Redner(in): Angela Merkel
Datum: 08.07.2007

Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Edmund Stoiber, sehr geehrter Herr Landesbischof, sehr geehrter Herr Direktor Greiner, werte Festversammlung,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/07/2007-07-10-bkin-rede-evangelische-akademie-tutzing,layoutVariant=Druckansicht.html


ich bin heute sehr gerne hierher gekommen, denn die Evangelische Akademie Tutzing ist ein besonderer Ort. Hier genoss Bundeskanzler Konrad Adenauer nach intensiven Beratungen den wunderbaren Blick über den Starnberger See. Bundespräsident Richard von Weizsäcker so wird gesagt spielte Tischtennis auf der schattigen Schlossterrasse. In entspannter Atmosphäre wurde so manche politische Initiative angestoßen. Viele Prominente aus evangelischer Kirche und Politik, aus Geisteswissenschaften, Kunst und Kultur aus Deutschland und anderen Ländern verkehrten in diesem Haus. Ein Blick in seine Chronik zeigt daher: es sprüht hier geradezu vor Geist und Leben.

Seit 1947 verbindet die Evangelische Akademie wissenschaftliche, kulturelle und politische Diskussionen mit Spiritualität und großer Gastfreundschaft. Schwester Bärbel, Tutzings erste Hausschwester, hat mit ihrer Beschreibung des Geistes der Akademie bis heute Recht behalten ich zitiere: "Das Haus soll einen eigenen, vornehmen Stil haben. Im Haus soll ein guter Geist herrschen. Es soll eine Seele haben". Ende des Zitats.

Aus diesen Worten, so finde ich, spricht eine hohe Motivation die Motivation, etwas Neues, etwas Besonderes aufzubauen. Dieser Anspruch ist umso höher zu bewerten, wenn man sich einmal den historischen Kontext der Gründungszeit vergegenwärtigt. Die Akademie entstand aus einer Erholungsstätte für Russlandheimkehrer. Die ersten Gäste waren gut beraten, Lebensmittelkarten für die Verpflegung und auch eine Decke gegen die abendliche Kühle mitzubringen.

Doch im Laufe der Jahre wir können uns heute davon überzeugen entstand eine hoch attraktive international vernetzte Tagungsstätte mit über 17.000 Gästen pro Jahr. Sie bietet heute für Kirche, Politik und Gesellschaft mit ihrem umfassenden Programm einen hervorragend geeigneten Raum zum Nachdenken und zur Einkehr, zum Nachfragen und zum konstruktiven Diskurs. Die Akademie ist damit Diskussionsforum und Denkwerkstatt zugleich. Hier in Tutzing wird das klare Wort in besonderer Weise geschätzt. Hier haben verschiedenste Anschauungen und religiöse Vielfalt, strittige Fragen und Kritik ihren festen Platz man kann auch sagen: ihr Zuhause.

So ist die Evangelische Akademie weniger ein Ort, an dem lehramtliche Meinung gepredigt wird. Sie ermutigt vielmehr zu Offenheit und freimütigem Gedankenaustausch. Das ist es, was Tutzing zu einem wichtigen Teil unserer demokratischen Kultur macht ebenso wie die anderen kirchlichen Akademien in Deutschland. Sie alle spiegeln das partnerschaftliche, von gegenseitigem Respekt getragene Verhältnis zwischen Staat und Kirche wider.

Politik und Kirche sind voneinander unabhängig. Das ist wichtig, aber beide dienen der persönlichen und gesellschaftlichen Entfaltung und Berufung des Menschen, wenn auch in verschiedener Begründung. Ich bekenne mich deshalb ausdrücklich zur Mitverantwortung der Politik für ein Gemeinschaftsbewusstsein aus Normen, Ideen und Einstellungen. Die Präambel unseres Grundgesetzes beginnt nicht ohne Grund mit dem Satz: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …"

Deshalb ist es Aufgabe der Politik, für ein Umfeld Sorge zu tragen, in dem Werte lebbar und erlebbar sind. Dazu zählt eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft, in der auch in Zeiten der Globalisierung und eines tief greifenden Wandels Leistung, Teilhabe und Solidarität groß geschrieben und gelebt werden können. Dazu zählt eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Dazu zählen auch Möglichkeiten der Vorsorge und Eigentumsbildung. Kurzum: dazu gehört alles, was es den Menschen erleichtert, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, anstatt Verantwortung vorschnell an die Allgemeinheit zu delegieren.

Wir wissen, dass politischem Handeln Werte zugrunde liegen müssen. Wenn es aber darum geht, Werte direkt zu vermitteln, kommt es vor allem zuerst auf Institutionen und Menschen an, die im persönlichen Umfeld angesiedelt sind: Eltern, die erziehen; Schulen, die bilden nicht zuletzt auch durch Religionsunterricht; Kirchen, die das Denken und Handeln prägen; Jugendeinrichtungen und Sportvereine, die Gemeinschaft fördern, und Medien, die informieren und Meinungen bilden. Sie alle sind geeignet, dem Einzelnen Orientierung zu geben. Sie sind besonders gefordert, für die Werte und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft einzutreten.

Es ist gleichzeitig unverzichtbar, dass es Orte wie die Evangelische Akademie Tutzing gibt, die sich in die Verantwortungsgemeinschaft einbringen, ja, die wesentlicher Bestandteil unserer Verantwortungsgemeinschaft sind.

Die Gründung der kirchlichen Akademien in Deutschland erfolgte zumeist kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die schrecklichen Zeiten während des nationalsozialistischen Regimes noch frisch vor Augen verfolgten die Gründer klare Ziele. Die Kirche sollte ihr Verständnis vom öffentlichen Wächteramt im breiten gesellschaftlichen Diskurs wahrnehmen. Sie sollte sich in die Zukunftsfragen einmischen. Sie sollte daher ein Forum für offene Gespräche und Diskussionen bieten.

Das ist mit der Evangelischen Akademie Tutzing auch gelungen. Deshalb ist sie ein Teil dessen, was wir die Entwicklung der Kultur der Toleranz nennen. Hier treffen sich Christen, Juden und Muslime, Politiker aus aller Welt ebenso wie Umweltschützer, Manager oder Arbeitnehmervertreter. Wir brauchen solche Oasen der Vielfalt und der Toleranz. Denn Toleranz ist maßgebend für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Toleranz heißt, den Anderen so zu akzeptieren, wie er ist, und dieses Anderssein als Bereicherung für sich zu empfinden. Damit daraus nicht Beliebigkeit wird, geht das nur, wenn man selber auch einen eigenen Standpunkt hat und für eigene Werte eintritt. Gelebte Toleranz bedeutet also, auf dieser Grundlage über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und aufgeschlossen gegenüber Neuem zu sein.

Toleranz ist nur möglich, wenn wir die Gewährleistung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung haben. Voltaire hat dies in einem berühmten Satz auf den Punkt gebracht ich zitiere: "Ich teile zwar Deine Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Du sie äußern kannst." Ende des Zitats.

Meine Damen und Herren, wir sehen: Toleranz muss und kann nur Tag für Tag gelebt werden, wenn Folgendes gewährleistet ist:

Erstens. Es müssen die institutionellen Rahmenbedingungen der Toleranz gesichert werden im modernen demokratischen Rechtsstaat über die Verfassung. Unser deutsches Grundgesetz schreibt die Unantastbarkeit der Würde des Menschen fest, ebenso seine unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte als freie und gleichberechtigte Persönlichkeit, die vor Diskriminierungen geschützt werden muss.

Der Begriff der Toleranz sagt darüber hinaus viel über unser europäisches Selbstverständnis aus. Ich bin sehr froh, dass dieser Begriff auch Teil der Grundrechtecharta im neuen EU-Reformvertrag ist. Denn Toleranz ist für mich die Seele Europas. Europa hat lange gebraucht, um Toleranz lebbar zu machen. Erst nach Jahrhunderten der Kriege bis an den Rand der Selbstvernichtung hat sich Europa zu einem Kontinent der Toleranz entwickelt. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir heute sagen können, wie wir es anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge in unserer "Berliner Erklärung" getan haben: Wir Bürger Europas sind zu unserem Glück vereint.

Zweitens. Die Politik ist gefordert, den Dialog mit der Gesellschaft zu pflegen und neue Gesprächsfäden zu knüpfen. Das etwa ist das Ziel des Nationalen Integrationsplans der Bundesregierung und des Dialogs mit dem Islam. Damit gehen wir einen wichtigen Weg für das Miteinander in unserer Gesellschaft genauso, wie Sie es in Ihrer Arbeit tun. Gemeinsame Wertvorstellungen bilden sich nämlich nur im Dialog heraus, der mit Respekt vor dem Anderen geführt wird und in dem Kritik einen festen Platz hat.

Ein solcher Dialog wird auch im so genannten "Politischen Club" gepflegt. Er ist das darf man vielleicht sagen geradezu das Herzstück der Debattenkultur in Tutzing. Studienreisen, wie in diesem Frühjahr nach Berlin, lieber Theo Waigel, gehörten von Anfang an zu seinem Programm. Einer der Höhepunkte des "Politischen Clubs" und seiner Arbeit war sicherlich 1963 der Empfang im Weißen Haus durch den damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, John F. Kennedy.

Meine Damen und Herren, ebenso wie an ihren prominenten Gästen und Gesprächspartnern werden auch am Programm der Akademie die großen Themen der Politik der Bundesrepublik Deutschland sichtbar: die Ostpolitik von ihr war schon die Rede, ebenso die deutsche Teilung und die Wiedervereinigung, die europäische Integration, die weltweite Friedenssicherung oder auch die vielfältigen ethischen Herausforderungen.

Es ist keine Frage: Die Evangelische Akademie Tutzing hat sich um die politische und demokratische Kultur in unserem Land verdient gemacht. Sie war von Anfang an auch für internationale Debatten und globale Themen offen. Herr Direktor Greiner, Sie haben es eben angedeutet: Die Akademie möchte und wird diese Themen in Zukunft noch stärker in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Ich kann Sie alle dazu nur ermutigen.

Wir leben in einer Welt, die stärker zusammenwächst. Sie erscheint uns, als würde sie kleiner werden. So erreichen uns immer mehr Probleme. Wir müssen die Diskussionen vorantreiben. Wir dürfen nie vergessen: am Anfang des 20. Jahrhunderts haben wir als Europäer noch 25Prozent der Weltbevölkerung gestellt, heute sind es noch 12Prozent und am Ende unseres Jahrhunderts werden es ungefähr 7Prozent sein. Das heißt, nur noch einer von 14 wird ein Europäer sein. Wenn wir glauben, dass unsere Werte Werte sind, die das richtige Zusammenleben garantieren, dann werden wir für diese Werte kämpfen müssen, dann werden wir andere überzeugen müssen. Die Akzeptanz der Würde des Menschen in unserem Verständnis ist alles andere als selbstverständlich auf dem Globus insgesamt.

Der deutsche EU-Ratsvorsitz hat auch genau aus diesem Grund das Motto "Europa gelingt gemeinsam" gewählt, denn wir brauchen diese Europäische Union als Wertegemeinschaft und Interessenvertretung für unsere Art zu leben in der Welt. Genauso leitet uns dieses Verständnis auch im Rahmen unseres G8 -Vorsitzes.

Ich glaube, dass die Einigung auf die Vertragsreform in der Europäischen Union gezeigt hat: Europa ist imstande, trotz unterschiedlicher Interessen, die auch zum Teil sehr extensiv ausgelebt werden, am Ende doch wieder zusammenzukommen. Auf dem Europäischen Rat ist es uns schlussendlich gelungen, die Weichen für eine erneuerte gemeinsame Grundlage der Europäischen Union zu stellen. Dafür bin ich sehr dankbar, weil dies die Voraussetzung dafür ist, dass wir aus einer Phase der Reflexion und des Abwartens nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden, aus einer Phase der Selbstbeschäftigung herauskommen und uns wieder den Themen widmen können, die uns eigentlich beschäftigen müssen.

Wir können jetzt sagen: Wir werden wieder handlungsfähig sein, wenn die Ratifizierungen auch wirklich stattfinden handlungsfähig in einer erweiterten Europäischen Union, die heute 27Mitgliedstaaten umfasst, handlungsfähig auch in einer Europäischen Union, die weitere Mitgliedstaaten aufnehmen wird, wenn ich z. B. an die Staaten des westlichen Balkans denke.

Gerade in diesem Rahmen hier möchte ich darauf hinweisen, dass im Reformvertrag auch ein Punkt enthalten ist, den ich für wichtig halte, nämlich der Status der Kirchen im so genannten "Kirchenartikel". Er konnte ebenso gesichert werden, wie ein regelmäßiger Dialog der Kirchen und Religionsgemeinschaften mit den Institutionen der Europäischen Union vereinbart wurde. Er ist bereits geübte Praxis. Ich bin im Mai in Brüssel mit Vertretern der christlichen Kirchen, des Judentums und des Islams aus allen EU-Staaten zusammengekommen. Wenn es uns gelingt, diesen Dialog nicht zu ritualisiert ablaufen, sondern ihn zu einem ehrlich Gespräch werden zu lassen, dann bietet er sehr, sehr viele Chancen. Wir haben im Mai in diesem Dialog über das Thema Menschenwürde und deren universale Bedeutung gesprochen.

Ich bin auch sehr froh, dass wir uns in den Verhandlungen des Europäischen Rates darauf verständigt haben, den ersten Absatz der Präambel des Verfassungsentwurfs für den Reformvertrag zu übernehmen. Denn darin wird auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas hingewiesen. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, die christlichen Wurzeln im Rahmen der europäischen Verträge zu verankern. Aber ich glaube, dass dies zumindest auf eine geschichtsträchtige Verwurzelung hindeutet. Damit wird unterstrichen, dass Europa eben weit mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Das Fundament der Union sind unsere gemeinsamen Werte. Es sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus ebenso wie Freiheit und Solidarität. Wir müssen immer wieder darauf hinweisen: diese Werte sind keine Selbstverständlichkeit. Um sie muss immer wieder gerungen werden. Sie müssen immer wieder aufs Neue mit Leben erfüllt werden.

Ich persönlich sehe diese Werte eng verbunden mit dem christlichen Verständnis vom Menschen. Wichtig dabei ist: Nicht der Staat ist das Maß der Politik, nicht eine Partei, nicht eine bestimmte gesellschaftliche Klasse. Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch, seine unantastbare Würde ganz gleich, ob wir über Fragen des Lebensschutzes am Anfang und Ende des Lebens sprechen oder über das Zusammenleben der Menschen in einer bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Dieses Menschenbild endet natürlich nicht an den Grenzen Deutschlands, es endet auch nicht an den Grenzen Europas. Die Unverrückbarkeit und Einzigartigkeit der Würde des Menschen sind ein universaler Grundsatz. Dieser Grundsatz muss uns auch in der Auseinandersetzung mit Feinden der Demokratie und Extremisten ebenso wie im Kampf gegen Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit leiten. Hier gilt dann: Null Toleranz gegenüber Intoleranz.

Ich bin davon überzeugt: Nur wenn wir Deutsche und wir Europäer uns unserer gemeinsamen Werte bewusst sind, dann haben wir mit ihnen eine Richtschnur für unser Handeln in der Welt. Dann sind wir im Übrigen auch ein verlässlicher und vertrauenswürdiger Partner in der Welt.

Meine Damen und Herren, der neue EU-Reformvertrag ist in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen, weil er vor allem zweierlei leisten kann. Er wird auf der einen Seite den Bürgerinnen und Bürgern die Sorge vor einem vermeintlichen europäischen Superstaat nehmen. Diese Sorge ist immer wieder deutlich geworden, gerade auch in den gescheiterten Referenden. Wenn wir ehrlich sind, gibt es sie auch in Deutschland. Wir müssen ihr Rechnung tragen. Deshalb ist es wichtig, dass es gelungen ist, die Rückbindung an die nationalen Parlamente, die Möglichkeit von Volksbegehren und vieles andere zu verankern und damit deutlich zu machen: eine europäische Kompetenz gibt es erst dann, wenn nationale oder kommunale, lokale Kompetenzen nicht ausreichen, um die Probleme zu lösen.

Zum anderen werden wir auch über institutionelle Änderungen in der Lage sein, handlungsfähiger zu werden, z. B. indem wir in wichtigen Fragen auch mit qualifizierter Mehrheit entscheiden können. Ansonsten werden wir nicht schnell genug auf die Herausforderungen der Welt antworten können.

Wie sollen und können wir denn sonst den Bedrohungen, denen wir alle ins Auge sehen müssen, begegnen wie z. B. der Bedrohung durch den Iran, dessen Präsident den Staat Israel auslöschen will, der den Holocaust leugnet oder relativiert, wenn wir in Europa keine Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit erreichen könnten?

Wir müssen uns doch nur vor Augen führen, vor welch großen Aufgaben die Welt steht Aufgaben, vor denen wir Europäer uns nicht drücken können, auch wenn wir es uns manchmal wünschten. Hierzu gehört neben einem neuen Verständnis von Außen- und Sicherheitspolitik aus meiner Sicht insbesondere auch die Bewältigung von neuen Bedrohungen, z. B. durch den Klimawandel. Ich glaube, dass dieser eine der zentralen Herausforderungen der Menschheit ist eine Herausforderung, die keiner alleine meistern kann, sondern die wir nur gemeinsam schaffen können.

Klimaschutz ist eine Frage der Generationengerechtigkeit, eine Frage der Nachhaltigkeit, über die auch hier viel diskutiert wurde. Inwieweit schaffen wir es, existentielle Vorsorge für künftige Generationen zu treffen? Inwieweit nehmen wir anderen Kontinenten Lebenschancen, weil wir unser Leben nicht verändern? Werden die Menschen, die in Jahrzehnten und Jahrhunderten nach uns kommen, noch weitgehend in der Schöpfung leben können, so wie wir sie heute kennen? Welche Welt vererben wir ihnen?

Ich glaube, diese Fragen entscheiden sich nicht irgendwann in der Zukunft, sondern sie entscheiden sich heute und in nahen Zeiten. Für mich sind es zutiefst moralische Fragen, denn am Beispiel des Klimawandels wie an vielen anderen Beispielen kann man zeigen: damit verbundene Herausforderungen machen nicht Halt vor nationalen Grenzen. Jedes Land ist davon betroffen. Kein Land alleine ist in der Lage, solche Probleme zu lösen. Das geht nur gemeinsam.

Europa hat gezeigt, dass es gemeinsam versuchen will, den Klimaschutz voranzubringen. Die Europäische Union ist hier Vorreiter. Einige stellen in Frage, ob das sinnvoll ist. Abschließend betrachtet ist es natürlich nur sinnvoll, wenn andere mitmachen. Aber es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt: einige müssen vorangehen, damit sie andere motivieren.

Ob Klimaschutz, sichere Energieversorgung, Wettbewerbsfähigkeit oder Außen- und Sicherheitspolitik nur dann, wenn wir Europäer gemeinsam unser Gewicht in die Waagschale werfen, haben wir Aussichten, unsere Anliegen in der Welt zur Geltung zu bringen. Das hat sich auch auf dem G8 -Gipfel in Heiligendamm gezeigt. Nur durch das geschlossene und entschlossene Auftreten Europas ist es uns gelungen, ein klares Bekenntnis aller G8 -Teilnehmer zu einer deutlichen Reduzierung der Treibhausgase zu erzielen, und zwar das halte ich auch für außerordentlich wichtig unter dem Dach der Vereinten Nationen.

Für mich sind die Vereinten Nationen die Institution für legitimiertes globales Handeln. Es zeigt sich, dass nur mit ihnen Klimaschutz als eine Herausforderung für die gesamte Welt begriffen wird. Auf der G8 -Tagung hat der indische Ministerpräsident zum Ausdruck gebracht, dass auch den Schwellenländern natürlich bewusst ist, dass sie niemals mehr Energie pro Kopf als die Industrieländer verbrauchen werden können. Das heißt nichts anderes als das: Je schneller wir Industrieländer unsere Klimagaserzeugung verringern, umso schneller werden wir die Schwellenländer auch dazu auffordern können, ihren Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Auch hier zeigt sich: die Akzeptanz der Würde des Menschen wird uns zu einer Änderung unseres Lebensstils zwingen, wenn wir es nicht freudig und freiwillig tun.

Meine Damen und Herren, nur mit einem Blickwinkel für die großen Zusammenhänge werden wir dabei vorankommen, Lösungen für globale Herausforderungen zu finden. Deshalb war es auch richtig und gut, auf dem G8 -Gipfel die Reformpartnerschaft mit Afrika zu einem Schwerpunkt zu machen. Ich möchte hier nicht im Einzelnen auf die jeweiligen Steigerungen der Entwicklungsleistungen eingehen. Hier ist viel versprochen worden. Es muss hart gearbeitet werden, um das einzuhalten. Aber für mich geht es auch hier um mehr als um Geldleistungen: Wir müssen Investitionen tätigen, wir müssen die reformorientierten Kräfte in Afrika fördern, wir müssen afrikanische Einrichtungen zum Erhalt von Frieden und Sicherheit stärken. Wir müssen dies im Geiste der Partnerschaft tun und nicht im Geiste des Belehrenden, vermeintlich Allwissenden. Es geht darum, Menschen auch zu eigenen Aktivitäten zu ermutigen. Die Menschlichkeit unserer Welt ", so hat es unser Bundespräsident einmal gesagt," entscheidet sich am Schicksal Afrikas." Das zu erkennen, so glaube ich, ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Entwicklungsgelder auch dauerhaft Wirkung zeigen können, weil die Menschlichkeit die Voraussetzung für unser Handeln ist, das das Ergebnis haben muss, dass auch in Afrika Selbstverwaltung und Eigenkraft gestärkt werden. Das heißt, wir brauchen wirkliche Partnerschaft für mehr und nachhaltige Investitionen, für rechtsstaatliche und verantwortliche Regierungsführung und für eine umfassende demokratische Teilhabe der Menschen in ihren Ländern.

Ich weiß, dass auch die Evangelische Akademie Tutzing in ihrer Zukunftsplanung auf Partnerschaften setzt unter anderem auf eine enge Zusammenarbeit mit einem Partnerinstitut in Stellenbosch / Südafrika. Ich kann dies nur begrüßen, weil unser Blickwinkel weit sein muss. Dies ist ein ganz wichtiger Schritt, neue stabile Brücken zwischen Zivilgesellschaften zu bauen. Ich wünsche Ihnen für diese neue Aufgabe sehr viel Erfolg!

Dies gilt ebenso für Ihren Themenschwerpunkt "Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen". Der seit dem Jahr 2000 verliehene Toleranzpreis, z. B. an Daniel Barenboim oder Karim Aga Khan IV. , unterstreicht Ihr intensives Engagement für einen lebendigen Dialog. Wir wissen: wirklicher Dialog braucht langen Atem. Gerade dafür steht Tutzing: für kontinuierliche und nachhaltige Debatten, für den Respekt vor der Meinung des Anderen und auch für Perspektivenwechsel, ohne eigene Standpunkte oder Ziele aus den Augen zu verlieren.

Genau solche Orte der Begegnung brauchen wir für ein gedeihliches Zusammenleben mit Kulturen und Religionen, die uns auch da müssen wir ehrlich sein oft noch weitgehend unvertraut sind. Hier kann Vertrauen wachsen. Hier können Gespräche auf Augenhöhe stattfinden. Ich bin sicher, dass Sie mit Ihren neuen Schwerpunkten gerade auch jungen Menschen Mut machen, sich für unsere Gesellschaft zu engagieren. Ich bin überzeugt: Die Evangelische Akademie Tutzing ist für die kommenden Jahre gut gerüstet. Sie hat Ziele und Visionen. Sie hat Freunde und Unterstützer. Sie hat begeisterte Anhänger in ganz Deutschland und weit darüber hinaus. All das zeigt: Sie ist ein wunderbares Stück gelebte evangelische Kirche und gelebte Gesellschaft in unserem Land.

Ich gratuliere zu erfolgreichen 60Jahren Ihres Wirkens und wünsche Ihnen für die Zukunft ebenso viel Erfolg, Unterstützung und breiten Zuspruch und ein großes weites Herz der evangelischen Kirche für diese Akademie. Herzlichen Dank!