Redner(in): Angela Merkel
Datum: 10.05.2007

Untertitel: am 10. Mai 2007 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Neher, sehr geehrter Kardinal Sterzinsky, sehr geehrter Kardinal Lehmann, liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/05/2007-05-10-merkel-charitas,layoutVariant=Druckansicht.html


ich darf im Namen auch der anwesenden Staatssekretäre Ihnen, dem Deutschen Caritasverband, den hauptamtlichen Mitarbeitern und den Ehrenamtlichen, einen ganz herzlichen Gruß der Bundesregierung ausrichten. Recht herzlich danke ich Ihnen dafür, dass Sie mich eingeladen haben, heute auf Ihrem Jahresempfang dabei zu sein. So kann ich auch würdigen, was Sie an Arbeit für unsere Gesellschaft leisten; für eine Gesellschaft, die menschlich sein soll und die ihre Menschlichkeit natürlich in ganz besonderer Weise gegenüber Kindern zum Ausdruck bringen kann Kindern, die wir für unsere Zukunft brauchen, die die Zukunft unseres Landes sind.

Es trifft wohl zu, dass unsere Gesellschaft, was den Wohlstand anbelangt, nicht auf den letzten Plätzen der Welt zu finden ist, jedoch, was die Kinderfreundlichkeit anbelangt, leider zu wünschen übrig lässt. Deshalb unterstütze ich die Initiative, die auch Sie hier diskutieren: "Mach dich stark für starke Kinder." Es gibt dazu eine begleitende Kampagne mit den Motiven einer jungen Prinzessin und kleiner Supermänner. Mir hat besonders die Prinzessin gefallen, die ganz selbstbewusst sagt: "Ich kann ganz viel, du musst mich nur lassen!" Das zeigt doch etwas von dem Menschenbild, das uns eint; ein Menschenbild, das auf Subsidiarität aufbaut, das die kleinen Einheiten angefangen in der Familie stärken möchte, das aber auch Hilfestellung bietet, wenn Familien nicht das leisten können, was Kinder brauchen.

Deshalb glaube ich, dass wir, wenn wir über die "Befähigungsinitiative" sprechen jedenfalls ist das seit den Zeiten, in denen ich Jugendministerin war, immer mein Credo gewesen, bei den Eltern ansetzen sollten, bevor wir zu staatlichen Aktivitäten übergehen; nicht, weil ich glaube, dass der Staat nicht gebraucht würde, sondern weil ich glaube, dass es für Eltern das allerschönste und erfüllendste Gefühl ist, wenn sie den Eindruck haben: Ich kann meinen Kindern das geben, was sie brauchen. Da, wo das nicht der Fall ist, muss natürlich staatliches Handeln, muss Handeln von Verbänden, von Vereinigungen eintreten das steht völlig außer Frage. Aber ich glaube, wir brauchen in unserer Gesellschaft vor allen Dingen niederschwellige Angebote vor Ort, die nicht erst dann greifen, wenn etwas Schwerwiegendes vorgefallen ist. Das Herauskommen aus der Stigmatisierung, wenn ich Hilfe annehme, ist, glaube ich, der allererste Schritt, der sicherlich auch von Ihnen in ganz besonderer Weise unterstützt wird.

Ihre Kampagne das hat Kardinal Lehmann eben gesagt soll Profil haben. Ich glaube, dass es in unserer Gesellschaft dazu gehört, sehr offen zu sagen, dass unterschiedliche Organisationen und Wohlfahrtsverbände wie die Caritas ihre Quelle der Kraft aus dem christlichen Glauben schöpfen, weil das Ermutigung sein kann, so wie es für Andere andere Quellen geben mag. Aber es ist ganz wichtig, dass wir in unserer Gesellschaft offen darüber reden und uns dazu bekennen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir in der europäischen Diskussion so betrübt sind, dass sich dieses Europa so schwer tut, sich zu seinen geistigen und religiösen Wurzeln zu bekennen.

Des Weiteren geht es um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Kindern helfen, stark zu werden und die oft im Verborgenen, jedenfalls nicht jeden Tag gesellschaftlich wahrgenommen viel Arbeit, viel Kraft aufbringen, um jungen Menschen, um Kindern zu helfen. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Kindheit die prägende Phase ist, dass das, was in der Kindheit nicht geschafft, nicht erlebt, nicht erfüllt wurde, in der Erwachsenheit viel, viel schwerer oder gar nicht mehr nachzuholen ist, dann ist es allemal die Mühe, die Anstrengung, die Freude wert, sich gerade der Kinder in unserer Gesellschaft anzunehmen und dabei auch den Erwachsenen zu helfen, die diese Arbeit tun und die Erfolge haben, aber eben oft auch frustrierende Erlebnisse, über die in unserer Gesellschaft viel weniger gesprochen wird als über technische Defekte und das, was im öffentlichen Leben sichtbar nicht klappt. Deshalb ein herzliches Dankeschön all denen, die helfen, denen, die in der Jugendarbeit, in der Kinderarbeit tätig sind, die auch die tägliche Kraft aufbringen, sich weiter zu engagieren.

Ihre "Befähigungsinitiative" ist auch deshalb so wichtig, weil durch sie auch deutlich wird, wie viele Menschen es gibt, die in diesem Bereich tätig sind. Das sollten eher mehr werden als weniger. Ich will an dieser Stelle auch sagen, dass wir immer in einem Wettstreit oder einem Disput darüber sind, wie sich das hauptamtliche Engagement zum ehrenamtlichen Engagement in unserer Gesellschaft verhalten muss. Die Bundesregierung hat vor kurzem ein Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts in den Deutschen Bundestag eingebracht. Aber ich will ausdrücklich sagen: Ehrenamt ohne notwendige institutionelle Voraussetzungen, ohne eine gewisse professionelle Struktur wird sich verzehren. Deshalb ist es sehr wichtig, hier die richtige Kombination hinzubekommen, ohne jedes ehrenamtliche Engagement professionalisieren zu wollen. Es geht immer um die Balance.

Wir haben seitens der Bundesregierung einen starken Akzent auf Kinder- und Jugendpolitik gesetzt, und zwar mit verschiedenen Facetten. Ich möchte nicht alle Modellprojekte aufzählen, will aber auf einige Dinge eingehen.

Die Mehrgenerationenhäuser, die unsere Ministerin initiiert hat, sind ein wichtiges Beispiel, um die Notwendigkeit des Kontakts zwischen den Generationen wieder ins Bewusstsein zu bringen. Wir werden ja dramatische Veränderungen unseres Bevölkerungsaufbaus und damit auch der Familienstrukturen haben. Es wird für starke Kinder notwendig sein, dass sie auch starke Ältere erleben, dass sie mit ihnen in Austausch treten. Achtung und Respekt vor dem Alter sind eine notwendige Voraussetzung, um selbst ein starker Erwachsener zu werden. Auch der Erfahrungsaustausch ist unbedingt notwendig.

Wir haben durch die Tatsache überwiegend kleiner Familien gerade in den großen Städten einen unglaublich großen Druck innerhalb der Familien auf die Eltern, alles leisten zu müssen, wo früher in größeren Familienverbänden sehr viel mehr "Auslauf" möglich war. Wenn man sich als Kind mit den Eltern gezankt hatte, ist man zur Großmutter oder zur Tante gegangen und einigermaßen entspannt wieder zurückgekehrt. Dann war mancher Konflikt gelöst. Wenn sich alles in einer Wohnung mit 55 oder 70 m ² abspielt und auch die "Auslaufräume" viel kleiner sind, bringt das völlig neue Probleme mit sich. Deshalb kann man nicht sagen, dass es heute leichter sein müsste, Kinder zu erziehen. Es ist unter dem Gesamtdruck einer Gesellschaft eine ziemlich komplizierte Aufgabe. Und deshalb bedarf es der Hilfsangebote.

Wir haben sehr viele Initiativen entwickelt und werden es gemeinsam mit den Ländern weiterhin tun. Ich bin froh, dass auch die Bundesagentur für Arbeit hier vieles dafür tut, dass Kinder von der Schule auf den Ausbildungsweg kommen. Wir wissen, dass die Kinder zehn oder mehr Jahre zur Schule gehen und anschließend trotzdem vor der Tatsache stehen, entweder keine Berufsausbildung zu finden oder aber als junge Menschen eingestuft zu werden, die, wie es dann heißt, nicht ausbildungsfähig sind. Ich glaube, ein Land kann es sich nicht leisten, dass Menschen, die zehn Jahre zur Schule gegangen sind, anschließend von denen, die eine Ausbildung anbieten, so bewertet werden, als könnten sie keine Ausbildung schaffen. Das kann nicht allein an den Kindern liegen, sondern da müssen Schulpläne und Ausbildungswege besser aufeinander abgestimmt werden.

Wir haben auch die Situation ich bin sehr froh, dass hier auch ein gesamtgesellschaftliches Umdenken stattgefunden hat, dass die vielen jungen Menschen mit Migrationshintergrund mehr in die Diskussion gerückt sind, und zwar in zweierlei Hinsicht.

Erstens. Eine Gesellschaft kann durchaus Erwartungen äußern. Eine Erwartungshaltung ist: Wer in Deutschland lebt und in die Schule kommt, muss die deutsche Sprache so weit beherrschen, dass er dem Lehrer wenigstens in den ersten Jahren folgen kann. Denn alles andere hat jahrelange Konsequenzen. Wenn man in Kindergärten evangelische oder katholische einiger Berliner Bezirke geht, wird man allerdings erleben, wie schwer die konkrete Arbeit ist. Denn in einigen Regionen sind in Kindergartengruppen 19Nationalitäten vertreten, die von Kindergärtnerinnen und Kräften betreut werden, die kein Geld dafür bekommen, einen Sprachkurs zu besuchen, um einige der Kinder in der Gruppe verstehen zu können. Wir erleben, wie die Kinder einander austricksen oder auch versuchen, die Betreuerinnen auszutricksen. Dann entschwindet einem das Gefühl, das einen, wenn man sich so etwas aus einer gewissen Distanz ansieht, sagen lässt: Es muss doch einmal möglich sein, dass, wenn die Kinder den ganzen Tag im Kindergarten sind, die deutsche Sprache lernen. Dieses Gefühl entschwindet sehr schnell in dem Gewusel lebhafter junger Menschen, die von ihrem Zuhause leider manchmal nicht das mitbekommen, was sie mitbekommen sollten. Das sind die Persönlichkeiten unserer Gesellschaft, die mehr Beachtung, mehr Aufmerksamkeit und wirklich mehr Unterstützung bekommen sollten. Dafür werden wir uns auch einsetzen.

Der zweite Aspekt bezüglich der Migrantinnen und Migranten wir haben zum Thema gerade einen Gipfel im Kanzleramt durchgeführt lautet: Wir müssen Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen, als Bereicherung unserer Gesellschaft begreifen. Das war schon immer so. Wenn man sich einmal anschaut, dass Europa schon vor Jahrhunderten sehr eng zusammengewirkt hat, stellt man fest, dass wir auch als Gesellschaft diese Offenheit aufbringen müssen. Denn auch das stärkt das Selbstbewusstsein junger Menschen, die zu uns kommen und eben nicht immer in ihre eigene Gruppe hineingedrängt werden wollen, sondern offen sein wollen für unsere Gesellschaft insgesamt.

Meine Damen und Herren, wir haben eine Familienministerin, die immer wieder darauf hinweist, dass die demographische Herausforderung, dass wir erfreulicherweise älter werden, allerdings unerfreulicherweise weniger Kinder haben, von uns auch als eine Gegebenheit angenommen werden sollte, aus der wir eine Chance machen. Diese Chance heißt, kinderfreundlicher zu werden, den jungen Menschen die Zukunft zu ermöglichen, die sie haben könnten, und ihnen die entsprechenden Chancen zu geben. Ich danke der Caritas ganz herzlich dafür, dass sie uns auf diesem Weg begleitet, dass die Caritas aktiv ist, dass sie uns mahnt und natürlich auch fordert.

Ich darf Ihnen sagen: Wir haben verstanden, dass wir nicht nur mehr Betreuungsangebote von den Kommunen und den Ländern fordern können, sondern dass sich, da wir ein solch großes Problem haben, auch der Bund daran beteiligen muss. Wir werden die geeigneten Wege ausarbeiten. Die Eltern und Kinder werden für feinsinnige Diskussionen über Zuständigkeiten im konkreten Fall wahrscheinlich nur sehr begrenzt Verständnis haben.

Ich glaube, wir haben eine gute Chance, wenn wir in unserer Gesellschaft zusammenstehen. Wir werden daran gemessen, wie wir mit unseren Kindern umgehen, wie wir sie in unserer Gesellschaft leben lassen, wie wir sie heranbilden lassen. Deshalb ein herzliches Dankeschön, dass Sie dieses Thema noch einmal ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt haben, dass Sie diesen Empfang auch unter dieses Motto gestellt haben.

Lassen Sie uns weiter zusammenarbeiten, Sie manchmal auch mit mahnender Stimme, damit wir in der Vielzahl unserer politischen Herausforderungen die Menschen mit ihren Problemen und Sorgen nicht vergessen und wir, die wir Ihnen danken dürfen, dass Sie sich so für unsere Gesellschaft engagieren. Herzlichen Dank!