.
6. In den nächsten Wochen legen die Länder einen Vorschlag für einen Ausgleichsmechanismus zwischen den Ländern vor, der ungleiche Belastungen der Kommunen in den Ländern ausgleicht. Hierfür wird an eine Quote von 0,7 % des Bundesanteils gedacht. Er ist in der Gesamtquote von 31,8 % und der Summe von 4,3 Mrd. Euro enthalten, müsste also dann von dieser Gesamtsumme abgezogen werden.
Mit diesem fairen Kompromiss bleibt es bei der Zusage, dass sich der Bund angemessen an den Kosten der Unterkunft für Empfänger von Arbeitslosengeld II beteiligt und die kommunale Ebene eine Entlastung von 2,5 Mrd. Euro erhält.
Ich möchte mich bei allen Beteiligten für die Kompromissbereitschaft bedanken.
Das erste halbe Jahr 2007 wird im Zeichen der EU-Ratspräsidentschaft stehen. Der deutsche EU-Ratsvorsitz fällt in keine ganz einfache Zeit für Europa: Der Verfassungsvertragsprozess ist ins Stocken geraten, Europa steht vielerorts nicht besonders hoch im Kurs. An uns als größten Mitgliedstaat richten sich sehr hohe Erwartungen, die Deutschland objektiv gar nicht erfüllen kann.
Am 25. März 2007 werden wir den 50. Jahrestag der "Römischen Verträge" feierlich hier in Berlin begehen. Dieses Datum bietet Anlass, sich die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union zu vergegenwärtigen: Über die Vernetzung verschiedener Volkswirtschaften wurde ein Grad der politischen Integration erreicht, der Europa zu einem Raum des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands gemacht hat.
Die Europäische Union wird sich ihre Attraktivität für die Menschen aber nur erhalten können, wenn Europa wertegebunden bleibt und wirtschaftlich erfolgreich ist. Daher sind die wirtschaftliche und soziale Modernisierung Europas, vor allem die Fortentwicklung des Binnenmarktes, Bürokratieabbau, die Förderung von Forschung und Innovationen sowie die Sicherung der Energieversorgung von herausragender Bedeutung.
Ein weiteres bedeutsames Ereignis auf internationaler Ebene verbindet sich, Herr Präsident, mit ihrem Heimatland: der G 8-Gipfel in Heiligendamm. 16Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit treffen die Staats- und Regierungschefs der acht wichtigsten Industrienationen an der deutschen Ostseeküste zusammen. Die Bundeskanzlerin wird die internationale Energie- und Klimapolitik, die Verbesserung der Rahmenbedingungen für weltweite Investitionen und den Schutz geistigen Eigentums ins Zentrum der Diskussion stellen. Heiligendamm wird aber nicht nur ein wirtschaftspolitischer G8 -Gipfel werden. Auch unserer Verantwortung für benachteiligte Teile der Weltbevölkerung wollen wir gerecht werden und insbesondere Impulse für eine positive Entwicklung Afrikas und die Aids-Bekämpfung geben.
Meine Damen und Herren,
Föderalismus als Zusammenspiel von Einheit und Vielfalt spiegelt sich naturgemäß im politischen Alltag wider. Das klingt dann manchmal mehr wie Stockhausen als Bach oder Mozart. Es ist selbstverständlich, dass die Vorhaben der Bundesregierung auch in den Ländern kontrovers und vielschichtig diskutiert werden.
Oft ist die Meinung zu hören, der Föderalismus behindere Fortschritt und sei überholt: Eine Vielzahl von Akteuren schade einem gemeinsamen "Unternehmen Deutschland". Wenn jedoch der streitige Diskurs als Wurzel allen Übels und als Hemmnis für Veränderung und Entwicklung angesehen wird, halte ich dies für die Verkennung des Wesens von Demokratie und Gewaltenteilung.
Besonderheiten, Unterschiede und Divergenzen sind die Normalität und kennzeichnen unsere Lebenswirklichkeit. Das gilt nicht nur für die Politik. Wir sollten daher der Versuchung widerstehen, Einmütigkeit als Normalzustand zu identifizieren. Das Gegenteil ist der Fall und die Kunst der Politik ist der Weg zum Konsens, zu einer für alle Beteiligten tragbaren Lösung.
Nur eines sollte auch in der Tonlage deutlich werden: Es geht um die Sache und um das Gemeinwohl. Maß und Ausgewogenheit in der Sprache ist in einer unübersichtlichen Welt manchmal wichtiger als viele im Politikbetrieb das annehmen.
Gerade darin liegt die Stärke unseres föderalen Systems: Es fördert die Artikulation von Unterschieden und Besonderheiten. Es befähigt aber gleichzeitig zu verantwortlichen Entscheidungen für diejenigen Aufgaben, die nicht auf regionaler Ebene bewältigt werden können. Diese Aufgaben müssen wir in gemeinsamer Verantwortung für die Zukunft unseres Landes lösen. So verstanden trägt der Föderalismus maßgeblich zur Legitimität staatlicher Entscheidungen bei und hindert keineswegs eine gemeinsame gesamtstaatliche Kraftanstrengung.
Ich hoffe in diesem Sinne auf die Fortsetzung unserer guten Zusammenarbeit. Ihnen, Herr Präsident, wünsche ich eine erfolgreiche Amtszeit, eine glückliche Hand und viele konstruktive Beschlüsse dieses hohen Hauses.