Redner(in): Angela Merkel
Datum: 27.06.2007
Untertitel: in Brüssel am 27. Juni 2007 zur Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus dem Europäischen Parlament, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/06/2007-06-27-rede-merkel-ep,layoutVariant=Druckansicht.html
nur wenige Tage nach einem denkwürdigen Europäischen Rat möchte ich in dieser Stunde zuerst an unseren Festakt zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge im März in Berlin erinnern. Damals haben wir uns bewusst gemacht: 50Jahre Römische Verträge, 50Jahre Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das ist im Grunde nicht mehr als ein Wimpernschlag in der Geschichte. Und ob es eines Tages mehr als das sein wird, wir wissen es nicht.
Bei dem Festakt im März haben wir deutlich gemacht, nichts von all dem von Frieden und Freiheit, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, nichts von all dem ist selbstverständlich. Alles muss immer aufs Neue gestärkt und verteidigt werden. Stillstand bedeutet Rückschritt. Vertrauen aufbauen, braucht Jahrzehnte. Vertrauen enttäuschen, das geht über Nacht ja, das geht über Nacht. Bei einer Spaltung kommt Europa schneller aus dem Tritt, als mancher glauben mag. Kurzum: Die europäische Einigung muss immer wieder neu erarbeitet und gesichert werden.
Deshalb bin ich sehr dankbar, dass uns genau das mit dem Ergebnis des letzten EU-Rates gelungen ist. Wir haben die Weichen für eine erneuerte gemeinsame Grundlage der Europäischen Union gestellt. Wir haben den Stillstand überwunden. Am Ende haben wir Vertrauen nicht enttäuscht. Wir haben eine Spaltung vermieden. Kurzum: Mit dem Ergebnis von Samstagnacht findet Europa zu neuer gemeinsamer Kraft.
Ich will heute nicht mehr zurückschauen auf die kräftezehrenden Verhandlungen der letzten Wochen und Monate. Denn wir alle wissen noch zu gut, dass schon der Ausgangspunkt schwierig war, waren da doch auf der einen Seite die Staaten, die den Verfassungsvertrag ratifiziert hatten und ihn voll unterstützten, und auf der anderen Seite die Staaten, die aufgrund der Kritik ihrer Bevölkerungen weitgehende Änderungen forderten.
Machen wir uns nichts vor, eine Gefahr stand stets im Raum, und zwar die Gefahr, dass sich der Lähmungszustand und die Spaltungstendenzen fortsetzen. Natürlich: Hätte der EU-Rat kein Ergebnis erzielt, dann wäre das noch nicht der Untergang Europas gewesen, aber kaum zu beschreibende Folgen hätte das ohne Zweifel gehabt. Dass das vermieden werden konnte, ist deshalb von größter Bedeutung.
Die Einigung von Brüssel macht es möglich, die Substanz des Verfassungsvertrages zu bewahren. Ich denke, so sind wir uns am Ende alles in allem einig: Das Ergebnis des Europäischen Rates ist ein Erfolg, es ist ein Erfolg für Europa, es ist auch ein Erfolg des Europäischen Parlaments. Sie haben stets die Substanz des Verfassungsvertrags verteidigt. Und nun kann der Reformvertrag rechtzeitig zu den Europawahlen 2009 in Kraft treten. Das ist für alle, die vor die Bürgerinnen und Bürger treten werden, von allergrößter Wichtigkeit.
Mit dem Reformvertrag tragen wir den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger vor einem vermeintlichen "Superstaat Europa" Rechnung, vor einer zu weitgehenden Aufgabe der Identität der Nationalstaaten. Ich teile diese Sorge nicht, aber ich hatte sie zu respektieren. Und ich habe sie respektiert. Deshalb haben wir entschieden, im Reformvertrag auf die Nennung von staatsähnlichen Symbolen und Bezeichnungen zu verzichten.
Gleichzeitig erreichen wir mit dem Reformvertrag wichtige Fortschritte für das Handeln der Europäischen Union. Wir haben dabei einige Bereiche sogar über den EU-Verfassungsvertrag hinaus fortentwickelt. Klimaschutz und Energiesolidarität wurden aufgenommen, die nationalen Parlamente werden noch stärker in die Gestaltung nationaler Europapolitik einbezogen, die Kompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten werden noch klarer abgegrenzt, die Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammenarbeit, vor allem im Bereich der Innen- und Justizpolitik, wurden erleichtert.
Meine Damen und Herren, mit dem Reformvertrag werden drei wesentliche Elemente für die Zukunft der Europäischen Union Wirklichkeit.
Erstens: Eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach innen wie nach außen. Dazu tragen die einheitliche Rechtspersönlichkeit der Union und die Ausdehnung der Entscheidung im Rat mit qualifizierter Mehrheit bei.
Die Neuregelung zur "doppelten Mehrheit", die dem demographischen Faktor ein stärkeres Gewicht verleiht, wird zwar erst ab 2014 wirksam zeitgleich mit der ersten verkleinerten Kommission mit einer Übergangsperiode bis 2017, aber sie wird Wirklichkeit. Das ist ein gar nicht hoch genug einzuschätzender Fortschritt Europas. Eine größere Kontinuität der Ratsarbeit wird auch durch einen "Präsidenten des Europäischen Rates" und die "Teampräsidentschaften" mit Inkrafttreten der neuen Verträge wirksam.
Daneben bringt der Reformvertrag Fortschritte in den Politiken, zum Beispiel im Bereich des auswärtigen Handelns der Europäischen Union. Eine kohärente Außenpolitik und das Sprechen mit einer Stimme werden jeden Tag wichtiger für ein Europa, das sich in der Welt behaupten will. Wir werden den "Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" einsetzen. Er wird den "Rat für Auswärtige Angelegenheiten" leiten, er wird sich auf einen europäischen diplomatischen Dienst stützen können und er wird als Vizepräsident der Kommission Mitglied der Kommission sein. Das ist ein politischer Quantensprung für Europa.
Auch im Bereich Justiz und Inneres ein Bereich, der die Menschen ja außerordentlich interessiert werden wichtige Fortschritte erzielt, zum Beispiel bei der gemeinsamen Bekämpfung der grenzüberschreitenden Verbrechen. Dabei werden die Verfahren durch die neue Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit erheblich beschleunigt. Wir werden darüber hinaus deutlicher machen können, dass Kompetenzübertragungen keine Einbahnstraßen sind, über die der Europäischen Union immer nur neue Zuständigkeiten zuwachsen, sondern dass es auch Situationen geben kann, in denen Kompetenzen auf die Nationalstaaten zurückübertragen werden, wenn dies erforderlich ist. Denn mehr Europa in einigen wichtigen Feldern, aber auch weniger Europa in Bereichen, die die Mitgliedstaaten gut allein regeln können das ist ein oft geäußerter Wunsch der Bürgerinnen und Bürger. Diesem Wunsch tragen wir Rechnung.
Meine Damen und Herren, mit dem Reformvertrag machen wir zweitens unmissverständlich deutlich: Mehr Bürgernähe für Europa. Dazu wird, wie es der Verfassungsvertrag vorsah, ein europäisches Bürgerbegehren eingeführt. Es werden Fortschritte im Bereich der sozialen Dimension wirksam, es wird zum Beispiel klarere Regelungen im Bereich der Daseinsvorsorge geben. Zusätzlich wird die Regierungskonferenz ein eigenes Protokoll beschließen, in dem die Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse gewürdigt werden. Es wird klargestellt, dass die Mitgliedstaaten im nichtkommerziellen Bereich ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit haben.
Ich bin sehr froh ich glaube, das eint uns hier in der großen Mehrheit, dass es uns gelungen ist, auch für die Grundrechtecharta eine Lösung zu finden. Mit der Grundrechtecharta werden die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Institutionen gestärkt. Die Grundrechtecharta erhält Rechtsverbindlichkeit, die aus meiner Sicht einem wertebewussten Europa gut zu Gesicht steht.
Wir wissen, dass sich Großbritannien aufgrund seiner eigenen Rechtstradition für einen eigenen Weg entschieden hat. Das müssen wir respektieren. Aber die Alternative wäre eine Einschränkung der Rechtsverbindlichkeit für alle gewesen. Das aber wäre für die Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht akzeptabel gewesen. Deshalb ist es gut, dass das vermieden wurde. Ich glaube, dies ist auch die Mehrheitsmeinung des Parlaments.
Meine Damen und Herren, schließlich das dritte Element, mit dem die Fortschritte durch den neuen Reformvertrag sichtbar werden: Mehr Rechte für die Parlamente. Mit der Vertragsreform wird das Europäische Parlament im Regelfall zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber. Das Europäische Parlament wählt künftig den Präsidenten der Europäischen Kommission. Vielen Mitgliedstaaten war es gleichzeitig wichtig, auch die Rolle der nationalen Parlamente stärker zu würdigen. Dies wird in einem neuen Artikel getan. Wir haben zusätzlich die Stärkung der Parlamente bei der Subsidiaritätskontrolle vereinbart. Aber wir haben dabei das Vorschlagsrecht der Europäischen Kommission respektiert. Ein Vetorecht einzelner nationaler Parlamente wird es auch in Zukunft nicht geben. Ich finde das auch richtig so.
Meine Damen und Herren, die Vertragsreform war das eine Ziel der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Die inhaltliche Neuausrichtung der Europäischen Union auf die Dinge, die wir nur gemeinsam im europäischen Verbund erreichen können, war das andere Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft. Denn ich bin zutiefst davon überzeugt: Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, können wir greifbare Fortschritte für unsere Bürgerinnen und Bürger erzielen.
Natürlich wir haben es erst wieder bei den Beschlüssen des EU-Rates gesehen: Es wird immer wieder Ausnahmeregelungen geben, es wird immer wieder Fälle geben, in denen einzelne Mitgliedstaaten entscheiden, sich an bestimmten Politiken nicht oder zunächst nicht beteiligen zu wollen, während andere aber im Rahmen der Verträge schon einmal vorangehen. Das ist aber etwas anderes als ein so genanntes Europa der zwei Geschwindigkeiten. Lassen Sie es mich ganz offen sagen: Davon halte ich nichts. Das darf nicht das Ziel unserer Politik sein, sonst werden wir neue Gräben in Europa aufreißen und, meine Damen und Herren, das Europäische Parlament schwächen. Es ist jede Mühe und Anstrengung wert, wieder und wieder den gemeinsamen Weg aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu suchen.
Ein afrikanisches Sprichwort sagt: "Wenn du schnell vorwärts kommen willst, dann gehe alleine. Wenn du weit gehen willst, dann gehe zusammen." Meine Damen und Herren, ich glaube, in diesem afrikanischen Sprichwort steckt die Weisheit der europäischen Einigungsidee. Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, können wir das Große, das Einzigartige bewahren, das die europäische Einigungsidee seit über 50Jahren ausmacht: Frieden, Freiheit und Rechtssicherheit für die Bürgerinnen und Bürger Europas.
Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, können wir die Bürgerrechte in der Europäischen Union stärken, zum Beispiel mit einer Überführung des Vertrags von Prüm in den EU-Rechtsrahmen. Damit ist eine vertiefte polizeiliche Zusammenarbeit bei der grenzüberschreitenden Bekämpfung des Terrorismus, der Kriminalität und der illegalen Migration in der EU möglich. Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, steigern wir die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Standorts. Dafür steht ja beispielsweise die Roaming-Verordnung, die wir hier unterschrieben haben. Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, können wir einer der großen Herausforderungen für die Menschheit begegnen: der Gefahr durch den Klimawandel. Die Beschlüsse des Frühjahrsrates der Europäischen Union für eine integrierte Energie- und Klimaschutzpolitik sind wegweisend. Sie waren im Übrigen auch die Voraussetzung, um beim G8 -Treffen eine Einigung darüber zu erreichen, dass wir eine Folgevereinbarung im Rahmen des Kyoto-Protokolls unter dem Dach der Vereinten Nationen brauchen, und dass sich alle G8 -Teilnehmer dazu bekannt haben. Ohne den Frühjahrsrat der Europäischen Union und die Unterstützung des Europäischen Parlaments wäre dies nicht möglich gewesen. Das ist Verteidigung europäischer Interessen. Deshalb ist es auch richtig, dass wir jetzt unter den Zielen der Europäischen Union im neuen Vertragsentwurf den Klimaschutz haben werden.
Nur wenn wir gemeinsam und gezielt handeln, haben wir Europäer Aussichten, unsere Anliegen in der Welt zur Geltung zu bringen. Dies haben auch die Gipfel gezeigt, die wir während unserer Präsidentschaft mit den nicht der EU angehörenden G8 -Partnern abgehalten haben: mit den USA, Russland, Japan und Kanada. Dabei wurden neben dem Klimaschutzbeschlüssen weitere langfristig bedeutsame Vereinbarungen getroffen: zur verstärkten regulatorischen Zusammenarbeit mit den USA und mit Kanada, zur Einrichtung eines Energiefrühwarnsystems und eines Investitionsdialogs mit Russland, zur besseren Durchsetzung des Schutzes geistigen Eigentums mit Japan.
Meine Damen und Herren, alle institutionellen Fortschritte und die Neuausrichtung der Europäischen Union sind letztlich aber nur möglich, wenn wir Europäerinnen und Europäer uns unserer Werte bewusst sind, ja, wenn wir diese Werte zur Richtschnur unseres Handelns machen. Ich denke, dass diese Richtschnur auch dazu beitragen kann, die Bürgerinnen und Bürger von Europa zu überzeugen, indem wir unsere Gemeinsamkeiten bewusst machen, indem wir deutlich machen, dass wir auf der Basis unserer Werte gemeinsam in der Welt handeln.
Europa bedeutet nicht Beliebigkeit. Europa ist eine Verpflichtung, dazu beizutragen, dass unsere Erde ein bewohnbarer Planet bleibt, dass immer weniger Menschen gezwungen sind, wegen Gewalt oder Krieg ihre Heimat zu verlassen, dass Krankheiten wie Aids, Malaria und Tuberkulose erfolgreich bekämpft werden können.
Und so, meine Damen und Herren, schließt sich der Kreis der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Damit Europa Kurs halten kann, ist jetzt der Reformvertrag notwendig. Der Europäische Rat hofft, dass die Regierungskonferenz noch im Juli einberufen werden kann. Deshalb möchte ich Sie heute bitten, Ihre Stellungnahme so bald wie möglich abzugeben.
Sie wollen, wie die deutsche Präsidentschaft, dass wir den Menschen im Wahlkampf für die Europawahlen 2009 sagen können: So und nicht anders geht es mit Europa weiter. Deshalb ist es auch gut, dass sich das Europäische Parlament bei der Vermittlung dieser Themen immer wieder engagiert, den Dialog mit den Zivilgesellschaften sucht und das auch in einer Agora-Veranstaltung im Herbst demonstrieren wird.
Meine Damen und Herren, zum Abschluss der deutschen Ratspräsidentschaft darf ich noch einmal den deutschen Schriftsteller Peter Prange aus seinem Buch "Werte von Plato bis Popp" zitieren. Ich habe ihn, Sie erinnern sich vielleicht, bereits in meiner Rede hier zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft im Januar zitiert. Er schreibt: "Alles, was wir Europäer je zustande gebracht haben, verdanken wir unserer inneren Widersprüchlichkeit, dem ewigen Zwiespalt in uns selbst, dem ständigen Hin und Her von Meinung und Gegenmeinung, von Idee und Gegenidee, von These und Antithese."
Ich darf mit meinen Worten ergänzen: Wir verdanken es der Fähigkeit, diese innere Widersprüchlichkeit auch auszuhalten und nach unzähligen Kriegen und unendlich viel Leid etwas so Großartiges gelingen zu lassen wie das europäische Friedenswerk.
Wir Bürger Europas, wir sind wahrlich zu unserem Glück vereint. Und so wünsche ich mir, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas in 50Jahren, im Jahr 2057, sagen werden: Damals, im Jahr 2007, hat das vereinte Europa nach kräftezehrenden und nervenaufreibenden Diskussionen am Ende die Weichen richtig gestellt; damals, im Jahr 2007, da hat die Europäische Union den richtigen Weg in eine gute Zukunft eingeschlagen. Das war, ist und bleibt unser Auftrag, unser Auftrag für die Zukunft. Deutschland wird sich dafür auch nach der Präsidentschaft mit ganzer Kraft einsetzen.
Ich danke Ihnen.