Redner(in): Angela Merkel
Datum: 30.05.2007

Untertitel: am 30. Mai 2007 in Berlin
Anrede: Sehr geehrte Frau Generaloberin Schipplick, Sie alle, die Sie hier stellvertretend für die 20.000 Schwestern heute anwesend sind, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Wowereit, sehr geehrter Herr Präsident, lieber Rudolf Seiters, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/05/2007-05-30-merkel-schwesternschaft,layoutVariant=Druckansicht.html


ich bin in der Tat sehr gerne heute zu Ihnen gekommen. Allerdings hat der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes einen gewissen Anteil daran, weil ich doch zuerst nachgefragt habe: Was ist denn das heute genau? Sollte ich nicht lieber zum Dachverband kommen? Er hat mich ermutigt und gesagt: Das ist wichtig, das ist richtig, ein Besuch der Jubiläumsfeier ist ein Beitrag zur Ehrung des gesamten Deutschen Roten Kreuzes. Deshalb bin ich ganz besonders gerne hierher gekommen, um Ihnen heute auf Politikerart zu gratulieren, nämlich mit einer Rede anlässlich 125 Jahre Dienst am Nächsten."Pflegen - Betreuen - Ausbilden im Zeichen der Menschlichkeit" ein Leitbild, das auch heute nichts an Aktualität verloren hat und das seit 125 Jahren gilt. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der wir stolz darauf sind, dass es viele individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Aber wir wissen, dass ohne Menschlichkeit und ohne die Tatsache, dass Menschen miteinander in Kontakt treten und wir uns auf Hilfe verlassen dürfen, diese Gesellschaft auch die Entfaltung des Einzelnen nicht möglich machen würde. Menschlichkeit ist das oberste Prinzip Ihrer Arbeit. Das hat die Präsentation gezeigt. Das haben die bisherigen Worte gezeigt. Ich will auch noch einmal auf die Menschlichkeit, die Sie praktizieren, und auf die Grundsätze zurückkommen, die Ihrer Arbeit zugrunde liegen: Unparteilichkeit, Neutralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität. Sie helfen unparteilich, ohne nach Ansehen, Religion oder Nationalität zu fragen. Sie packen einfach dort an, wo die Not am größten ist. Das ist die Umsetzung dessen, was in Art. 1 des Grundgesetzes steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Sie ist unteilbar. Genau das leben Sie. Sie sind neutral in all den Fragen, die Menschen und Staaten häufig trennen. Das sagt sich so leicht. Aber da jeder von Ihnen natürlich auch eine Meinung hat, ist diese Neutralität etwas, was man sich erarbeiten muss, damit es eine menschliche Neutralität ist. Über diese Neutralität gewinnen Sie Vertrauen Vertrauen, das natürlich insbesondere in der Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten notwendig ist, aber auch in vielen menschlichen Konflikten. Insofern ist es ein ganz wichtiges Prinzip. Sie arbeiten unabhängig und freiwillig und trotzdem als Teil einer großen starken Einheit. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes hat das eben dargestellt. Ihr Wirken ist universal und weltweit gegenwärtig. Auch das eint. Wir sprechen so viel von Globalisierung. Sie leben das ein Stück weit, weil Sie in einem großen Verbund zu Hause sind. Ihre Menschlichkeit kennt also keine Grenzen. Diese Menschlichkeit ist etwas, wovon unser Gemeinwesen lebt und das wir nicht durch Gesetze erzwingen können, sondern sie ist einfach ein Geschenk für uns alle. Es ist gut zu wissen, dass es Menschen wie Sie gibt, wenn Not am Mann bzw. an der Frau ist. Deshalb ist dies heute eine Stunde, in der ich Dank sagen möchte Dank auch im Namen vieler, die von Ihren Leistungen nicht nur profitieren, sondern die an Ihren Leistungen teilhaben. Nun ist es so mit den Danksagungen, dass sie natürlich keine Sonntagsreden sein dürfen, sondern wir haben vielmehr die Pflicht, möglichst gute Bedingungen für Ihr Wirken zu gestalten. Als Ihr Verband vor 125 Jahren gegründet wurde, ging es erst einmal darum, die Qualität der Krankenpflege zu verbessern: Eine bessere Ausbildung für Schwestern, Anerkennung der Arbeit als Beruf und die Sorge dafür, dass sie selbst, die sie für andere Menschen da sind, im Alter und bei Krankheit auch versorgt sind. Erinnern wir uns einmal daran, dass verheiratete Frauen früher nicht berufstätig sein durften. Das galt man mag es kaum glauben in den DRK-Schwesternschaften immerhin bis 1960. Das hieß, die Schwestern waren nicht über eine Ehe versorgt. Darum garantierten die Schwesternschaften dann auch den notwendigen Schutz bei Krankheit und Alter. Die Gründerinnen und Gründer des Verbandes wussten: Wer kranken oder verletzten Menschen wirksam helfen will, braucht zum einen eine gute Ausbildung. Zum anderen: Je geringer die Sorgen um die eigene Existenz sind, umso mehr kann ich mich natürlich für das Schicksal anderer Menschen öffnen. Hervorgegangen sind die Rotkreuz-Schwesternschaften aus Frauenvereinen, in denen sich Mitte des 19. Jahrhunderts Krankenpflegerinnen zusammengeschlossen hatten. Diese Frauen kämpften um die Anerkennung ihres Berufs. Sie gingen neue Wege in der Ausbildung. Die Krankenpflege wurde immer professioneller. Man muss allerdings sagen: 1882 wurde der Zusammenschluss der schon länger bestehenden Rotkreuz-Schwesternschaften in erster Linie von Männern betrieben. Ich würde sagen: Unter dem Strich von weitsichtigen Männern. So war das also damals. Fürsorge- und Schutzgedanken spielten eine Rolle, aber eben auch die Rollenzuweisung der Schwester als Gehilfin des Arztes. In den ersten 45 Jahren leiteten dann auch Männer die Geschicke des Verbandes, bis schließlich eine Frau den Vorstand übernahm; und es ist, wie ich glaube, nichts Schlimmes passiert. Das hat dann dazu geführt, dass wir nicht etwa auch von Bruderschaften sprechen mussten, sondern weiter von Schwesternschaften sprechen konnten. Aber es zeigt sich jedenfalls, dass die Idee, die Henry Dunant, der hier schon genannt wurde, aufgebracht und gelebt hat, ganz wesentlich eben auch von Frauen aufgegriffen und umgesetzt wurde. Die Rotkreuz-Schwesternschaften sind sich durch die Zeit hindurch treu geblieben: Ihrem Ideal von Menschlichkeit und dem Ziel, ihren Beruf zum Wohle der Menschen weiterzuentwickeln. Das ist überhaupt nur möglich gewesen, weil sie sich von Anfang an als Wertegemeinschaft verstanden haben, in der der christliche Glaube auch immer eine wesentliche Quelle ihrer Kraft war. Ich glaube, eine solche Wertegemeinschaft ist sehr wichtig, denn nur das gemeinsame Verständnis von unseren Werten, die uns einen, ermöglicht auch ein Tätigwerden in unserer Gesellschaft. Freiheit und Toleranz, Eigenverantwortung und Solidarität gehören eben ganz eng zusammen. Sie waren immer ein starker Teil des gesamten Roten Kreuzes. Das Deutsche Rote Kreuz ist einer der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland und ein wichtiger Partner für den Sozialstaat. Nicht umsonst haben die Wohlfahrtsverbände im Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland einen privilegierten Status. Dieser Status ist historisch gewachsen und gesetzlich abgesichert. Er beruht auf dem Subsidiaritätsprinzip und auf der tiefen Überzeugung der Politik, dass überall dort, wo Träger von sich aus bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, sie dies besser tun können, als wenn der Staat direkt eingreift. Deshalb ist es wichtig, dass wir diesen Grundsätzen auch weiter zum Leben verhelfen. Das heißt nämlich nicht, dass der Staat sich zurückziehen darf. Insofern ist der 125. Geburtstag der Schwesternschaften auch ein Tag, an dem wir nach vorne blicken wollen und müssen und uns auf die vor uns stehenden Herausforderungen einstellen müssen. Es ist heute schon die Rede davon gewesen, dass die demographische Entwicklung eine der dramatischen Veränderungen ist, die auf unsere Gesellschaft zukommen. Das ist nichts Schlechtes, aber es ist etwas Forderndes. Ältere Menschen in unserer Gesellschaft haben die Chance, viel länger menschlich leben zu können, sie haben aber auch die Erwartung, dass die Gesellschaft ihnen dabei hilft. Das ist die Herausforderung, denn das Miteinander der Generationen in größeren Familienverbänden ist längst nicht mehr selbstverständlich. Ich glaube, es ist richtig, wenn wir als Gesellschaft dies nicht als Bedrohung begreifen, sondern die Chance sehen, eine menschliche Gesellschaft auch unter veränderten Bedingungen zu gestalten. Dazu gehört für mich zuerst das ist etwas, was wir gemeinsam leisten müssen, dass wir unser Bild vom Alter weiterentwickeln. Das Alter als ein Lebensabschnitt mit Gebrechlichkeit, vielleicht Krankheit und Pflegebedürftigkeit ist nur ein kleiner Ausschnitt der Realität. Es ist heute nach der Berufstätigkeit ein längerer Abschnitt, in dem viele Menschen auch ihren Beitrag für unsere Gesellschaft leisten wollen und in dem lebenslanges Lernen genauso eine große Rolle spielt, wie es bei Jüngeren der Fall ist. Ruhestand ist also nicht der Zustand, in dem man in Ruhe ist, sondern in dem viele aktiv sind, in dem man Familien unterstützt, in dem man am Kulturleben teilnimmt, in dem man sich auch ehrenamtlich engagiert und sportlich aktiv ist. Wir wollen von politischer Seite dieses Engagement weiter stärken. Wir brauchen die Älteren. Wir brauchen die Älteren vor allen Dingen mit ihrem Wissen, mit ihrem Können, mit ihrer Erfahrung. Eine Gesellschaft, die die Älteren ausgrenzt und abschiebt in Richtung von bestimmten Gruppen, die sich um sie kümmern sollen, ist nach meiner festen Überzeugung keine menschliche Gesellschaft. So wollen wir mit unseren Veränderungen auch des Gemeinnützigkeitsrechts gerade Älteren sehr viel mehr die Chance geben, am gesamtgesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ich will zwei Beispiele für bürgerschaftliches Engagement nennen. Das sind auf der einen Seite die generationenübergreifenden Freiwilligendienste. Wir kennen Freiwilligendienste bisher nur als Orientierungs- und Lernphase für junge Menschen. Aber das muss nicht die einzige Möglichkeit bleiben. Wir haben auch sehr gute Erfahrungen mit generationenübergreifenden Freiwilligendiensten gemacht, an denen sich auch Ältere eine bestimmte Zeit lang beteiligen. Das Zweite, was mir sehr am Herzen liegt, sind die Mehrgenerationenhäuser. Wir brauchen einen engen Austausch von Generationen, auch wenn die Generationen heute nicht mehr so eng wie früher zusammenleben. Deshalb glaube ich, dass das Modellprojekt der Bundesregierung an dieser Stelle von allergrößter Bedeutung ist. Denn Kinder und Jugendliche lernen in Mehrgenerationenhäusern ältere Menschen kennen, ihre Erfahrung, ihren Humor. Jugendliche können dort Älteren z. B. bei der Bewältigung von neuen Techniken und vielem anderen mehr helfen. Mehrgenerationenhäuser geben dann auch Ihnen, die Sie sehr stark in der Pflege engagiert sind, die Möglichkeit, in Verbünde hineinzugehen. So müssen Sie sich nicht immer auf bestimmte ausgegrenzte Gruppen unserer Gesellschaft spezialisieren. Es gibt in unserer Gesellschaft einen Wettstreit zwischen Haupt- und Ehrenamt, zu dem ich auch den Erfahrungsaustausch mit Ihnen fortsetzen möchte. Der Präsident des DRK hat eben auf die vielen Ehrenamtlichen und natürlich auch auf die Hauptamtlichen im DRK hingewiesen, die Sie auch repräsentieren. Ich glaube, dass wir neue Wege finden müssen, Ehren- und Hauptamtlichkeit richtig und gut miteinander zu verzahnen. Auch hier sage ich wieder ganz ausdrücklich: Ehrenamtliche Strukturen ohne jede staatliche Unterstützung kann und wird es auf Dauer nicht geben. Auch sie brauchen eine gewisse Professionalität. Es ist hier heute schon sehr viel über das Thema Pflege und Gesundheitsversorgung gesprochen worden. Die Frage, ob Menschen in einer hochentwickelten, reichen Gesellschaft Sorge und Angst haben müssen, ob sie ihren fairen Anteil an den Möglichkeiten haben, gesund zu werden, ist die entscheidende Nagelprobe für unsere entwickelte Gesellschaft und auch für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Es gibt an vielen Stellen so etwas wie einen schleichenden Eingriff der Zwei-Klassen-Medizin. Ich möchte hier keine Vorlesung über die Gesundheitsreform halten, sondern sage nur, dass wir hier in einem andauernden Prozess immer wieder miteinander ringen müssen: Was ist notwendig? Was ist nicht unbedingt notwendig? Wie viel Wettbewerb können wir brauchen? Wie viel Eigenverantwortung ist möglich? Meine große Sorge das sage ich mit Blick auf die Gesundheitsdienste und ganz besonders auf die Pflege ist, dass Kreativität, Eigenverantwortlichkeit, Engagement, Liebe der einzelnen Akteure, wie Sie, die Schwestern, sie auch zeigen, durch Bürokratie sozusagen zunichte gemacht werden und einer Freudlosigkeit weichen könnten. Ich spreche das ganz offen an, weil das Problem noch nicht gelöst ist. Wir stehen hier vor der Frage: Sollen wir aus wenigen Missständen und Zwischenfällen, die durch nichts zu rechtfertigen sind, ein System von unendlicher Kontrolle über alle ziehen, um anschließend vielen die Freude, die Menschlichkeit, also die Motivation, die Sie leitet, zu verleiden? Oder müssen wir miteinander Wege finden, um dem einzelnen Pflegenden und das sind die Schwestern auch ein Stück Vertrauen entgegenzubringen und die Missstände dann im Einzelfall zu bekämpfen, aber ohne dabei alle Lebendigkeit und Menschlichkeit zunichte zu machen? Ich sage Ihnen ganz offen: Diesen Weg können wir ohne Ihre Erfahrung und ohne einen ehrlichen Austausch als Politiker alleine gar nicht gehen. Ich weiß nur, dass noch so viel Kontrolle, noch so viel Bürokratie und das Aufschreiben der einzelnen Handlungen mehr Frust und mehr Verdruss bereiten, als die Kraft, miteinander einen etwas offeneren Weg zu gehen. Darüber muss gesprochen werden. Das setzt auch voraus, dass man aus einzelnen Zwischenfällen nicht immer eine völlig unzulässige Verallgemeinerung zieht. Meine Damen und Herren, wir wollen nicht nur die Fragen von Bürokratie und Menschlichkeit weiter mit Ihnen besprechen, sondern wir wollen auch die Weiterentwicklung der Pflegeberufe. Sie haben davon gesprochen, dass hier eine Notwendigkeit einer hohen Qualifizierung gegeben ist. Von Anfang an haben die Schwesternschaften darauf geachtet, dass Pflege nicht als selbstverständliche Routine angesehen wird, sondern dass dies eine anspruchsvolle Tätigkeit ist, die genauso ein Recht auf Qualifizierung hat wie viele Dinge im technischen Bereich, bei denen man diese Frage gar nicht stellt. Ich glaube, auch hier geht es um eine grundsätzliche gesellschaftliche Weichenstellung, die Sie wiederum nicht alleine vornehmen können, sondern die wir nur gemeinsam erreichen können, nämlich in unserer Gesellschaft zu verankern, dass auf der einen Seite Hochtechnologien etwas sehr Sinnvolles, etwas Wichtiges sind, dass die entsprechenden Berufe geachtet und geehrt werden müssen ich sage das als Physikern auch voller Stolz, aber dass auf der anderen Seite die immerwährenden Versuche, Krankenpflege und Altenpflege, Kindergartenarbeit und vieles andere mehr sozusagen als etwas zu betrachten, das man ohne jede Ausbildung schon irgendwie leisten könne, in keine menschliche Gesellschaft führen. Deshalb brauchen Sie eine starke Lobby für Ihre Tätigkeit. Die Schwesternschaften sind der Raum, in dem Sie das artikulieren können. Das DRK ist das Dach, unter dem das auch weitergegeben wird. Deshalb würde ich sagen: Auch nach 125 Jahren müssen Sie weiter um Ihre Rechte kämpfen. Aber ich möchte Ihnen auch sagen, dass Sie ein offenes Ohr und auch einen offenen Geist in der Politik haben und dass wir Sie dabei unterstützen wollen. Herzlichen Glückwunsch, ein ganz herzliches Dankeschön und auf weitere gute Zusammenarbeit!