Redner(in): Angela Merkel
Datum: 06.09.2007

Untertitel: gehalten am 6. September 2007 in Gütersloh
Anrede: Liebe Familie Mohn, sehr geehrter Herr Minister Rau, sehr geehrter Herr Thielen, sehr geehrte Vertreter der Citizenship Foundation aus Großbritannien, verehrte Botschafter, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/09/2007-09-06-rede-von-bkin-in-guetersloh,layoutVariant=Druckansicht.html


Kunst kommt von Können. Das haben wir gerade wieder gesehen.

Ich möchte mich ganz herzlich bei der Bertelsmann Stiftung und der Familie Mohn für die Einladung zur Verleihung des Carl Bertelsmann-Preises bedanken. Ich bin gern nach Gütersloh gekommen. Das gibt mir die Gelegenheit, der Bertelsmann Stiftung Dank zu sagen für ein umfassendes gesellschaftliches Engagement in vielen Bereichen, Dank zu sagen für Dinge, die weit in die Zukunft hineinreichen, von denen wir alle profitieren. Ich hoffe, es gibt eine gute Zukunft für die Bertelsmann Stiftung.

Die vielen Felder, auf denen Sie tätig sind, sind Bereiche der Wirtschaftspolitik, es sind viele gesellschaftliche Themen, Sie geben Denkanstöße, Vorschläge zur Lösung von Problemen. Sie schauen sich sehr genau an, welche neuen Ideen in anderen Ländern, in anderen Gesellschaften entwickelt werden, Sie schauen über den Tellerrand, Sie wissen, dass wir voneinander lernen können, und Sie fragen: Was können wir in Deutschland davon anwenden, was könnte auf uns übertragbar sein, wie könnte es unserem Land nutzen und wie können wir konstruktive Gedanken in unser Land hineinbringen?

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist der Carl Bertelsmann-Preis. Er wird international ausgeschrieben. Die Mehrzahl der Preisträger kam bisher auch aus dem Ausland. Als Frau Brigitte Mohn vorhin dargelegt hat, wo man überall war, habe ich mich mit Herrn Thielen ausgetauscht und gesagt: Es waren fast weniger Länder, in denen Sie noch nicht waren. Es war also eine umfassende, globale Auswahl. Wir in Deutschland werden dadurch bereichert, wir können hinschauen, nachsehen, weil wir mit vielen guten Ideen konfrontiert werden.

In diesem Jahr haben Sie das Motto gewählt: "Vorbilder bilden Gesellschaftliches Engagement als Bildungsziel". Wir werden gleich mehr darüber hören, was Deutschland zum Beispiel von der Förderung gesellschaftlichen Engagements junger Menschen in Großbritannien noch lernen kann. Es gilt für Großbritannien, es gilt für Deutschland, es gilt für jedes andere Land gleichermaßen: Ohne das Mittun der Bürgerinnen und Bürger kann eine demokratische Gesellschaft nicht funktionieren. Eine demokratische Gesellschaft ist angewiesen auf jeden Einzelnen und auf dessen Beitrag zum Gemeinwesen. Genau davon geht die Bertelsmann Stiftung aus: Möglichst viele in unserer Gesellschaft ansprechen, anrühren und zum Mitmachen bewegen.

Wir wissen, dass stabile zivilgesellschaftliche und damit auch freiheitliche Strukturen alles andere als eine Selbstverständlichkeit sind. Sie müssen von Generation zu Generation neu entwickelt werden, sie müssen immer wieder neu akzeptiert werden. Abstrakt gesprochen: Die besten Strukturen nützen nichts, wenn nicht Menschen dahinter stehen; Menschen mit ihren Ideen, ihrer Kreativität, ihren Gefühlen und ihrer Bereitschaft, Zeit einzusetzen Lebenszeit für andere Menschen.

Weil das nicht selbstverständlich ist, ist es so wichtig, dass Kinder und junge Menschen so früh wie eben möglich an ehrenamtliches Engagement herangeführt werden. Für die, die älter sind, geht es darum, Kindern und jungen Menschen ein gutes Vorbild zu sein. Dazu gehört auch, ihnen in ihrem Lebensumfeld die Möglichkeit einzuräumen, früh ein Stück Verantwortung zu übernehmen, mitentscheiden zu dürfen, mitgestalten zu dürfen. Ich würde mich daher freuen, wenn von dem Symposium, das gestern stattgefunden hat, und von der heutigen Preisverleihung ein Impuls ausginge, der Engagement als Bildungsziel zur Selbstverständlichkeit in allen deutschen Bildungseinrichtungen machen würde.

Gesellschaftlicher Einsatz als Bildungsziel und die Vermittlung von Freude am Engagement sind für mich auch ganz eng verbunden mit der Vermittlung von Werten, auf denen unser Verständnis von Gesellschaft und Staat aufbaut. Da nenne ich zuerst die Freiheit und die Eigenverantwortung. Sie stehen dabei nie allein. Für ein gedeihliches Miteinander ist vielmehr Freiheit mit Toleranz und Eigenverantwortung mit Solidarität verbunden. Nicht zuletzt müssen wir es auch verstehen, Gerechtigkeit von Gleichmacherei abzugrenzen. Die Menschen sind unterschiedlich. Jeder hat seine Persönlichkeit, seine Stärken und seine Fähigkeiten. Deshalb muss jeder einzelne Mensch Entfaltungsräume für das, was er kann, bekommen.

Wir können also gar nicht früh genug damit anfangen, solche Werte zu vermitteln. Denn gemeinnütziges Engagement will erlernt sein. Wir wissen ja: In jungen Jahren lernt es sich leichter. Übernahme von Verantwortung, Hilfe für Andere das muss für jeden praktisch erfahrbar werden. So ist "learning by doing" der beste Weg, gesellschaftliche und soziale Kompetenzen zu erwerben. Ich bin deshalb überzeugt: Engagement als Bildungsziel erfordert von den Bildungseinrichtungen eine ganz starke Praxisorientierung. Engagement ist nicht etwas, was man theoretisch lernen kann. Man muss es erleben, erfahren im wahrsten Sinne des Wortes. Der Theorie muss die Praxis nicht nur folgen, sondern die Praxis muss auch vorhanden sein. Den Worten müssen Taten folgen.

Das aber gelingt nach meiner festen Überzeugung nur, wenn wir eines bedenken: Wer Werte vermitteln und so auch zu Engagement anregen will, der braucht selber einen eigenen klaren Standpunkt. Das gilt in besonderer Weise für alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben für Eltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, Jugendleiter. Sie sind Vorbilder, im Guten wie im Schlechten.

Kinder und junge Menschen haben einen klaren, unverstellten Blick. Vorbilder, die grundlegende Werte glaubhaft vorleben, erreichen durch ihr Tun mehr als durch viele Moralvorträge. Alle Erwachsenen müssen sich fragen: Wie wirkt das, was ich mache, auf andere Menschen, vor allem auf Kinder und Jugendliche? Denn gerade junge Menschen beobachten sehr genau, ob Reden und Handeln übereinstimmen. Wenn das nicht der Fall ist, dann reagieren sie sehr empfindlich. Wer Wasser predigt und Wein trinkt, verliert schnell Glaubwürdigkeit und Respekt.

Von Kindern und Jugendlichen als Vorbild angenommen zu werden, erfordert jedoch auch umgekehrt Vertrauen. Eine für mich sehr interessante Befragung der Bertelsmann Stiftung hat ergeben, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen eigentlich nicht sehr viel zutrauen. Ich finde, das ist ein Ergebnis, das uns nachdenklich machen sollte. Sollten wir nicht viel mehr Vertrauen in die Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen haben? Sollten wir ihnen nicht immer wieder Aufgaben übertragen, mit denen sie sich beweisen können, mit deren Lösung sie uns auch überraschen? Sollten wir sie nicht da fordern, wo sie schon etwas beitragen können? Meine Antwort ist eindeutig: Ja, das sollten wir.

Natürlich müssen die Betätigungsfelder dem Alter angepasst sein. Selbstverständlich geht es nicht um Überforderung. Aber Kinder und Jugendliche haben so viele gute Ideen. Durch zu viele Vorgaben engen wir ihre Fantasie und Kreativität ein. Der kleine Erfolg motiviert mehr als manches andere. Der kleine Erfolg ist immer wieder eine Ermunterung, die nächste Herausforderung zu suchen, anzunehmen und dann auch zu bewältigen. So ist es eben: Erfolgreiches Engagement macht Erwachsene und genauso Kinder und Jugendliche stark. Die Erfahrung, Anderen geholfen, Widerstände überwunden zu haben, gibt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Genau das legt dann auch die Grundlage für einen eigenen Standpunkt.

Wir kennen viele Beispiele dafür. Auf dem "Markt der Möglichkeiten" draußen im Foyer können Sie sich über einige besonders interessante Initiativen informieren. Ich hatte im Sommer eine kurze Begegnung mit Schülerinnen und Schülern der Initiative "Schüler helfen Leben". Ich hatte sie eingeladen, am Sozialen Tag im Garten des Kanzleramts zu arbeiten. Ich war beeindruckt, mit wie viel Stolz mir diese jungen Menschen erzählt haben, wie sie Kindern und Jugendlichen auf dem Balkan helfen können.

Unter uns im Publikum sitzt Rita Süssmuth. Sie wird Ihnen nachher draußen das "Buddy-Projekt" vorstellen. In diesem Projekt setzen sich junge Menschen für andere junge Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung ein, meistens für Mitschüler. Sie werden trainiert, um bei Schulproblemen oder bei persönlichen Schwierigkeiten helfen zu können. Einige werden zu Streitschlichtern ausgebildet. Sie helfen zu verhindern, dass Konflikte im Klassenzimmer oder auf dem Schulhof in Gewalttätigkeiten münden. Es werden noch andere Projekte vorgestellt, die ich jetzt nicht im Einzelnen würdigen kann. Aber sie alle stehen für die vielfältige herausragende Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Ich wünsche, dass Sie mit all diesen Projekten Erfolg haben, Spaß haben, dass Sie sich gegenseitig bereichern und dass wir mehr solcher Projekte in unserer Gesellschaft haben. Denn alle diese Beispiele zeigen: Wir können Kindern und Jugendlichen eine Menge zutrauen, wir sollten ihnen immer wieder die Freiheit geben, eigene Wege für sich ausfindig zu machen.

Die Erkenntnis, dass Kinder und Jugendliche unsere Zukunft sind, ist ebenso alt wie wahr. Deutschland braucht starke Kinder und Jugendliche stark im Verantwortungsbewusstsein und stark in einem guten Miteinander. Wer sich aber erst nach ein paar Flaschen Bier oder mit einem Baseball-Schläger stark fühlt und dann auf andere Menschen losgeht, zeigt gravierende charakterliche Schwächen. Deshalb sage ich wir alle hier wissen es: Gewaltausbrüche dürfen wir in unserer Gesellschaft nicht tolerieren und nicht hinnehmen; jeder ist aufgerufen, dagegen vorzugehen.

Klar muss auch sein: Das gilt für jegliche Form von Gewalt ob sie sich nun gegen Ausländer, gegen behinderte Menschen oder gegen Ältere richtet, ob sie auf dem Schulhof unter Jugendlichen stattfindet oder ob Eltern ihre Kinder misshandeln oder vernachlässigen. Wir brauchen Kinder und Jugendliche, die sich dagegen gewappnet haben, gewalttätig zu werden oder radikalen Heilsversprechern auf den Leim zu gehen. Engagement als allgemein anerkanntes Lernziel ist ein gutes Mittel dagegen.

Wir wissen allerdings auch: Selbst willensstarke und selbstbewusste Kinder und Jugendliche können Gewaltprobleme nicht alleine lösen. Deshalb sind neben unmittelbaren Bezugspersonen, den Eltern und Lehrern, auch Polizei, Justiz und Politik immer wieder gefordert. Im Kampf gegen Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und im Kampf gegen alltägliche Gewalt kommt es auf das Zusammenwirken einer starken Zivilgesellschaft an, in der auch die Politik ihre Verantwortung kennt. Wir fördern daher mit vielfältigen Initiativen und Projekten gesellschaftliches Engagement. Damit wollen wir zum einen die unterstützen, die engagiert sind. Zum anderen geht es uns darum, das Potenzial derer zu erschließen, die sich gerne noch mehr in die Gesellschaft einbringen würden.

Der Bundestag hat vor wenigen Wochen das "Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements" verabschiedet. Es sieht eine Reihe steuerlicher Verbesserungen vor. Damit wollen wir die Spendenbereitschaft fördern, wir wollen Stiftungen, Vereinen und Übungsleitern besser helfen, ihre Arbeit zu tun.

Ich möchte auch erwähnen, dass Bundesministerin von der Leyen eine Reform des Jugendfreiwilligendienstes auf den Weg gebracht hat. Ganz wichtig wird für die jungen Freiwilligen sein, dass der Freiwilligendienst flexibler gestaltet wird, dass er in mehr Abschnitte aufgeteilt werden kann. Ausländische und inländische Einsätze sollen miteinander kombiniert werden können. Wir wollen auch den Zivildienst ausbauen und ihn stärker als Lerndienst organisieren.

Vor wenigen Tagen hat die Bundesjugendministerin auch die Initiative "Miteinander Füreinander" ins Leben gerufen. Diese Initiative dient dazu, Organisationen, die freiwillig Engagierten helfen, durch Vernetzung, durch Beratung und Qualifizierung weiter zu stärken. Wir wollen damit auch Unternehmen mehr in die gesellschaftliche Verantwortung einbeziehen. Bei der Firma Bertelsmann muss man das nicht erwähnen. Dort ist dies seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Aber das gilt noch nicht für alle in Deutschland. Deshalb wollen wir ihnen mit Rat und Tat helfen.

Auf politischer Seite wollen wir mit all diesen Maßnahmen auch ein starkes Signal der Anerkennung und Wertschätzung an diejenigen senden, die sich um das Gemeinwohl verdient machen.

Meine Damen und Herren, wir leben in einer Demokratie, wir leben in freiheitlichen Verhältnissen. Freiheit ist ein kostbares Gut. Es ist für jede Gesellschaft und für jede Generation immer wieder eine neue Aufgabe, sie zu schützen. Wenn ich von Freiheit spreche, dann spreche ich nicht von einer Freiheit, die so verstanden wird, dass sie eine Freiheit von etwas ist. Stattdessen geht es mir darum, ein Freiheitsverständnis zu haben, bei dem wir Freiheit für etwas nutzen. Es muss immer wieder gelernt werden, dass Freiheit in Verantwortung bedeutet, die eigene Freiheit dafür zu nutzen, sich für Andere einzusetzen, das gesellschaftliche Leben mitzugestalten, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen.

Wir wissen: Gerade Kinder und Jugendliche sind oft leicht zu begeistern, wenn man ihnen die Chance gibt, etwas in die Hand zu nehmen, etwas selbständig zu machen."Null Bock" wird dann zum Fremdwort und Verführungen von rechts und links haben keine Chance mehr. Deshalb unterstütze ich aus vollem Herzen, dass gesellschaftliches Engagement ein Ziel unserer Bildung wird, dass gesellschaftliches Engagement so etwas wie ein durchgängiges Leitprinzip von Bildungsstätten wird. Und so hoffe ich, dass uns die diesjährige Preisverleihung bei der Erreichung dieses Ziels einen Schritt voranbringt.

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Verantwortlichen in den Ländern und Kommunen, in den Bildungseinrichtungen und Verbänden dieses Ziel zu Eigen machen. Es ist eine Investition in die Zukunft. Viele Menschen in unserem Land haben diese Investition bereits getätigt. Auch diesen soll in der Stunde der Preisverleihung ein herzliches Dankeschön gelten. Denn nur mit Gesetzen, Vorschriften und Regeln kann Engagement nicht gelebt werden. Engagement setzt immer auch das eigene Herz, die eigene Lust, die eigene Freude voraus. Dies kann rechtlich nicht erzwungen werden, aber wir können ein gesellschaftliches Klima schaffen, in dem mehr und mehr Menschen Lust dazu haben, sich in diese Gesellschaft einzubringen.

Herzlichen Dank, dass wir heute diese Preisverleihung als Teil dieser Aufgabe haben.