Redner(in): Angela Merkel
Datum: 19.11.2006

Untertitel: am 19.November 2006 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Frau Köhler, sehr geehrter Herr Bundesratspräsident, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sehr geehrter Herr Führer, sehr geehrter Herr Surminski, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2006/11/2006-11-19-rede-bkin-volkstrauertag,layoutVariant=Druckansicht.html


Exzellenzen,

meine Damen und Herren,

vorhin haben wir Kränze vor der Skulptur "Mutter mit totem Sohn" von Käthe Kollwitz in der Neuen Wache niedergelegt. Diese Skulptur ist ein zutiefst bewegendes und berührendes Sinnbild. Sie steht für unser Gedenken an die gefallenen Soldaten und die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft? und das nicht nur am Volkstrauertag.

Käthe Kollwitz verlor im Ersten Weltkrieg einen Sohn in Flandern. Im Zweiten Weltkrieg fiel ihr Enkel in Russland. Sie selbst wurde in Berlin ausgebombt, ihr Atelier wurde zerstört. Käthe Kollwitz wusste genau, was Kriegsleid und der Verlust von Angehörigen bedeuten. Mit ihrer Skulptur hat sie ihrer verzweifelten Trauer Ausdruck verliehen.

Der Volkstrauertag ist ein Tag des Gedenkens an unsere Kriegstoten und die Opfer von Gewaltherrschaft und Terror. Dieser Tag erinnert uns an vergangenes Leid. Er erinnert nicht an ein einzelnes historisches Ereignis. Er lenkt unseren Blick vielmehr auf das individuelle Leid der Menschen.

An Arno Surminskis bewegenden Text, den wir gerade eben gehört haben, erschüttert mich am meisten der greifbare Schmerz über einen Vater, den die Tochter nicht mehr kennen gelernt hat, den sie nicht mehr kennen lernen konnte.

Es ist leider nur zu oft so, dass hinter den unvorstellbaren Zahlen der Verluste und des Ausmaßes von Krieg und Zerstörung, von Gewaltherrschaft und Terror der Verlust eines einzelnen Menschenlebens in der öffentlichen Beachtung zurückfällt. Doch für die Angehörigen bedeutet der Tod eines ihnen nahe stehenden Menschen den Verlust einer ganzen Welt.

Bertolt Brecht sagte einmal: "Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt." Damit genau das nicht geschieht, ist unser heutiges Gedenken an die Toten wichtig. Mit diesem Gedenken ehren wir sie. Das gemeinsame Gedenken ist aber auch für die Hinterbliebenen wichtig. Sie dürfen wir mit ihrem Schmerz, ihrem Verlust und ihrer Suche nach Antworten und Trost nicht allein lassen.

Meine Damen und Herren, wir gedenken der Toten der beiden Weltkriege? der gefallenen Soldaten und der Millionen getöteter Zivilisten. Wir gedenken der Opfer von Vertreibung und Gefangenschaft. Wir gedenken der Toten des Widerstands gegen Diktatur und Unrechtsregime? in unserem Land und in vielen anderen Staaten der Welt. Wir gedenken des unermesslichen Leids, das den Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik widerfuhr. Wir Deutschen stehen zu unserer daraus erwachsenen besonderen, immerwährenden historischen Verantwortung. Wir gedenken der Opfer des Kalten Krieges und der Teilung unseres Landes und ganz Europas. Die Opfer des Terrorismus schließen wir ebenfalls in unser Gedenken ein.

Erinnern heißt Sichtbarmachen. Erinnern bedeutet, aus Vergangenheit Lehren für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge leistet auf vielfältige Weise einen besonderen Beitrag zu einem solchen Erinnern. Das ist ein Beitrag zu Frieden und Versöhnung.

827 Kriegsgräberstätten in 45 Staaten mit etwa zwei Millionen Kriegstoten werden heute vom Volksbund betreut. Das Gedenken an die Toten, die Fürsorge für sie, wird greifbar, wenn wir in unseren Tagen sehen, wie Freiwillige des Volksbundes die Gebeine Gefallener bergen und für ihre würdige Bestattung sorgen. Die Fürsorge sagt etwas aus über eine Gesellschaft, wie sie mit ihren Toten umgeht: Trauernd, sorgend, ehrend oder gleichgültig, verdrängend, gleichsam entsorgend.

Wer aber den Tod ausblendet, wer sich der Toten nur entledigt, der wird auch dem Leben und den Lebenden nicht den Respekt entgegenbringen, ohne den es keine Zivilisation gibt. Der Aufgabe gerecht zu werden, der sich im besonderen Maße der Volksbund stellt, ist nicht nur für uns Deutsche wichtig. Es ist ebenso bedeutsam für die Beziehungen insbesondere zu unseren Nachbarvölkern und -staaten im Geist der Versöhnung und der Partnerschaft.

Mit dem Gedenken an das furchtbare Leid vergangener Tage geht eine eindringliche Mahnung an uns Lebende einher: Die Ermahnung, uns immer wieder für Frieden einzusetzen und entschieden gegen Unfreiheit, Krieg, Gewalt und Terror vorzugehen.

Der Volksbund hält mit seinem Engagement diese Mahnung aufrecht. Er trägt sie besonders durch seine Jugendarbeit auch in die Zukunft. Für sein Wirken danke ich dem Volksbund an dieser Stelle ganz ausdrücklich!

Der Volkstrauertag ist Auftrag für uns alle. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es trotz aller Friedensbemühungen zahllose Konflikte in der Welt gegeben. Und es gibt sie auch heute. Frieden und Verständigung sind in vielen Regionen der Welt auch heute nicht erreicht, nicht gesichert und schon gar nicht selbstverständlich. Wir sehen uns einer Vielzahl neuer, so genannter asymmetrischer Bedrohungen gegenüber. Dazu zählen der internationale Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.

Solcher Bedrohungen kann in einer immer kleiner werdenden Welt kein Staat alleine Herr werden. Aber gemeinsam mit unseren Freunden, Partnern und Verbündeten können wir das schaffen. Dazu müssen wir ein umfassendes Maßnahmenbündel zur Konfliktprävention und Konfliktbewältigung schnüren. Dazu sind selbstverständlich auch Sicherheitsmaßnahmen unerlässlich.

Um aber Terrorismus und jeder Form von Extremismus wirksam entgegenzutreten, reichen sie allein nicht aus. Wichtig ist vielmehr der Dialog der Kulturen und Religionen. Diesen Dialog müssen wir entscheidend verstärken? in unserem Land, aber auch international.

Europa hat erfahren, welch ein Schatz Frieden und Freiheit sind. Die europäische Einigungsidee war die Antwort auf jahrhundertelange so genannte Erbfeindschaften, Krieg und Gewalt. Sie ist schon deshalb eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die schließlich auch zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas führte.

Nach dem Ende des Kalten Krieges ist Europa zusammen mit unseren Partnern in der Transatlantischen Gemeinschaft stärker denn je gefordert. Wir müssen Verantwortung in der Welt übernehmen. Auch Deutschland kann und will sich dem nicht entziehen. Deshalb beteiligen wir uns im Rahmen der NATO und der UNO an friedenswahrenden und friedensherstellenden Einsätzen. Dieses deutsche, europäische und transatlantische Engagement ist auch ein Vermächtnis der Kriegstoten.

Wir wissen dabei: Bei diesen Einsätzen mussten wir junge Menschen auch in eine Situation bringen, in der sie ihr Leben riskieren? einige haben es auch verloren. Auch ihrer gedenken wir heute.

Denjenigen Deutschen? seien es Soldaten, Polizeibeamte oder Zivilisten? , die sich bei diesen Einsätzen verantwortungsvoll engagieren, gilt unser Respekt und unsere Dankbarkeit. Wir wissen um die Sorgen ihrer Angehörigen und Freunde.

Meine Damen und Herren, der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker hat einmal gesagt: "Wer zweifelt, wer auch an Europa verzweifelt ( ... ) , der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen." Es ist deshalb so großartig, dass für die Jugend Europas Krieg zwischen den Staaten unserer Europäischen Union heute undenkbar ist. Das ist ein unschätzbares Gut. Dennoch sollten wir nie vergessen, dass Frieden immer alles andere als selbstverständlich ist. Er ist ein Schatz, den es zu pflegen und zu bewahren gilt. Er ist wohl das beste Erbe, das wir künftigen Generationen vermachen können.

Wir gedenken heute der Toten und sind uns dabei dieses Erbes bewusst. Es ist unser Auftrag für die Zukunft.