Redner(in): Michael Naumann
Datum: 19.05.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/14849/multi.htm


Kultura: Braucht man heute ein Kulturministerium, ist eine Frage, die in den bulgarischen Medien sehr heftig diskutiert wird. Sie sind der erste Beauftragte für Kultur und Medien in der Bundesregierung. Was sagt Ihre Erfahrung - braucht man ein Kulturministerium?

Naumann: Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sinnvoll gewesen ist, der Kultur- und Medienpolitik in unserer Regierung einen neuen Stellenwert zu verschaffen. Um aber Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt in der Bundesrepublik kein Kulturministerium, wie Sie es vielleicht aus Frankreich oder aus Russland kennen. Deutschland ist erst zu einem historisch relativ späten Zeitpunkt ein Nationalstaat geworden - auch deshalb ist unsere Kultur sehr durch regionale Einflüsse geprägt. Das ist neben den schlimmen Erfahrungen mit einer zentralistischen Kulturpolitik während der NS-Zeit der wesentliche Grund dafür, warum es in Deutschland vor allem die Aufgabe der 16 Bundesländer ist, diesen kulturellen Reichtum in seiner Vielfalt zu fördern und zu bewahren.

Die überregionale Bedeutung der Kulturpolitik und die Notwendigkeit, sie auch auf europäischer Ebene besser zu koordinieren, hat Bundeskanzler Schröder jedoch bewogen, das Amt eines Staatsministers für Kultur und Medien zu schaffen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sitzt nun jemand am Kabinettstisch, der für den Bereich Kultur und Medien des Bundes die Verantwortung trägt.

Kann man das so verstehen, dass Sie eine Art Ideengeber sind und Anregungen aufgreifen, während ihre Mitarbeiter diese sowohl realisieren als auch kontrollieren sollen?

Nein, natürlich nicht. Unsere Arbeit wird im Deutschen Bundestag von einem Ausschuss für Kultur und Medien begleitet. Dieses Kontrollorgan ist der Ansprechpartner für die Kultur auf parlamentarischer Ebene und bietet ein Podium, auf dem die Kulturförderung der Bundesregierung von den Abgeordneten thematisiert, diskutiert und natürlich auch kritisiert werden kann.

Inwieweit kann die Kulturadministration den Kulturprozess bestimmen?

Ich habe ein tiefes Misstrauen, was staatliche Interventionen in kulturelle Prozesse anbelangt. Das hängt nicht nur mit den oben erwähnten Erfahrungen der Deutschen aus der Zeit des Nationalsozialismus zusammen, sondern berührt die grundsätzliche Vorstellung von dem, was Aufgabe des Staates ist, und was nicht. Wir haben keine regierungsamtlichen Zielvorgaben für einen Kulturprozess. Die Aufgabe unserer Behörde sehe ich vielmehr darin, möglichst gute und verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die die kreative Entfaltung von Kultur in ihren vielfältigen Ausprägungen ermöglicht und befördert. Den nationalen Minderheiten widmen wir in diesem Zusammenhang unsere besondere Aufmerksamkeit, denn das Verhältnis eines Staates zu seiner Kultur äußert sich eben auch in dem Stellenwert, den er seinen Minoritäten beimisst.

Wie soll der moderne Staat die Nationalkultur unter den Bedingungen der Marktwirtschaft unterstützen?

Im Mittelpunkt unserer Kulturpolitik steht die Förderung der Künste. Künstler sind angewiesen auf Auftritts- und Ausstellungsmöglichkeiten, auf interessiertes Publikum, und sie brauchen Zutrittschancen zum Kunstmarkt. Dafür gibt es selbstverwaltete Institutionen, Interessenvertretungen und Verbände, die sich um die sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen der künstlerischen Arbeit kümmern. Ohne deren Aktivitäten ist die Vielfalt des kulturellen Lebens in Deutschland nicht vorstellbar. Der Staat hat vor allem dafür zu sorgen, diese, wenn Sie so wollen, kulturelle Infrastruktur zu erhalten und zu erneuern. Er trägt dadurch dazu bei, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Künstlerinnen und Künstlern erlauben, frei und möglichst sozial abgesichert zu arbeiten. Mit dieser Aufgabe wäre der Staat allein allerdings überfordert. Auch die Länder und Gemeinden, die Künstler und Verbände, selbstverwaltete Organisationen und nicht zuletzt die Wirtschaft müssen ihre Beiträge für ein reges Kunst- und Kulturleben leisten. Mit der Reform des Stiftungsrechts wollen wir dem Rechnung tragen: Verstärkt soll auch privates Kapital für gesellschaftliche und kulturelle Aufgaben gewonnen werden. Hierin sehe ich eine Hauptaufgabe der Kulturpolitik in der Marktwirtschaft: Anstöße und, wenn es Not tut, auch Unterstützung zu geben, damit mit der wirtschaftlichen Wohlfahrt eines Landes auch ein reiches geistiges und kulturelles Leben einhergeht. In diesem Sinne ist staatliche Kulturförderung nach meinem Verständnis auch mehr als die Verwaltung von Fördermitteln.

Gibt es Regelungen in der Kultur, die jeder EU-Mitgliedstaat berücksichtigen soll?

Kulturpolitik im Rahmen der EU ist für uns nicht schmückendes Beiwerk für die "eigentlichen" Aufgaben der EU, sondern integraler Bestandteil aller Bereiche der europäischen Politik. Gerade die kulturelle Vielfalt macht Europa so reich. Durch zu starre Vorgaben der Politik würde diese Vielfalt eingeschränkt werden. Die Gemeinschaft sieht es deshalb als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt zu leisten und gleichzeitig das gemeinsame kulturelle Erbe hervorzuheben. Nur dort, wo es die Europäische Union für den kulturellen Bereich als wichtig und sinnvoll erachtet, z. B. bei der Koordinierung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften in den Mitgliedstaaten, erlässt sie Richtlinien oder Verordnungen zu deren Harmonisierung.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Ein Beispiel ist die Richtlinie über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates verbrachten Kulturgütern oder auch die Verordnung über die Ausfuhr von Kulturgütern, die nun überall in der EU Gültigkeit haben.

Sie waren Leiter des Rowohlt-Verlages und zu Ihrer Zeit verdoppelte der Verlag seinen Umsatz binnen eines Jahrzehnts. Gibt es eine Formel des Erfolgs im Verlagswesen?

Diese Formel gibt es nicht - für keine Branche. Und wenn es sie gäbe, würden Sie sie an meiner Stelle in einer Zeitung veröffentlichen?

Mich interessiert außerdem die Zusammenarbeit zwischen den privaten Verlagen und den Staatsbibliotheken. Werden die Verlage durch den Staat verpflichtet, Exemplare von allen Büchern den Bibliotheken zu überlassen?

Wegen der föderalen Struktur in Deutschland verfügen die 16 Bundesländer über eigene zentrale Bibliotheken, wie Staats- , Landes- oder Universitätsbibliotheken, die in aller Regel ein Pflichtexemplarrecht haben. Das bedeutet, dass von jeder Publikation, die in einem Bundesland verlegt wird, ein Freiexemplar an dessen zentrale Bibliothek abzuliefern ist. Die Bibliotheken erwerben für ihr Sammelgebiet zusätzlich benötigte in- und ausländische Literatur von den Verlagen.

Für den Bundesstaat gibt es ebenfalls ein gesetzlich verankertes Pflichtexemplarrecht. Dieses wird von der Deutschen Bibliothek als zentraler Archivbibliothek der Bundesrepublik wahrgenommen. Sie gehört zu meinem Geschäftsbereich und hat Standorte in Leipzig ( Deutsche Bücherei ) , Frankfurt am Main ( Deutsche Bibliothek ) und Berlin ( Deutsches Musikarchiv ) . Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, das gesamte deutschsprachige Schrifttum, alle in Deutschland verlegten Publikationen, fremdsprachige Publikationen über Deutschland sowie Noten und Tonträger ab 1913 zu sammeln, zu archivieren und bibliographisch zu verzeichnen. Von den in Deutschland verlegten Publikationen haben die Verleger je ein Freiexemplar an die Deutsche Bücherei und die Deutsche Bibliothek abzuliefern. Traditionsgemäß bestehen enge Beziehungen zwischen der Deutschen Bibliothek, den Verlagen und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der Dachorganisation der deutschen Verleger. So gehören z. B. drei Vertreter des Börsenvereins dem aus elf Mitgliedern bestehenden Verwaltungsrat der Deutschen Bibliothek an. Darüber hinaus besteht in der bibliotheksfachlichen und verlegerischen Arbeit eine sehr enge Kooperation zwischen diesen Einrichtungen.

Während der Berlinale haben Sie erklärt, dass die Staatssubvention für den Film von 15,5 Millionen auf 18 Millionen Mark erhöht wird. Wie haben Sie sich mit dem Finanzministerium verständigt? Hinzu kommt die Filmförderung der Länder. Wie umfangreich ist die Filmförderung in Deutschland insgesamt? Wie viele deutsche Kinofilme werden jährlich davon produziert? Wie sehen Sie die Beziehung Kino - Fernsehen?

1999 standen für die Filmförderung von Bund und Ländern etwa 350 Millionen Mark zur Verfügung, davon für die Spielfilmproduktion ungefähr 210 Millionen Mark. Im gleichen Zeitraum wurden 74 deutsche Spielfilme uraufgeführt, davon 35 Koproduktionen. An fast allen deutschen Spielfilmen sind die Fernsehsender - sowohl öffentlich-rechtliche als auch private - als Koproduzenten oder als Vorab-Ankäufer der Ausstrahlungsrechte beteiligt. Mir geht es darum, dass die Produzenten von Spielfilmen gegenüber dem Fernsehen in ihren Rechten gestärkt werden und dass nach einer möglichst kurzen Zeit die Ausstrahlungsrechte an die Produzenten zurückfallen. Nur so, das ist meine feste Überzeugung, können auf Dauer leistungsfähige Filmproduzenten entstehen.

Was planen Sie noch zur Stärkung der nationalen Filmwirtschaft? Wie sehen Sie die Rolle der europäischen Koproduktion?

Auf nationaler Ebene geht es darum, in einem ständigen Diskussionsprozess zwischen den Filmförderungseinrichtungen des Bundes und der Länder zu einer besseren Koordinierung der Filmförderung zu gelangen. Darüber hinaus müssen die steuerrechtlichen und die medienwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Investitionen von privatem Kapital in die Filmproduktion, zum Beispiel über Medienfonds, verbessert werden. Wir wollen erreichen, dass die Filme der europäischen Nachbarländer bei uns und umgekehrt wieder stärker wahrgenommen werden. Dafür sind europäische Koproduktionen von großer Bedeutung. Ich bin deshalb mit Frankreich, Italien und Spanien in ständigem Gespräch, mit Italien und Spanien sind neue Abkommen abgeschlossen worden, mit Frankreich wird im Rahmen der Gespräche über die Deutsch-Französische Filmakademie ebenfalls eine Veränderung des Koproduktionsabkommens ins Auge gefasst.

In einem Interview haben Sie gesagt, dass der Begriff des unabhängigen Produzenten eine Fiktion sei: "Unabhängig heißt jedoch heute in Wirklichkeit meist nichts anderes als 'unterfinanziert" ". Von wem hängt der Produzent heute ab?

Sie haben recht, es ist nicht ganz leicht, den Begriff des unabhängigen Produzenten zu definieren. Ich meine damit: unabhängig von den großen Medienkonzernen. Angesichts der zunehmenden Konzentration im Filmproduktions- und Verleihbereich wird es für "unabhängige Produzenten" in der Tat immer schwieriger, sich auf dem Markt zu behaupten. Die meisten deutschen Filmproduzenten hängen in erster Linie von den öffentlichen Filmförderern oder vom Fernsehen ab. Dies muss sich auf mittlere Sicht ändern.

Nach der Postenbenennung sind Sie auch Beauftragter für Medien. Ist das mehr ein Wunsch, oder können Sie reale Macht auf die Medien ausüben?

Das kann und sollte der Staat nicht, auch nicht in Gestalt des Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Medien. In Deutschland ist die Pressefreiheit eines der wichtigsten verbrieften Grundrechte - durch unsere Verfassung garantiert. Der freien Presse kommt eine wichtige Aufgabe in einem demokratischen Staat zu: Sie hat die Arbeit der Regierung und des Parlaments zu kontrollieren und für die Bürgerinnen und Bürger zu vermitteln - in der Regel kritisch kommentierend. Diese Freiheit ist allerdings nicht grenzenlos. Die allgemeinen Gesetze sowie Jugend- und Ehrschutz müssen selbstverständlich von allen Medien beachtet werden. Gleichwohl ist es nicht meine Aufgabe, die Einhaltung von gesetzlichen Schranken zu kontrollieren, sondern das ist in Deutschland grundsätzlich Sache der Medien selbst. Diese mediale Selbstkontrolle ist aus meiner Sicht in einer freiheitlichen Demokratie unverzichtbar. Sie muss grenzüberschreitend geregelt werden, wobei zunächst die EU-Mitgliedstaaten gefragt sind. Doch um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Meine Handlungskompetenz im Medienbereich bezieht sich im wesentlichen auf die Filmförderung, auf die ich ja zuvor schon eingegangen bin.

Wenn Sie das Wort Bulgarien hören, welchen Namen eines Vertreters der bulgarischen Kultur können Sie gleich nennen?

Spontan fällt mir sofort Christo ein, der zusammen mit seiner Frau Jeanne-Claude 1995 den Berliner Reichstag "eingepackt" und mit diesem Ereignis über Wochen für hitzige Diskussionen über das Verhältnis von Kunst und Politik gesorgt hat. Außerdem verbinde ich mit der bulgarischen Kulturtradition den Namen Kyrill. Und was die Musik anbetrifft, so erinnere ich mich mit großer Bewunderung an Boris Christoff.