Redner(in): Angela Merkel
Datum: 06.09.2007

Untertitel: gehalten am 6.September2007 in Dresden
Anrede: Sehr geehrter Herr Bischof Bohl, sehr geehrter Herr Professor Herms, sehr geehrte Pfarrerinnen und Pfarrer, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/09/2007-09-06-merkel-in-der-dresdener-frauenkirche,layoutVariant=Druckansicht.html


Ich will gleich vorwegsagen: Ich bin von der Summe der Pfarrerinnen und Pfarrer in Sachsen beeindruckt. So ein zentraler Pfarrertag ist doch eine sehr eindrucksvolle Sache.

Ich freue mich natürlich sehr, dass wir hier in dieser besonderen Kirche zu Gast sein können. Ich erinnere mich noch an die Weihe, die nun auch schon fast zwei Jahre zurückliegt. Die kühnsten Erwartungen sind übertroffen, wenn wir an die Zahl der Besucher bei Gottesdiensten, Konzerten und Führungen denken. Viele Menschen waren bereit, zum Wiederaufbau dieses großartigen Bauwerks im Herzen der Stadt Dresden beizutragen.

Ich möchte an Baudirektor Dr. Eberhard Burger erinnern, dem ich noch einmal für sein Engagement danken möchte. Er ist vor einigen Wochen aus seinem Dienst geschieden. Bischof Bohl hat zu seiner Verabschiedung gesagt: "Die Hoffnung auf Heilung des Versehrten und das Gelingen des Lebens, die Sehnsucht nach Bewahrung vor Scheitern und die Suche nach Trost angesichts des Bösen verbinden sich mit den gebauten Orten des Glaubens."

Ich glaube, die Frauenkirche ist in der Tat ein solcher "gebauter Ort des Glaubens". Sie ist nicht nur ein einmaliges Werk architektonischer und handwerklicher Spitzenleistung. Sie ist eben auch weit über unsere Grenzen hinaus ein Zeichen dafür, wie Frieden und Versöhnung Gestalt annehmen können ein Zeichen für Bürgermut und Engagement. Ich schätze es daher sehr, dass ich über das Kuratorium der Stiftung mit dem Leben der Frauenkirche, wenn auch in gewisser Distanz, doch immer wieder verbunden bin.

Es war sicher eine gute Idee, nicht nur einen zentralen Pfarrertag zu veranstalten, sondern ihn auch hier in Dresden durchzuführen. 700 aktive Pfarrerinnen und Pfarrer hat Ihre Landeskirche. Sie und Ihre Gäste versammeln sich zum Gottesdienst. Gemeinsam singen Sie, hören Orgelmusik wunderbar intoniert und Sie wollen sich theologisch austauschen und damit Impulse für Ihre Arbeit mit nach Hause nehmen. Das Evangelium der Freiheit " dieses Thema mag für einen Politiker, jedenfalls kann ich das für mich sagen, nicht alltäglich sein. Doch als evangelische Christin in politischer Verantwortung fühle ich mich angesprochen, habe deshalb auch gerne die Einladung angenommen und möchte mit Ihnen ein paar Gedanken austauschen.

Wenn ich über die Bedeutung der Kirche für das Zusammenleben in der Demokratie nachdenke, dann muss ich in diesem Kirchenbauwerk zuerst einmal an den 13. Februar 1982 denken. Am Abend dieses Tages vor 25Jahren versammelten sich an der Ruine der Frauenkirche Hunderte Dresdner. Am Ort der Zerstörung wollten sie gegen Krieg und für Frieden demonstrieren. Mit ihrer mutigen Versammlung, mit Kerzen und Flugblättern gaben sie damals der Friedensbewegung ein Gesicht. Spontane Kundgebungen an der Frauenkirche wurden in der Folgezeit immer wieder verhindert. Es wurde zwar jährlich demonstriert, aber eben staatlich organisiert. Heute wissen wir alle: Der Drang nach Freiheit, nach Meinungsfreiheit, nach Demokratie lässt sich nicht dauerhaft unterdrücken auch nicht durch Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl.

In seinen "Gedanken über Deutschland nach der Vereinigung" schreibt Richard Schröder: "Es steht mit der Freiheit so ähnlich wie mit der Gesundheit. Man schätzt sie am höchsten, wenn sie fehlen." Die Kraft der Freiheit fehlte in einem großen Teil Deutschlands über Jahrzehnte. Dann kam der Herbst 1989 ein Meilenstein auf dem Weg zu einem vereinten Deutschland, zu einem vereinten Europa. Viele haben wie ich die Erfahrung gemacht: Nichts muss so bleiben, wie es ist. Wer das Glück hat, diese Erfahrung zu machen, der weiß auch um die Kraft der Hoffnung auf Freiheit und auf Frieden. Nicht allen Menschen ist das vergönnt. Wir haben es ja damals auch nicht gewusst.

Nichts muss so bleiben wie es ist das gilt auch für die beispiellose Erfolgsgeschichte der europäischen Integration. Sie erinnern sich vielleicht, wir haben in diesem Frühjahr den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gefeiert. Es war durchaus ein besonderer Moment, dass diese Festlichkeit in die Zeit unserer EU-Präsidentschaft fiel und wir das Jubiläum in Berlin feiern konnten einer Stadt, die einst geteilt war und in der Menschen ihren Versuch der Flucht in die Freiheit mit ihrem Leben bezahlt haben. Wir haben uns zu dieser Gelegenheit im Kreis der Staats- und Regierungschefs der 27Mitgliedstaaten daran erinnern können, was die Kraft der Freiheit zuwege bringen kann.

Ich glaube, dass die Kraft der Freiheit zu den wichtigsten Kräften des Menschen überhaupt gehört: Die Freiheit, die eigene Meinung zu sagen, auch wenn dies andere stört, die Freiheit zu glauben oder auch nicht zu glauben, die Freiheit des unternehmerischen Handelns, die Freiheit des Künstlers, sein Werk nach seinen Vorstellungen gestalten zu können, und die Freiheit des Einzelnen in seiner jeweiligen Verantwortung für das Ganze.

Wenn wir in diesem Sinne von Freiheit sprechen, dann sprechen wir tatsächlich auch immer von der Freiheit des Anderen. Dieses Freiheitsverständnis folgt für mich auch aus der Tradition des Evangeliums der Freiheit. Schon Paulus hat in seinen Briefen an die Römer und auch an die Korinther von der Freiheit der Kinder Gottes, von Freiheit durch die Bindung an Gott gesprochen. Den Gedanken von individueller Freiheit, den Immanuel Kant formuliert hat, konnte der Apostel so noch nicht kennen. Wohl aber wusste er um die Idee der befreienden Kraft des Glaubens unter Rücksichtnahme auf die Freiheit des Anderen.

Ich finde, wenn man ein solches Freiheitsverständnis hat, dann ist und bleibt es eine spannende Aufgabe, den Versuch zu unternehmen, einmal mit den Augen des Anderen zu sehen, mit den Augen der vielen Völker, mit den Augen der vielfältigen Kulturen. Auch die Vielfalt unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen, Weltsichten und konkurrierender Wahrheitsansprüche verbirgt sich dahinter. Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Sie spiegelt sich auch wider in unseren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen. Denn wir erleben ja viele Konflikte. Wir erleben Spannungen zwischen Moderne und Fundamentalismus, wir erleben Gewalt im Namen der Religion eine ganz neue Bedrohung unserer Freiheit, wir sehen die Gefährdungen, denen unsere Umwelt ausgesetzt ist, wir wissen um die Notwendigkeiten, die sich aus dem veränderten Altersaufbau unserer Gesellschaft ergeben.

Das alles wird beschrieben durch die weitreichenden Konsequenzen dessen, was wir Globalisierung nennen. Sie wissen es aus Ihrer Arbeit, ich weiß es aus meiner: Globalisierung ist in den Augen vieler Menschen sehr stark mit Risiken verbunden und weniger mit Chancen. Globalisierung konfrontiert uns mit einer Vielzahl von Fremdem. Sie erschüttert Gewissheiten. Mangel an Orientierung und Mangel an Sicherheit sind etwas, was wir überall mit Händen greifen können.

Trotzdem möchte ich hier auch Chancen benennen. Globalisierung überwindet und öffnet weltweit politische, wirtschaftliche und kommunikative Grenzen. Sie verstärkt die Möglichkeit der Mobilität, der Vernetzung. Sie verändert die Verteilung von Armut und Reichtum zwischen Ländern und innerhalb von Ländern mit großen Chancen für die, die wir als aufsteigende Ökonomien bezeichnen. Sie schärft nicht zuletzt das Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam in einer Welt leben.

Dieses Bewusstsein müssen wir ausbilden, müssen wir entwickeln. Wir müssen dies tun in einem Geist, in dem wir wissen: Globalisierung ist keine Naturgewalt, sie ist eine von Menschen gemachte Entwicklung, die wir gestalten können ich füge hinzu: die wir gestalten müssen. Die Alternative wäre Isolation. Ich glaube, das ist keine verantwortbare Alternative auch nicht aus dem Geist des Evangeliums heraus. Also heißt unsere Aufgabe: Menschliche Gestaltung der Globalisierung. Worauf setzen wir da wir, die wir in Deutschland leben, wir, die wir Teil der Europäischen Union sind? Wir setzen auf unsere Erfahrung, auf unser Sozialmodell, auf unsere Soziale Marktwirtschaft. Wenn wir darauf setzen, müssen wir versuchen, dafür in der Welt zu werben. Dabei, denke ich, erleben wir auch, wie wir umzudenken lernen.

Wir waren schon etwas daran gewöhnt, eine eurozentrische Blickrichtung einzunehmen. Wir sind davon ausgegangen, dass Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika im Wesentlichen die Standards und Ideen bestimmen. Wir müssen heute sehen, dass diese Perspektive nicht einfach so aufrechtzuerhalten ist. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war noch jeder Vierte auf der Welt ein Europäer. Am Ende unseres Jahrhunderts, des 21. Jahrhunderts, wird nur noch jeder Vierzehnte ein Europäer sein. Wenn wir uns das vor Augen halten, dann wird uns klar: Wenn wir früher drei Menschen auf der Welt von unserer Idee überzeugen mussten, dann müssen wir am Ende dieses Jahrhunderts 13Menschen überzeugen, die nicht alle von Haus aus der Meinung sind, dass nur wir Recht haben. Ich spüre auf vielen Reisen immer wieder: Wir müssen Überzeugungskraft aufbringen, um Menschen davon zu überzeugen, dass unser Bild vom Menschen, unsere Art zusammenzuleben, unsere Ideen etwas sind, was wir für Viele für richtig halten.

Die Kirchen sind sicherlich nicht die einzigen, die an dieser Überzeugungsarbeit mitwirken müssen. Aber sie sind maßgebend für die Überzeugungsarbeit für ein friedliches Zusammenleben, in dem die Würde jedes einzelnen Menschen unteilbar ist. Die visionäre Kraft der Kirchen ging der Politik oft weit voraus. Die Kirchen sowie christlich geprägte Persönlichkeiten hatten nach 1945 den europäischen Einigungsprozess sehr schnell mit Leben erfüllt. Kirchen gingen aufeinander zu, sie predigten und lebten Versöhnung im Aufbau unzähliger Partnerschaften, in Versöhnungsprojekten und auch in der Gründung der Konferenz Europäischer Kirchen. Das heißt also, auf die Erfahrung mit verheerenden Kriegen und mit dem Zivilisationsbruch durch die Schoah antworteten Kirchen mit beharrlichem Dialog, ausgestreckter Hand, mit Verständigung und der klaren Bereitschaft zur Versöhnung.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, schreibt dazu in seinem Buch "Im Geist der Freiheit" : "Im europäischen Rahmen wurde uns neu bewusst, dass die christlichen Kirchen und ihre Theologie dem Frieden zu dienen haben." In der Tat, viele Bausteine der Versöhnung und Verständigung wurden durch intensive Zusammenarbeit der Kirchen in Ost- und Westeuropa in feste Brücken eingefügt. So auch 1989. Damals versammelten sich in Basel die katholische Kirche, die orthodoxen Kirchen und die Kirchen der reformatorischen Tradition aus West- und Osteuropa, um gemeinsam am weiteren Bau des Hauses Europa mitzuwirken.

2001 haben sich Kirchen in Ost- und Westeuropa in der "Charta Oecumenica" zu den Menschenrechten, zu Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Toleranz und Solidarität als gemeinsame Grundüberzeugungen und zum gemeinsamen Eintreten für Religionsfreiheit bekannt.

In dieser Woche findet in der europäischen Kulturhauptstadt 2007, in Sibiu / Hermannstadt in Rumänien, die Dritte Ökumenische Versammlung der Kirchen Europas seit 1989 statt. Sie befasst sich auch mit globalen Herausforderungen, mit der Sicherung des Friedens, mit dem Klimawandel. Ich wünsche mir ein ganz klares Signal von dieser Ökumenischen Versammlung für das weitere gemeinsame Engagement der Kirchen für Europa und für ein gedeihliches Miteinander unserer Gesellschaften.

Unser Gesellschaftsmodell ist anspruchsvoll. Es gründet auf Freiheitlichkeit, auf Toleranz, auf Pluralität. Es bedarf tragfähiger Begründungen und einer immer wieder gelebten Praxis. Gerade religiöse Toleranz ist eine unentbehrliche Bedingung für das friedliche Zusammenleben einer pluralen Gesellschaft. Ohne Toleranz gibt es keinen Frieden zwischen Völkern, Kulturen und Religionen. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften tragen in großem Maße zur Entwicklung von Toleranz bei. Ich glaube, sie können ihre intensiv erlebten Versöhnungserfahrungen selbstbewusst in den Prozess der europäischen Integration mit einbringen.

Meine Damen und Herren, Freiheit ist schon im biblischen Zeugnis ein Schlüsselbegriff. Sie umfasst die Verheißung des Gelingens ebenso wie das Risiko des Misslingens. Aber nur, indem das umfasst wird, gibt Freiheit auch Raum für Gestaltung. Nun muss man der Ehrlichkeit halber sagen: Die Kirchen sind nicht immer nur als Förderer der Freiheit aufgetreten. Sie haben auch vor ihren Folgen gewarnt und Freiheitsprozesse mitunter negiert. Die christliche Theologie hat viel um das Verständnis der Freiheit gerungen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass darüber auch weiter gerungen wird. Ich glaube dennoch, wir müssen mehr Freiheit wagen. Nur so können wir die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirklich Erfolg versprechend gestalten.

Mehr Freiheit wagen was heißt das? Das bedeutet, auf die Menschen zu setzen, auf jeden Einzelnen, auf seine Kreativität, auf seine Individualität als Geschöpf Gottes. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Das prägt unsere Gesellschaftsordnung und das unterscheidet uns ganz deutlich von anderen Kulturkreisen. Aus christlicher Überzeugung heißt das für mich: Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild. Trotz aller Unterschiede kommt allen Menschen deshalb dieselbe Würde zu unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Nationalität und Alter, unabhängig von religiöser und politischer Überzeugung oder etwa dem Urteil Anderer.

Die Würde des Einzelnen ist unantastbar. Hieraus erwächst die Verantwortung, die Freiheit und die Würde des Menschen zu schützen. Freiheit und Verantwortung gehören deshalb ganz eng zusammen. Das heißt, wir müssen die Bürger- und Menschenrechte derjenigen verteidigen, die sie nicht gewährt bekommen. Andersherum: Wir müssen uns mit denen auseinandersetzen, die Freiheits- und Bürgerrechte ablehnen oder gar aktiv bekämpfen. Dies gehört unverzichtbar zum Kernbestand unserer Demokratie. Ich glaube, wir können sagen, als Christen gehört dies auch zu unserer Glaubensüberzeugung.

Nun glaubt mancher, in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung könne jeder ohne Rücksicht auf das Ganze seinen Interessen nachgehen. Lassen Sie mich das ganz klar sagen: Diese Vorstellung ist vollkommen unrealistisch, denn der Einzelne ist eben stets auch als verantwortlich Handelnder gefragt. Freiheit in Verantwortung ist unsere Vorstellung. Demokratische Strukturen funktionieren eben nicht ohne unser Zutun, sie erfordern klare Grundhaltungen. Und um lebensfähig zu sein, brauchen sie ein Gefühl der Mitverantwortung möglichst vieler Bürgerinnen und Bürger.

Deshalb gilt: Wer die errungene Freiheit bewahren will, muss bereit sein, auch entschlossen für sie einzutreten. Dazu gehört auch ein entschiedenes Eintreten gegen Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit alles Erscheinungen, die wir leider in unserer Gesellschaft zu beklagen haben. Dies ist eine Aufgabe, die nicht einfach delegiert werden kann. Dies ist vielmehr eine Aufgabe für alle für Eltern, Erzieher, Lehrer, Journalisten, für die, die engagiert in Jugendeinrichtungen und Sportvereinen arbeiten, und natürlich auch für die Kirchen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang an eine gemeinsame Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz unter dem Titel "Demokratie braucht Tugenden" aus dem Jahr 2006 erinnern. Darin heißt es: "Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht." Die Kirchen legen mit diesem Wort ein bemerkenswertes Bekenntnis zur Demokratie ab. Dieses Bekenntnis zur Demokratie wird von den Kirchen jeden Tag praktisch gelebt in der Diakonie, in der Caritas, im Religionsunterricht, in der Jugendarbeit, in den Gottesdiensten, in offenen und kritischen Debatten und in den kirchlichen Akademien.

Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen und ihr Wächteramt gegenüber politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sind nicht nur aus kirchlichem Selbstverständnis wichtig. Insbesondere die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und auch die mit der SED-Zeit haben das Verständnis für diesen zentralen Auftrag in der Gesellschaft entscheidend beeinflusst und geprägt. Kirchen sind nicht nur architektonische und geistige Zentren unserer Ortschaften, sie sind nicht nur festliche Gottesdiensträume an Sonn- und Feiertagen. Sie sind lebendig, sie sind unverzichtbare Akteure unserer Verantwortungsgemeinschaft. Sie agieren auf der Grundlage einer gewachsenen und überzeugten Bejahung der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes.

Kirchen haben kein Monopol der Sinnstiftung, aber sie haben authentische Botschaften. Dazu gehört für mich, dass sich der Wert des Menschen weder auf seine Eigenschaften noch auf seine Taten gründet, sondern er seine unveräußerliche Würde aus der Zuwendung Gottes gewinnt. Der Mensch ist zur freien Entscheidung fähig. Solidarität und Subsidiarität sind dabei ganz wesentliche Teile. Für mich gehört auch dazu, dass christlicher Glaube Hoffnung und damit auch Zukunft vermittelt.

Bischöfin Käßmann hat mir einmal, als ich eine ganz schwierige Frage gestellt bekommen habe, irgendwie aus der Patsche geholfen, und hat gesagt: Vielleicht sagen Sie doch einfach, dazu braucht man Gottvertrauen. Das ist etwas, was man eben manchmal braucht, wenn man eine schwierige Aufgabe hat.

Das Engagement der Kirchen ist breit gefächert in der Schuldnerberatung, in der Jugendarbeit, in Hospizen, in Aktionen für "Brot für die Welt", in der "Aktion Sühnezeichen" oder auch in der seelsorgerlichen Begleitung von Soldaten und Polizisten. Die Kirchen wirken durch dieses Engagement breit und positiv in unsere Gesellschaft hinein. Vielleicht machen wir uns das auch gegenseitig gar nicht immer klar. Konsequentes Einstehen für Mitmenschlichkeit, kompromisslose Unterstützung Schwacher und Hilfsbedürftiger, ein dauerhaftes Engagement für die eine Welt damit halten die Kirchen natürlich auch der Politik häufig kritisch den Spiegel vor, zum Beispiel auch im Umgang mit Fremden und mit Fremdenfeindlichkeit. Diese Aufgaben diese gelebten Aufgaben sind wichtig; sie weitgehend zu erfüllen, ist unverzichtbar für unsere Gesellschaft.

Dazu kommt aber, dass in einigen Großstädten und Regionen Deutschlands Christen inzwischen eine Minderheit sind. Kirchlich geprägtes Leben ist nicht überall selbstverständlich. Es entwickelt sich regional in unserem Land sehr unterschiedlich Sie werden davon einander berichten können. Daraus ergibt sich eine doppelte Herausforderung: Sie müssen sich jenseits der Kerngemeinden dem Einzelnen, dem vielleicht bislang religiös gar nicht Erreichten, zuwenden und sich zugleich wach an den öffentlichen Debatten beteiligen.

Die evangelische Kirche ist eine Kirche im Aufbruch. Der Zukunftskongress der EKD in Wittenberg im Januar dieses Jahres markiert, glaube ich, eine ganz wichtige Etappe. Er war aber natürlich auch verbunden mit heißen Diskussionen ich habe mir das von Bischof Huber berichten lassen. Der weitere Prozess mag zum Teil schwierig sein. Aber das, was Hoffnung gibt, ist doch, dass so viele Menschen gerade auch junge auf der Suche nach Sinn und Orientierung sind. Gerade große Ereignisse, die mit dem Glauben verbunden sind, die eine Begegnung mit dem Glauben ermöglichen ich denke an den Evangelischen Kirchentag in Köln oder an die Besuche des Papstes, geben uns doch Hoffnung.

Viele spüren und merken es auch in Stunden, in denen uns schreckliche Ereignisse erschüttern, dass die Religion und die Kirchen zu unserer Gesellschaft, zur Sinnfrage in unserem persönlichen Leben und zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft Unvergleichliches beitragen. Die Kirchen wollen ermutigen zur Wertschätzung der Demokratie. Christen sind aufgerufen, in Freiheit und Verantwortung vor Gott zu leben. Freiheit in Verantwortung heißt nicht, frei von etwas zu sein das ist der einfachere Teil. Nein, Freiheit in Verantwortung heißt vor allem, frei zu etwas zu sein. Darin liegt auch die Sinnstiftung.

Nach unserem Staatsverständnis sind Politik und Kirche getrennt, sie sind voneinander unabhängig. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Wir dürfen die Rollen nicht vertauschen. Beide, Staat und Kirche, dienen der persönlichen Entfaltung und auch der gesellschaftlichen Entfaltung des Menschen, aber in unterschiedlicher Begründung und in unterschiedlicher Verantwortung.

Für mich steht die Mitverantwortung der Politik für unser Gemeinschaftsbewusstsein aus Normen, Ideen und Einstellungen völlig außer Frage. Die Präambel unseres Grundgesetzes beginnt nicht ohne Grund mit den Worten "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen". Für die Politik hat dieses von uns selbst nicht schaffbare Fundament, hat dieses Menschenbild natürlich Konsequenzen. Wir sollten uns davor hüten, in Allmachtsphantasien zu verfallen oder solche zu entwickeln. Es ist ein Irrtum und es hat sich auch immer als solcher herausgestellt, wenn Politik der Meinung war, alles steuern und regulieren zu können. Das funktioniert nicht. Das heißt, ein gewisses Maß an Demut muss immer Bestandteil der Politik bleiben. Fehler können niemals ausgeschlossen werden. Deshalb sind demokratische Strukturen so wichtig.

Eine Gesellschaft, die den Menschen ins Zentrum stellt, kann nach meiner Auffassung für die Zukunft Sorge tragen. Es muss eine Gesellschaft sein, die auch immer in der Vergangenheitsverantwortung lebt. Es ist eine fortwährende Aufgabe in unserer öffentlichen Kultur, die Erinnerung an solche Zeiten wach zu halten, in denen Freiheit eben keine Selbstverständlichkeit war. Dazu gehört auch, dass wir das Verantwortungsbewusstsein fördern. Damit meine ich die Freude, die sich einstellen kann, wenn man Aufgaben im Beruf, in der Familie, in der Kirche, im Sport, im Ehrenamt übernimmt und wenn wir die Bürgergesellschaft sich entfalten lassen. Das ist das Salz unserer Demokratie.

Demokratie zu leben, ist eine Aufgabe für alle für Politik, für Medien, für Bürger, für alle Interessenvertreter. Die Kirchen tragen in dieser Gemeinschaft eine wesentliche Verantwortung und leisten einen Beitrag zum Zusammenhalt. Sie sind ganz nah bei den Menschen. Sie sind engagiert für unser Gemeinwesen.

Meine Damen und Herren, wenn ich mich in dieser wunderschönen Kirche umschaue, in der sich Kultur, Zuversicht und Gottvertrauen so harmonisch miteinander verbinden, dann bin ich ganz fest davon überzeugt: Die Kirche wird diese Rolle in unserer Gesellschaft auch in Zukunft spielen.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie in der Diskussion über Freiheit, Chancen und Aufgaben etwas Gemeinschaftliches auf Ihrem Pfarrertag finden, was Sie dann auch wieder ein Stück weit durch Ihre tägliche Arbeit führt. Ich wünsche Ihnen weiter gute Beratungen.

Herzlichen Dank.