Redner(in): Angela Merkel
Datum: 08.11.2006

Anrede: Sehr geehrter Herr Oetker, liebe Familie Oppenheim, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/11/2006-11-08-rede-bkin-deutsche-gesellschaft-fuer-auswaertige-politik,layoutVariant=Druckansicht.html


liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Exzellenzen! Ich freue mich sehr, heute hier zu Ihnen zu sprechen. Denn mit der Eröffnung des "Alfred von Oppenheim-Zentrums für europäische Zukunftsfragen" haben Sie ein sehr klares Zeichen gesetzt, wo unsere Zukunft liegt: Nämlich in Europa. Das Zentrum wurde, wie eben schon von Herr Oetker erwähnt, von Christopher Freiherr von Oppenheim gestiftet und nach seinem Vater benannt. Ich halte dies für eine gute Wahl. Alfred Freiherr von Oppenheim hat sich sehr um die Wissenschaft verdient gemacht. Dabei lag ihm die europäische Einigung immer in ganz besonderer Weise am Herzen. Ich habe mich ihm auch persönlich sehr verbunden gefühlt. Für mich war es eine große Ehre, dass ich zu seinem 70. Geburtstag vor zwei Jahren eine Rede halten durfte. Ich bin mir sicher, dass das Zentrum die wissenschaftliche Debatte über die Entwicklung Europas weiter beleben wird. Deshalb wünsche ich dem Zentrum an diesem interessanten Ort alles Gute, viele interessante Erkenntnisse, Dispute und Stunden, die auch der gemeinschaftlichen Meinungsbildung in Europa dienen. In wenigen Wochen übernimmt Deutschland- auch darauf ist hingewiesen worden- die Präsidentschaft der Europäischen Union. Die Bundesregierung ist sich der damit verbundenen Verantwortung bewusst. Wir haben uns am Sonntag in einer außerordentlichen Kabinettssitzung in der Villa Borsig einmal jenseits einer festen Tagesordnung Zeit dafür genommen, intensiv über die Schwerpunkte zu diskutieren, weil ich der Meinung bin, dass eine Regierung eine solche Verantwortung nur gemeinsam tragen kann, wenn sie ein gemeinsames Grundverständnis hat, wie sie diese Präsidentschaft gestalten will. Und den Willen dazu haben wir. Der europäische Einigungsprozess hatte zwar manch schwierige Phase, aber ich glaube, zumindest wir in diesem Raum hier sind uns einig: Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. Wir werden in Berlin die Gelegenheit haben, anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge auch daran zu denken, den Bogen in die Zukunft zu spannen. Wenn man sich einmal überlegt, was es bedeutet, dass diese geteilte Stadt der Ort ist, an dem sich dann 27Mitgliedsstaaten versammeln und an die unglaubliche Gründungsidee der Europäischen Union, an die Unterzeichnung der Römischen Verträge erinnern, so weiß man, dass dies für Berlin ein sehr wichtiger Tag sein wird. Wir wollen während unserer Präsidentschaft den Erfolg der Europäischen Union fortschreiben. Aber wir sind uns auch bewusst, dass der Ausgangspunkt dieser Präsidentschaft nicht ganz leicht ist - nicht wegen der anstehenden Wahlen und all der Termine, die in den jeweiligen Mitgliedsländern eine große Rolle spielen, sondern weil die Zustimmung zur Europäischen Union und zur europäischen Integration in den letzten Jahren sehr abgenommen hat. Das sagen uns alle Umfragen, anhand derer wir feststellen, dass viele die Dinge zu technokratisch finden. Es werden Fragen aufgeworfen wie: Bringt der Binnenmarkt dem Einzelnen wirklich mehr Wohlstand? Viele Bürgerinnen und Bürger haben Zweifel, dass Europa in der Lage ist, auf die großen Fragen der Zukunft gültige Antworten zu finden. Wir haben das bei den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden erleben müssen. Eine solche Stimmung herrscht aber auch in vielen anderen Mitgliedsstaaten. Deshalb glaube ich: Es reicht nicht mehr aus, allein den Bezug zur Vergangenheit zu nehmen und an die Brücken, die damals zwischen Ländern gebaut wurden, die durch so genannte Erbfeindschaften getrennt waren, zu erinnern, sondern es kommt darauf an, dieses Europa auch wieder neu für das 21. Jahrhundert zu begründen. Fragt man sich, was Europa, was die Europäische Union zusammenhält, so ist für mich klar: Europa beruht vor allem auf gemeinsamen Werten, die die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union teilen: Auf Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte. Diese grundlegenden Werte sind in Europa über Jahrhunderte gewachsen. Ein Gang ins Bodemuseum und in weitere Einrichtungen der Museumsinsel gibt uns Auskunft darüber, was Europa auch durchlitten hat, um über das Verständnis von Toleranz, über das Verständnis von Vielfalt in der Lage zu sein, diese Werte leben zu können, sie als gemeinsame Werte zu verstehen. Deshalb möchte ich zu Beginn sagen: Europäische Zusammenarbeit wird auch in Zukunft immer wertegebunden sein. Wenn sie Bestand haben soll, muss sie wertegebunden sein. Binnenmarkt und Euro und vieles andere sind für die Europäische Union zweifellos sehr wichtig, aber wir sollten uns darüber im Klaren sein: In erster Linie ist es das gemeinsame Verständnis von Grundwerten, was Europa im Innersten zusammenhält. Dieses Fundament gibt uns die Kraft, die Gemeinschaftsaufgabe trotz aller Widrigkeiten, trotz aller unterschiedlichen Meinungen als Gemeinschaftsaufgabe anzusehen. Wie kann sie gelingen? Ich bin überzeugt: Nur wenn Europa mit einer Stimme spricht, hat es die besten Chancen, Politik nach unseren Wertvorstellungen zu gestalten, eine Politik, von der die Bürgerinnen und Bürger dann auch sagen, dass sie davon profitieren. Dieses Mit-einer-Stimme-Sprechen ist etwas, was im Einzelfall unglaublich schwer zu erreichen ist. Dass es aber wichtig und auch entscheidend ist, möchte ich an vier Beispielen näher erläutern, die auch Schwerpunkte der Arbeit während unserer Präsidentschaft sein werden, welche im Übrigen zum ersten Mal eine Dreierpräsidentschaft sein wird, wie es heute genannt wird. Das heißt, man kommt ein wenig weg von der Kurzatmigkeit von Sechs-Monate-Programmen. Wir werden- Deutschland gemeinsam mit Portugal und Slowenien- diese Präsidentschaft wie einen roten Faden weiterspinnen. Vier Beispiele möchte ich also nennen, an denen sich zeigt: Mit einer Stimme zu sprechen, macht Europa stark; zerstritten zu sein, bewirkt das Gegenteil. Ich beginne mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, bezüglich der ich überzeugt bin, dass sie in den nächsten Jahren eine der ganz großen Schwerpunkte europäischen Handelns sein wird. Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik ist noch nicht alt. Sie wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht ins Leben gerufen. Schnell wurde sichtbar: Aller Anfang ist schwer. Die erste, damals ziemlich unerwartete Krise, die Balkan-Krise, hat Europa tief gespalten. Das Ergebnis ist bekannt: Die Europäische Union war nicht in der Lage, auf die schrecklichen Ereignisse vor ihrer Haustür auf dem eigenen Kontinent angemessen zu reagieren. Erst mit Hilfe der USA ist es gelungen, die Stabilisierung der Region schrittweise zu erreichen. Aber wir können sagen: Aus diesen bitteren Erfahrungen haben wir gelernt. Denn Schritt für Schritt wurde das außen- und sicherheitspolitische Instrumentarium der Europäischen Union fortentwickelt. In Amsterdam und Nizza konnten schon beachtliche Fortschritte erzielt werden. Besonders wichtig war die Schaffung des Amtes eines Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Schaffung dieses Amtes und die Arbeit des ersten Amtsinhabers Javier Solana ist nicht zuletzt auch deshalb wichtig, weil sich schnell herausstellte, dass sich die sicherheitspolitischen Herausforderungen nach dem Kalten Krieg völlig gewandelt haben. Wir haben es diesem ersten Hohen Beauftragten nicht immer leicht gemacht. Und es gibt immer noch Stimmen, die fragen: Wo ist die Telefonnummer Europas, wo rufe ich an? Auch die Erfahrungen im Vorfeld des Irak-Krieges haben gezeigt, dass Europa nicht mit einer Stimme gesprochen hat. Daraus wiederum sind wichtige Folgerungen gezogen worden. In der Sache des Iran haben wir in Europa in bemerkenswerter Weise mit den Vereinigten Staaten von Amerika zusammengearbeitet und damit auch gezeigt, dass wir bereit sind, gemeinschaftlich zu handeln, was uns im Übrigen im Umgang mit dem Nuklearprogramm des Iran viele Verbündete geschaffen hat. Die Bedrohungen haben sich gewandelt. Die Zeit, in der es zwei Blöcke gab, die einander feindlich gegenüberstanden, ist vorbei. Im Rückblick war es eine schreckliche Zeit, aber in gewisser Weise eine überschaubare Bedrohungssituation, während wir heute asymmetrischen Bedrohungen gegenüberstehen, die nicht selten von einzelnen Menschen ausgehen, die bereit sind oder sich aus einem falschen Verständnis heraus verpflichtet fühlen, ihr Leben für den Kampf gegen die Art des Lebens anderer hinzugeben, zu opfern, und dabei von Staaten geschützt bzw. gestützt werden. Die Auseinandersetzung mit dieser Bedrohung ist damit sehr viel schwieriger geworden. Denn im Kalten Krieg war es eine Konstante, dass man sich gegenseitig nicht vernichten wollte, während heute Menschen Bedrohungen manifestieren, ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um die Freiheit, um die Demokratie zu schädigen. Deshalb funktionieren die klassischen Abschreckungsmechanismen, wie wir sie von früher kannten, nicht mehr. Der internationale Terrorismus, die Proliferation von Massenvernichtungswaffen zählen zu diesen asymmetrischen Bedrohungen. Auch regionale Konflikte, instabile Staaten, der Zerfall staatlicher Ordnungen haben im Zusammenhang mit diesen asymmetrischen Bedrohungen kaum abwägbare Folgen. Solchen Bedrohungen kann kein Staat allein Herr werden. Deshalb ist es so notwendig, dass die Europäische Union als Gemeinschaft Antworten auf diese Fragestellung findet. Die Europäische Union hat im Europäischen Verfassungsvertrag und in der Europäischen Sicherheitsstrategie entsprechende Antworten gegeben. Es war wichtig, dass sie sie gegeben hat, und ich glaube, wir können inzwischen auch auf eine ganze Reihe von Erfolgen blicken, zumindest auf manches, was wir erreicht haben. In Mazedonien haben wir den heraufziehenden Bürgerkrieg verhindert. In Bosnien-Herzegowina haben wir einen Staat stabilisiert, dem viele das Überleben nicht zutrauten. In der indonesischen Provinz Aceh dokumentiert die Europäische Union, dass uns auch die Probleme Asiens nicht gleichgültig sein können. Im Kongo sichern wir derzeit präventiv durch unsere militärische Präsenz die ersten demokratischen Wahlen seit 40Jahren. Diese regionale Verteilung zeigt, dass wir als Europa inzwischen auch weltweit gefragt sind. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahre. Wenn man an die Diskussionen in den Parlamenten, insbesondere im Deutschen Bundestag, denkt- da die Bundeswehr ja eine "Parlamentsarmee" ist, also mit dem Mandat der Abgeordneten zu Missionen entsandt wird‑ , zeigt es sich, dass wir auch eine sich weiterentwickelnde politische Diskussion brauchen. Folgende Fragen könnten auch in diesem Zentrum hier einmal thematisiert werden: Was sind unsere Interessen? Wo überall sind wir gefragt? Was können wir leisten? Wie können wir das weiterentwickeln? Europa leitet dabei ein Sicherheitsbegriff, den ich als umfassenden Sicherheitsbegriff darstellen möchte, und der- zusammengefasst in einem Satz- besagt: Militärische Krisenbewältigung kann immer nur im Verbund mit zivilen Bemühungen um Stabilität und Wiederaufbau Erfolg haben. Ich glaube, dieser Sicherheitsbegriff ist richtig. Wir haben bei den 13laufenden Missionen viele zivile -derzeit elf- und müssen daran arbeiten, die Schnittstellen zwischen zivilen und militärischen Elementen besser aufeinander abzustimmen. Das wird eine der großen Herausforderungen sein. Ich kann das Beispiel Afghanistan nennen, das uns weiter beschäftigen wird. Bezüglich Afghanistans hat die Bundesregierung sehr intensiv die Strategie diskutiert und überlegt, wie wir unsere Kräfte bündeln können, da klar ist: Allein mit einer militärischen Komponente kann man die Stabilität dieses Landes nicht erreichen; ohne militärische Komponenten jedoch kann man sie auch nicht erreichen. Das heißt, wir brauchen eine völlig neue Form des Zusammenwirkens von Entwicklungshilfe, von den Instrumenten innerer Sicherheit, von dem, was Aufbau von Institutionen bedeutet, und militärischem Eingreifen. Das erfordert eine Kohärenz von früher völlig verschiedenen Fachgebieten. Das erfordert eine Zusammenarbeit von Innenministerium, Entwicklungshilfeministerium und Verteidigungsministerium, wie man sie früher nicht gekannt hatte. Am Beispiel Afghanistans versucht die Bundesregierung- ich hoffe, wir haben auch Gelegenheit, das auf dem NATO-Gipfel in Riga zu diskutieren- , einen solchen vernetzten Einsatz zu einem Erfolg zu machen. Das ist schwierig, aber es ist wichtig, diesen Erfolg zu erringen. Wir dürfen vor den Schwierigkeiten nicht zurückschrecken. Es ist absehbar, dass neue Aufgaben auf uns zukommen, vor denen wir die Augen nicht verschließen, denen wir nicht ausweichen werden können. Eine ist so nahe liegend, dass wir auf keinen Fall die Augen vor ihr verschließen dürfen: Die nähere Zukunft des Kosovo. Die internationale Staatengemeinschaft arbeitet intensiv mit den betreffenden Parteien an einer Statuslösung. Diese Arbeit im Kosovo, insbesondere im Hinblick auf die umgebenden Länder, ist kompliziert. Nicht passieren darf natürlich, dass wir einen Teil quasi um des Preises willen stabilisieren, dass andere Teile wieder destabilisiert werden. Das Verhältnis zu Serbien ist kompliziert. Es kann Auswirkungen auf Mazedonien, auf Bosnien-Herzegowina haben. Deshalb muss hier mit äußerstem Fingerspitzengefühl vorgegangen werden, um den Prozess nicht zum Stehen zu bringen. Wenn diese Statusfrage einer Lösung zugeführt würde, dann würde sich die bisher größte zivile Mission der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik anschließen. Der Schwerpunkt dieser Mission soll auf den Bereichen Innen- und Justizpolitik liegen, weil es darum geht, den Kosovo auch handlungsfähig zu machen. Gleichzeitig werden in der Region NATO-Truppen weiterhin gebraucht. Das heißt, von äußerster Bedeutung ist: Es muss gelingen, dass die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit der NATO kooperiert und wir hier keine Reibungsverluste, keine Gegensätze haben, sondern die Dinge miteinander verzahnen. Dies muss das Grundverständnis sein. Das ist für mich von elementarer Wichtigkeit: Wir dürfen die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik niemals als etwas gegen die transatlantische Partnerschaft Gerichtetes verstehen. Das ist von äußerster Wichtigkeit. Aber wir haben auch Probleme, die etwas mit Mitgliedsstaaten- Stichwort Zypern und Türkei - zu tun haben. Es muss uns gelingen- das Beispiel Kosovo wird das erste sein- , dass die Zusammenarbeit von EU und NATO auch an dieser Stelle erfolgreich ist. Es ist absehbar, dass Deutschland gefordert ist, im Kosovo weiterhin Verantwortung zu übernehmen. Deshalb kann man heute schon sagen: Viele Augen werden sich auf Deutschland richten, wenn es um weitere Verantwortung in der Welt geht. Wir werden uns vor dieser Verantwortung nicht drücken können. Die Idee, man könnte sehr gute politische Ratschläge geben und sich aber bei den schwierigen Aufgaben fernhalten, wird nicht umsetzbar sein. Wir haben uns dieser Idee auch nie angeschlossen, denn die Tatsache, dass wir zum Beispiel in der Mission UNIFIL Verantwortung übernommen haben, ist ein Beispiel dafür, dass uns bewusst ist, dass politisches Handeln und die Bereitschaft zu militärischem Handeln heute zusammengehen. Nun wissen wir, dass sich keine Präsidentschaft ihre internationalen Herausforderungen aussuchen kann. Ich glaube, dass unsere finnischen Partner, als sie die Präsidentschaft am 1. Juli übernommen haben, sich noch nicht ausrechnen konnten, dass wenige Tage später die Libanon-Krise eintreten würde. Deshalb war es dann auch erfreulich und richtig, dass die Europäische Union nach einem gewissen Diskussionsprozess erhebliche Verantwortung in dieser UNIFIL-Mission übernommen hat. Meine Damen und Herren, diese Veranstaltung kann nicht vorübergehen, ohne ein Wort zum diesjährigen Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zum Türkei-Bericht zu sagen. Dieser Bericht dokumentiert, wo die Türkei vorangekommen ist, stellt aber auch erhebliche Defizite bei den politischen Reformen, insbesondere bei der Meinungs- und Religionsfreiheit, fest. Der Bericht stellt darüber hinaus fest, dass die Türkei das Ankara-Protokoll bisher nicht umgesetzt hat. Ich muss noch einmal daran erinnern, dass sich die Türkei mit ihrer Unterschrift am 29. Juli des Jahres 2005 verpflichtet hat, das Ankara-Protokoll umzusetzen. Ein vertrauensvoller und glaubwürdiger Verhandlungsprozess setzt voraus, dass sich beide Seiten an ihre Zusagen halten."Pacta sunt servanda" gilt in beide Richtungen. Ich sage auch: Ich unterstütze mit Nachdruck die Vermittlungsbemühungen der finnischen Ratspräsidentschaft. Der finnische Ministerpräsident war gestern hier. Wir wollen alle Kraft einsetzen- ich war in der Türkei und habe lange mit dem türkischen Ministerpräsidenten gesprochen- , um in den verbleibenden Wochen dieses Problem zu lösen. Aber ich sage auch- der Fortschrittsbericht ist an dieser Stelle eindeutig: Die Türkei muss ihren Verpflichtungen bis zum Ende des Jahres nachkommen, ansonsten wird die Europäische Union angemessene Konsequenzen ziehen. Ein "Weiter so" kann und wird es nicht geben. Meine Damen und Herren, auch anderen künftigen Herausforderungen jenseits der Sicherheits- und Verteidigungspolitik können wir nur begegnen, wenn wir eine gemeinsame Handlungsfähigkeit haben. Ich habe über die Außen- , Sicherheits- und Verteidigungspolitik gesprochen und möchte als zweites Beispiel nun die Handelspolitik nennen. Gerade hier können die europäischen Länder gemeinsam mehr erreichen als jedes Land für sich allein. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist vor fast 50Jahren mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge gegründet worden. Damit wurde ein neues Kapitel in der Geschichte Europas eingeleitet- übrigens nach dem Scheitern des Bemühens um eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Es ist sehr interessant, dass wir so viele Jahre gebraucht haben, um uns dem Thema einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wieder zuzuwenden. Aber Europa hat sich immer, wenn es auf einem Gebiet nicht vorangekommen ist, eines anderen Themas angenommen. Deshalb ist die Wirtschaftsgemeinschaft sehr viel früher gegründet worden. Damit wurde damals ein neues Kapitel der Geschichte Europas eingeleitet. Das hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten bewährt. Wir wissen heute, wenn wir an die Verhandlungsrunden über den Welthandel denken, dass dies von entscheidender Bedeutung ist. Es ist- ich gebe es ja zu- mühselig, in diesen Welthandelsrunden eine gemeinsame Position in Bezug auf die Agrarpolitik zu erreichen. Der zuständige Kommissar hat es alles andere als leicht. Aber, meine Damen und Herren, der Gedanke, dass jeder für sich diese Verhandlungen in der Welthandelsorganisation durchführen müsste, lässt einen erschrecken. Ich glaube, wir können unsere Positionen insgesamt sehr viel besser gemeinsam vortragen. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass wir gewillt sind, internationale Abschlüsse zu tätigen, und multilaterale Abkommen präferieren. Ich bin außerordentlich skeptisch, wenn die DOHA-Runde nicht vorankommt und stattdessen die Entwicklung eintritt oder sich verstärkt, dass jedes Land mit jedem anderen Land Handelsabkommen extra schließt. Das führt nicht zu einem fairen Welthandel, das führt nicht zu mehr Transparenz, das führt nicht dazu, dass die, die ihre Chancen im freien gemeinsamen Welthandel haben sollen, diese auch bekommen. Gerade Deutschland profitiert und hat auch immer vom freien Handel profitiert. Wir haben heute in Deutschland über 8Millionen Erwerbstätige, die im Exportbereich tätig sind. Wenn man das der Zahl von vor zehn Jahren gegenüberstellt, so sind das 2, 5MillionenMenschen mehr. Bezüglich der Frage, wo Arbeitsplätze entstehen und wo wir welche verlieren, ist der Exportbereich für uns ein absoluter Wachstumsbereich. Im Übrigen wird die Diskussion in Bezug auf die EU-Erweiterung um die Länder Mittel- und Osteuropas völlig falsch geführt. Wir profitieren in vielen Bereichen auch von der Erweiterung der Europäischen Union in Richtung Mittel- und Osteuropa. Wir sind in diesem Jahr zum vierten Mal in Folge Exportweltmeister. Trotz der großen Konkurrenz gerade aus Fernost ist es in den vergangenen Jahren sehr gut gelungen, unsere Weltmarktanteile zu halten und auszuweiten. Deshalb sind wir aus eigenem Interesse verpflichtet, die Welthandelsverhandlungen voranzubringen. Deshalb werden wir uns mit Nachdruck für einen Erfolg der DOHA-Runde einsetzen. Die Zeiten dafür sind nicht ganz leicht. Aber es gibt noch ein kleines Zeitfenster. Wir sollten uns wenigstens nicht vorwerfen lassen, es nicht versucht zu haben. Ein zentraler Punkt in diesem Zusammenhang sind die transatlantischen Handelsbeziehungen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den USA und der Europäischen Union sind auf der einen Seite sehr eng. Auch hier sind durch die gegenseitigen Direktinvestitionen Millionen von Arbeitsplätzen auf beiden Seiten des Atlantik geschaffen worden. Aber es gibt andererseits, wenn man sich den Marktbereich Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika ansieht, noch eine Vielzahl von Verbesserungsmöglichkeiten. Ich denke dabei an Produktstandards, an Kapitalmarktregulierungen, die wir derzeit in Europa und in den USA sehr unterschiedlich entwickeln‑ nicht immer mit der Wirkung, dass es für die Firmen einfacher wird. Wenn ich daran denke, dass wir zum Beispiel das gemeinsame Interesse haben, den Schutz des geistigen Eigentums gegenüber Dritten zu vertreten, dann sind wir gut beraten, vieles an dieser Stelle auch gemeinsam in Angriff zu nehmen. Die österreichische Präsidentschaft hatte auf dem EU-Amerika-Gipfel einen gemeinsam EU-Amerika-Markt schon einmal auf die Tagesordnung gesetzt. Ich glaube, wir haben bei dem in Amerika stattfindenden EU-Amerika-Gipfel während der deutschen Präsidentschaft eine gute Möglichkeit, diesen Punkt fortzusetzen. Klar muss sein: Er ist nicht, wie manche behaupten, gegen die DOHA-Runde gerichtet. Er ist nicht gegen multilaterale Abkommen gerichtet. Aber da, wo sich Gemeinsamkeiten ergeben, da, wo sie für uns beide als Partner produktiv sind, sollten wir diesen Prozess voranbringen. Wir brauchen natürlich insbesondere in Bezug auf die neu entstehenden Wirtschaftsmächte- ich denke an China und an Indien- auch ein sehr einheitliches Vorgehen in vielen Bereichen. Eine zentrale Voraussetzung für unsere wirtschaftliche Entwicklung ist das Thema, das in den letzten Jahren und auch in den letzten Monaten immer wieder auf der Tagesordnung gestanden hat: Die Energieversorgung. Deshalb möchte ich die Energiepolitik als ein drittes Beispiel nennen, bei dem wir ein gemeinsames Interesse daran haben, eine einheitliche Position zu vertreten. Die Energiepolitik ist keine vergemeinschaftete Politik- ich will der Kommission hier nicht etwa neue Kompetenzen geben- , aber es ist unbestritten, dass die Energiepolitik ein Thema ist, das die Entwicklung der Europäischen Union insgesamt sehr beeinflussen und auch prägen wird. Wir wissen: Die Europäische Union hat eine Reihe von Hausaufgaben zu erledigen. Die Binnenmarktrichtlinien zu Strom und Gas sind nicht vollständig umgesetzt. Es ist immer noch ein zum Teil auch mentales Problem, den Binnenmarkt in einem Bereich dessen, was als Daseinsvorsorge empfunden wird- bei der Energieversorgung- , durchzusetzen. Jüngste Eingriffe der Kommission haben uns das intensiv vor Augen geführt. Wir müssen gemeinschaftlich in den Bereichen Energieeffizienz und bei den erneuerbaren Energien vorankommen, die aus meiner Sicht nicht nur aus Klimaschutzgründen von allergrößter Notwendigkeit sind, sondern sie sind auch ein Gebot ökonomischer und vor allen Dingen sicherheits- und friedenspolitischer Vernunft. Denn wenn wir uns anschauen, wo die Öl- und Gasreserven konzentriert sind, so ist dies in wenigen Ländern. Ein großer Teil von ihnen hat in der jeweiligen Region ein erhebliches Konfliktpotenzial. Deshalb muss es unser Interesse sein, eine nachhaltige Energieversorgung anzustreben. Natürlich bedarf es hier an vielen Stellen des Umdenkens. Diese Fragen, wie abhängig wir sein wollen, wo wir auch Abhängigkeiten reduzieren können, sollten uns beschäftigen und umtreiben. Das heißt nicht, dass ich die Illusion nähren möchte, Europa könne von Energieimporten unabhängig werden. Aber in der Frage der Energieaußenbeziehungen ist das Sprechen mit einer Stimme von entscheidender Bedeutung. Deshalb wollen wir erreichen, dass wir gerade in Bezug auf Russland bei der Verhandlung eines neuen Kooperations- und Partnerschaftsabkommens das Energiekapitel mit klaren Grundsätzen ausgestattet formulieren. Russland ist derzeit nicht bereit, das Transitprotokoll der Energiecharta zu ratifizieren. Wir würden uns dies aber wünschen. Wenn es um die Kooperation geht, brauchen wir Sicherheit- nicht nur für einzelne Länder, sondern für die gesamte Europäische Union. Ich sage immer: Es darf keine Projekte geben, die gegen andere gerichtet sind; es darf keine Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geben, die den Eindruck haben, dass wir hier nicht mit einer Stimme sprechen Wir sollten stattdessen dieselben Ziele verfolgen. Insofern war es von großer Bedeutung, dass unlängst der russische Präsident an den Beratungen des Europäischen Rates in Lahti teilgenommen hat. Beim gemeinsamen Mittagessen, bei dem wir uns auf dieses Treffen vorbereitet haben, haben wir noch einmal sehr intensiv unsere gemeinsamen Interessen ausgelotet und vielleicht auch einigen Mitgliedsstaaten Ängste nehmen können, die denken, dass hier jeder seine Karte spielt. Ich glaube, man kann keine einheitliche Wirtschaftspolitik, keinen Binnenmarkt haben, bei dem anschließend jeder um seine Energieversorgung bangen muss. Das muss ganz klar sein im Gesamtverständnis der Europäischen Union, wenngleich die Frage der europäischen Netze- wie wir letztes Wochenende erlebt haben- noch immer nicht vollkommen geklärt ist, wobei die skurrilsten Engpässe auftreten und man gar nicht weiß, wer zu wem wie viele Elektronen durchleiten kann. Dabei sind Fragen der Versorgung mit Erdgas und bezüglich der festen Pipeline-Systeme noch sehr viel schwieriger zu handhaben. Aber ich beklage auch, dass das Verständnis für die Fragen, wie viel Energie wir brauchen werden, welches Land wie abhängig ist, welche Philosophie wir verfolgen und ob wir dies nicht ein Stück aufeinander abstimmen sollten, noch sehr mangelhaft ausgeprägt ist. Wir führen jetzt in Deutschland einen Energiedialog. Unbeschadet der unterschiedlichen Auffassungen in der Großen Koalition zur Kernenergie halte ich es für außerordentlich wichtig, dass wir uns Gedanken nicht nur bis zum Ende der Legislaturperiode, sondern bis zum Jahre2020 machen: Wie abhängig werden wir denn sein? Welche unserer Unternehmen kooperieren denn? Wie stellen wir uns die Energieversorgung vor? Wie groß kann der Anteil erneuerbarer Energien sein? Wo müssen wir jetzt investieren, um in fünf oder zehn Jahren Erfolge zu haben? Die Entwicklungen in diesem Bereich sind unglaublich langfristig. Deshalb ist mir dieses Thema ein wirkliches Herzensanliegen. Wir werden natürlich auch darauf achten, dass Energielieferungen niemals machtpolitisch missbraucht werden können. Auch da muss mit einer Stimme gesprochen werden. Dabei darf es keine falsche Bescheidenheit geben. Wir müssen auch bei unseren Partnern in den USA auf einen nachhaltigen Umgang mit Energie drängen. Wir werden im Frühjahr 2007 in der Europäischen Union einen Energie-Aktionsplan auch auf der Grundlage von Mitteilungen der Kommission verabschieden. Da ich unsere amerikanischen Partner hier schon angeführt habe, komme ich von der Energiepolitik gleich noch zu meinem vierten Beispiel, zur Klimapolitik. Ich glaube, wir sollten auch den Klimawandel als gesamteuropäische Gesamtherausforderung begreifen. Nationale Anstrengungen werden hier überhaupt nicht helfen. Nirgendwo sonst als beim Klimawandel kann man mehr sehen, dass es sich hier um eine globale Herausforderung handelt. Die Europäische Union kann auch hier wieder mit einer Stimme sprechen und in die internationalen Verhandlungsprozesse wieder etwas Dynamik bringen. Ich habe als Umweltministerin und Präsidentin der ersten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention das "Berliner Mandat" verhandelt. Das war die Grundlage des Kyoto-Protokolls. Das Kyoto-Protokoll wird im Jahre 2012 auslaufen. Das heißt, wir brauchen jetzt dringend- in dieser Woche findet bereits die Konferenz in Nairobi statt- einen Anschlussprozess. Ich weiß sehr wohl, dass die Ansichten zum Thema Klimaschutz, die Frage, ob das eine wirkliche Bedrohung ist, nicht von allen gleichermaßen geteilt werden, glaube aber, die wissenschaftliche Evidenz wird immer stärker. Wenn es jemand gar nicht glauben mag oder die Wahrscheinlichkeit eines Klimawandels als immer noch gering ansieht, kann ich ihn auf das vorige Kapitel verweisen und sagen: Energie sparen, mehr Energieeffizienz ist mit Sicherheit nichts Falsches. Insofern lohnt es sich allemal, sich mit diesem Thema zu beschäftigen und vor allen Dingen auch um interessante Instrumente zu ringen. Wir haben in Deutschland schon viele Wege zu gehen versucht. Wir sind jetzt, glaube ich, beim interessantesten Instrument angekommen, das auch von der Wirtschaft geliebt wird. Aber welche Innovation ist schon von der Wirtschaft geliebt, wenn sie nicht von der Wirtschaft selbst kommt? Insofern, Herr Oetker, glaube ich, dass der Emissionshandel ein ganz interessantes Instrument ist, bei dem wir nur aufpassen müssen, dass wir die verschiedenen Instrumente zwischen Ordnungspolitik, Besteuerung und Handelsinstrumenten in eine Harmonie bringen. Wir wissen natürlich auch, dass die EU die Klimaprobleme dieser Welt niemals allein lösen kann. Trotzdem glaube ich, dass wir aus gut verstandenem Eigeninteresse Vorreiter sein sollen, denn Sie können sehen- ich konnte das in den letzten zehn Jahren sehr gut beobachten- : Die Diskussion um Umweltprobleme und um CO2 -Emission wird sich in den Regionen, die heute großes Wirtschaftswachstum aufweisen- China, Indien- unglaublich verstärken. Diejenigen, die Umwelttechnologien haben, werden davon profitieren. Wir profitieren zum Teil heute schon davon, dass wir die Rauchgasentschwefelung eingeführt haben, dass wir eine hohe Effizienz bei den Kraftwerken haben. Genauso wird es bei der CO2 -Emission sein. Diejenigen, die heute die beste Technologie haben, werden die Exportweltmeister der Zukunft sein. Deshalb glaube ich, dass wir mutig an dieses Thema herangehen sollten. Die britische Regierung hat in der letzten Woche den so genannten Stern-Report vorgestellt, der auf sehr eindrucksvolle Weise zeigt, dass es teuer ist, etwas gegen den Klimawandel zu tun- ja, es kostet Geld- , aber dass die Preise, die wir zahlen müssen, wenn wir nichts tun, mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches höher sind. Nun kann man sagen, diese Preise sind delokalisiert. Man kann nicht sagen, wen sie dann genau treffen. Aber das wäre ein sehr, sehr verantwortungsloses Vorgehen. Eine Welterwärmung, eine Temperatursteigerung um 2Grad als Obergrenze anzusehen, sollte wirklich unser gemeinsames Ziel sein. Damit ist das, was wir tun, schon nicht risikolos. Der Bundesumweltminister hat uns am Sonntag, als wir über diesse Thema gesprochen haben, sehr eindrücklich dargestellt, welche irreversiblen Folgen heute schon eingetreten sind. Der Gletscher auf der Zugspitze ist zwar noch da, ist aber nicht mehr zu retten. So ist es bei vielen anderen Dingen. Wenn Sie wissen, dass Sie heute völlig veränderte Trocken- und Regenzonen haben, dann ist das zum Beispiel - auch in Deutschland- für einen Bereich wie die Forstwirtschaft von entscheidender Bedeutung; etwa auch für die Frage, ob es in der Uckermark in 40Jahren noch die Voraussetzungen gibt, dass Eichen wachsen, oder ob es diese Voraussetzungen nicht mehr gibt. Denn heute werden die Bäume gepflanzt, die in hundert Jahren gefällt werden sollen. Investitionen in die Zukunft sind heute absehbar schon nicht mehr so zu machen. Deshalb kann ich uns alle nur auffordern: Lassen Sie es uns marktwirtschaftlich vernünftig, aber als Problem erkennen, sonst werden wir viel, viel größere Probleme haben. Ich glaube, mit meinen Beispielen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Welthandel, Energieversorgung mit den Komponenten der Energieaußen- und Energieinnenpolitik und mit dem großen Thema Klimawandel habe ich gezeigt: Dies alles sind Herausforderungen, die kein Land allein bestehen kann. Dafür brauchen wir ein gemeinsames Verständnis der Europäischen Union, die sich dafür gemeinsam ins Zeug legt. Dies müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern klarmachen und wegkommen von den ersten Jahren der Binnenmarktentwicklung, in der sich im Wesentlichem alles um irgendwelche Richtlinien gedreht hat, die viel Verdruss bereitet haben. Nun will ich nicht all die schönen Richtlinien niedermachen, aber sie haben zu Verdruss geführt. Die Frage der Regelungsdichte- um nicht das böse Wort Regelungswut zu gebrauchen- ist in Europa noch nicht vollständig gelöst. Ich bin dem Europäischen Parlament sehr dankbar, dass es in den letzten Jahren auch verstärkt hingeschaut hat, ob man die Sonnenschirmbestückung in Biergärten europaweit einheitlich regeln muss, weil die Beschwernisse einer spanischen Gewerkschaft über zu viel Sonne auf der Insel Rügen nur sehr bedingt und in Irland wahrscheinlich überhaupt nicht geteilt werden. Deshalb muss sich Europa auf das konzentrieren, was allein nicht machbar ist. Das ist im Übrigen, wenn ich das für Deutschland sagen darf, eines der Erfolgsrezepte der deutschen föderalen Ordnung oder des Subsidiaritätsprinzips: Man versucht, die Aufgaben immer nahe beim Menschen zu lösen, aber wenn eine höhere Ebene gebraucht wird, weil nur sie eine Aufgabe wirklich lösen kann, diese Aufgabe dann auch an diese höhere Ebene zu delegieren. Deshalb werden wir in unserer Präsidentschaft in Bezug auf diese wichtigen Themen, die ich genannt habe, ganz besonders die Anstrengungen für das so genannte Projekt "better regulation" - bessere Rechtsetzung- unterstützen. Dahinter verbirgt sich in Deutschland das Wort Bürokratieabbau. Es geht also um den Entschluss der Europäer, der Europäischen Union- ich hoffe, inklusive aller Beschäftigten der Kommission- , nicht immer nur den Acquis Communitaire zu vergrößern, aufzuhäufen, sondern auch dazu bereit zu sein, etwas, was nicht oder nicht mehr gebraucht wird, wieder abzuschaffen. Nationale Rechtsetzung funktioniert so. Wenn ich mir einen besonderen Wunsch erfüllen dürfte, würde ich mich sehr dafür einsetzen, dass das Prinzip der Diskontinuität bei der Schaffung europäischer Richtlinien eingeführt wird. Das heißt, wenn ein neues Parlament gewählt wird, dann verschwindet- wie in jedem nationalen Parlament- das noch nicht verabschiedete Gesetz bzw. in Europa die entsprechende Richtlinie erst einmal und kommt erst wieder auf die Tagesordnung, wenn das neue Parlament findet, dass sie dringend beraten werden muss. In Europa geschieht das heute nicht: Es kann gewählt werden und trotzdem überlebt die Richtlinie und wird immer wieder zur Beratung vorgelegt. Die Menschen haben ein sehr feines Gespür dafür, ob wir uns auf die wichtigen Themen konzentrieren oder auf die, die nicht ganz so wichtig sind. Die Menschen haben auch ein feines Gespür dafür, ob wir nur an Sonntagen von der Einigkeit Europas reden oder ob wir dies bei den großen Fragen auch mit einer Stimme praktizieren. Die deutsche Präsidentschaft wird versuchen- ich glaube, es gibt den guten Willen auch aller anderen- , die Herausforderung an diesen Stellen zu bewältigen, weil wir an anderen Stellen die Erfahrung gemacht haben, dass es uns allen nutzt, wenn wir zusammenstehen, und dass es uns bitter schaden kann, wenn wir zerstritten sind. In diesem Sinne hoffe ich, dass uns alle, die außen- , sicherheits- , europa- und sonstig politisch interessiert sind, auf diesem Weg unterstützen. Wir werden versuchen, mit dem, was wir tun, Menschen auch zu zeigen, dass wir uns um ihre wichtigen Probleme, um ihre wichtigen Anliegen kümmern. In diesem Sinne danke ich für Ihre Einladung und wünsche Ihnen viel Erfolg in den wissenschaftlichen Studien. Und bitte formulieren Sie sie so, dass ab und zu auch Laien daran partizipieren können. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!