Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 10.09.2007

Untertitel: gehalten am Montag, den 10. September 2007, an der Humboldt-Universität zu Berlin
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/09/2007-09-10-rede-chefbk-stiftung-redekultur,layoutVariant=Druckansicht.html


Wer über das Wesen von politischer Rhetorik redet, kann nicht anders, als zugleich über Politik selbst zu reden. Das gilt natürlich insbesondere, wenn Sie einen Politiker dazu einladen.

Politik aber ist neben vielem anderen auch Wandel. Der Wandel der Politik verändert auch die politische Rhetorik.

Als die klassischen Lehrmeister der Rhetorik im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts ihre Werke schrieben, fand politische Rhetorik wesentlich auf einem Platz in der Mitte der Stadt statt -

zwischen einigen hundert, maximal wenigen tausend gebildeten Menschen, die sich alle persönlich kannten und häufig genug auch familiär verbunden waren.

Nach heutigen Maßstäben war das eine kleinstädtische Bürgerversammlung - die allerdings über existenzielle Fragen von Krieg und Frieden, Tyrannei und Demokratie beriet und entschied.

Als sich im 19. Jahrhundert der moderne Parlamentarismus entwickelte, beriet und entschied immer noch eine kleine Schicht, aus der sich die politische Elite rekrutierte. Aber man musste Abgeordnete aus allen Städten und Regionen des territorialen Nationalstaates überzeugen.

Das gehobene Bürgertum las das Gesagte in wenigen Zeitungen. Beamtenschaft, Militär, Richter, Botschafter, Bürgermeister und Unternehmer wurden in ihrem Denken und Handeln beeinflusst.

Bekannt ist Bismarcks hohe Fistelstimme, mit der er weder auf den Marktplätzen noch im TV-Duell eine gute Figur gemacht hätte.

Sein trotziges Wort: "Nach Canossa gehen wir nicht" hat damals vermutlich jeder im Reichstag verstanden. Würden die Wähler das heute verstehen?

Selbst die Rhetorik der alten westdeutschen Bundesrepublik - durchaus das, was man eine typische plurale Massendemokratie des 20. Jahrhunderts nennt scheint uns manchmal schon weit entfernt.

Wer Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 liest, der ist erstaunt über die langsame Hinführung und die anspruchsvolle Ausdrucksweise, in der er sein berühmtes "Mehr Demokratie wagen" einleitet und erläutert.

Für einen modernen 12-Sekunden-Schnitt in der Tagesschau wäre die Rede ziemlich untauglich gewesen.

Manche Rahmenbedingung hat sich also grundlegend geändert. Trotz aller Veränderungen: Das Wichtigste im Verhältnis von Rhetorik und Politik bleibt, so denke ich, doch gleich.

Natürlich vermisse ich oft eine moderne "agora", einen politischen Marktplatz, auf dem das wirklich Wichtige ausgetauscht wird. Das Parlament ist es zu selten, die Talkshow nie.

Immer geht es um Menschen, um Leidenschaft, Augenmaß und Vernunft, Entscheidung, Führung, Persönlichkeit.

Deshalb drei grundsätzliche Anmerkungen und danach eine aktuelle:

Rhetorik sollte sein: Dienerin des Politischen, nicht ihr Herr.

Am Anfang der Demokratie stand auch die Rhetorik, sie wurden zugleich geboren. Wer aber dient wem?

Von der Figur des Volkstribuns zu der des Staatsschauspielers ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Zum Demagogen leider auch. Schon Sophistiker und Sokratiker im antiken Griechenland stritten um Gründe und Abgründe der Redekunst, weil sie um die große Macht wussten, die von Worten ausgehen kann.

Uns allen hier fallen sicher auch Beispiele aus der aktuellen politischen Szenerie ein, die uns die Ambivalenz von Sprachmächtigkeit in der Politik deutlich machen.

Das öffentliche Wort in all seinen Erscheinungsformen ist vielleicht neben dem Recht das zentrale Herrschaftsinstrument der Demokratie. Dabei muss aber das Herrschaftsverhältnis immer klar sein. Rhetorik darf die Politik nicht beherrschen, sondern muss ihr dienen.

Es geht um die Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit dem Verhältnis von Inhalt und Verpackung, von Substanz und Fassade. Und es sind gerade die professionellen Werbefachleute und Vertriebsmanager, die wissen: Auf Dauer trägt nur die Substanz.

Allerdings bekommen wir meistens viele umgekehrte Ratschläge.

Natürlich wäre es blauäugig, in unserer hochgezüchteten Kommunikationswelt nicht auf ein exzellentes Marketing zu achten.

Häufig ist der Ruf zu hören: Warum verkauft Ihr das nicht einfach besser? Gerade die Parteigefolgschaften haben hier sehr hohe Erwartungen an ihr Führungspersonal.

Aber fast immer, wenn ein politisches Produkt sich als hartnäckiger Ladenhüter erweist, steckt der Kern des Problems nicht in der Verpackung, sondern in der Sache.

Auch wenn wir Politiker das natürlich nicht gerne zugeben, sondern den schwarzen Peter weiterreichen, an die Medien zum Beispiel. Es ist so.

Deswegen beginnt jede gute politische Rhetorik damit, dass sie nur über die Dinge redet, zu denen es auch wirklich in guter Verpackung etwas Substanzielles zu sagen gibt. Ist ein politisches Vorhaben noch nicht so weit, dann sollte man der Versuchung widerstehen, darüber schon das große Wort zu schwingen. Hier zeigt sich das Dienende der Rhetorik in der Zurückhaltung der Darstellung.

Wirksame Rede ist nicht gleich guter Rede.

Die Übereinstimmung von Inhalt und Form und die Dominanz der Substanz sind notwendig, aber keineswegs ausreichend. Eine wirkungsvolle Rede kann manches in Gang setzen hin zum Guten wie zum Bösen.

Wir in Deutschland haben diesen Unterschied in der Geschichte des 20. Jahrhunderst besonders nachhaltig und verhängnisvoll lernen müssen.

Nicht umsonst kennt der klassische Kanon der Rhetorik-Lehre drei Bedingungen: Logos, Pathos und - Ethos! Also emotionaler Appell, persönliche Glaubwürdigkeit und vernünftige Argumentation und Redlichkeit.

Die Medien filtern oft nach dem Schema: Wenn ein Politiker etwas sagt, meint er das Gegenteil oder etwas anderes. Ich behaupte: Die meisten Politiker meinen auch das, was sie sagen. Aus Sicht einer Regierungszentrale und im Hinblick auf die Kommunikation und mancher Querschüsse wünsche ich es mir manchmal andersherum. Aus Sicht einer Regierungszentrale und mit Blick auf Kommunikationsdisziplin und Querschüsse aus den eigenen Reihen wünschte man es sich manchmal sogar andersherum ) .

Aber richtig ist: Wir Politiker müssen in der modernen Parteien- und Mediendemokratie so unendlich viel reden. Wir müssen und wollen beständig Worte zu allem finden. In der Fülle, im quantitativen Übermaß, liegt schon ein Problem. Häufige Rede kann nicht immer gut sein.

Deshalb müssen wir uns schon zu recht fragen lassen, ob wir immer die nötige Sorgfalt im Sinne von Logos, Pathos und Ethos walten lassen.

Ich denke dabei insbesondere an den Logos, die Kraft der vernünftigen Argumentation, die oft zu kurz kommt. Ein Argument kann nur überzeugen, wenn es auch die Gegenposition benennt und dann widerlegt.

Das setzt übrigens ganz altmodisch harte Arbeit an und in der Sache voraus.

Gerade die parlamentarische Demokratie hat Rede und Gegenrede mit feinem Regelwerk zu einem anspruchsvollen Dialog entwickelt - jedenfalls dem Ideal nach.

Wir Politiker scheuen uns viel zu häufig, das Argument der anderen Seite klar zu benennen. Wir haben Angst, das könnte als Zugeständnis ausgelegt werden. Oft wird das dann auch verkürzt wiedergegeben, etwa in Interviews. Sie können sicher sein, dass die Agenturfassung nur ein Argument liefert.

Dabei gewinnen wir nicht an Glaubwürdigkeit, sondern verlieren sie.

Die Menschen wissen, dass es im Leben nie nur Schwarz und Weiß gibt. Fast jede Sache hat zwei Seiten. Die Menschen wollen ernst genommen, nicht an der Nase herumgeführt werden.

Und wenn es eins gibt, was gesellschaftlicher Pluralismus, moderne Kommunikation und Vielfalt der Wahlmöglichkeiten im 21. Jahrhundert mit sich bringen, dann das: Die Menschen wollen immer weniger eine Erkenntnis autoritär vorgesetzt bekommen und immer mehr überzeugt werden.

Die größten Versuchungen, den Ethos, die Redlichkeit über Bord zu werfen, lauern naturgemäß nicht in der parlamentarischen Debatte, sondern im Wahlkampf.

Allerdings führen sich manche auch im Parlament permanent so auf, als seien sie im Schlussspurt eines Wahlkampfs.

Die gefährlichste Umkehrung des Herrschaftsverhältnisses von Politik und Rhetorik ist dabei nicht etwa die gemeine Lüge. Sie lässt sich in der Regel enttarnen und die Menschen haben auch meist ein gutes Gespür dafür, ob sich das Gesagte völlig außerhalb der Realität bewegt.

Viel schlimmer ist die halbierte Wahrheit - im Wissen um die ganze. Denn diese halbe Wahrheit lässt sich nicht widerlegen und verführt doch zu falschen Schlüssen.

Hier ist die Politik elementar darauf angewiesen, dass Medien und Öffentlichkeit die zweite Hälfte ergänzen, statt den unlauteren Streit noch durch zugespitzte Überschriften und herausgeschnittene Zitate anzuheizen.

Die Regeln der guten Rede gelten übrigens für alle Stationen des Kommunikationsstranges für die Sprechenden, die Wiedergebenden und die Aufnehmenden. Zuhören ist ein Teil von politischer Rhetorik. Und auch hier müsste gelten, die Dominanz des Logos, der Substanz vor allem anderen.

Verständlichkeit und Echtheit

Von Politikern wird heutzutage besonders verlangt, authentisch zu sein. Brüche, Widersprüche, Irrtümer, Grobheiten, Flachheiten, Dummheiten vieles lässt die öffentliche Meinung durchgehen. Hauptsache, der Politiker ist authentisch.

Gegen sichtbare Kanten oder Meinungswandel aufgrund besserer Einsicht ist ja auch nichts zu sagen.

Aber der Ruf nach Authentizität führt auch zu dem Drang, das eigene Private zu vermarkten und Lebenskrisen und ihre Bewältigung als Markenzeichen für Transparenz und Ehrlichkeit auszugeben. Ich plädiere dafür, diese beiden Dinge auseinander zu halten. Auch in der Mediendemokratie gibt es keinen Anspruch darauf, dass Politiker kein Privatlebeben haben.

Was ich aber für unerlässlich halte, ist so zu sprechen, dass es für jedermann verständlich bleibt und wahrhaftig. Das ist ein ständiger Kampf gegen die Floskeln und Standardsätze. Und weil so unheimlich viel geredet und "getalkt" wird in unserer Mediendemokratie, ist dies bei bestem Willen eine wahre Herkulesarbeit.

Viele Fachbruderschaften verschleiern auch gerne Ihre Sprache, um Expertenwissen vorzutäuschen und sich gegen Kritik zu immunisieren. Das gilt nicht nur, aber auch in der Politik.

Der große Theologe und Philosoph Romano Guardini hat einmal gesagt: "Was fangen wir nur mit den zu Tode geredeten Wörtern an? Es hilft wohl nur eins: immer einfacher sprechen, denn die Einfachheit widersteht der Zerstörung am längsten." - "Wer es aber mit ihr versucht hat" so fährt Guardini fort "weiß, wie schwer es ist." ( Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, 1952 )

Bei vielen Journalisten findet vor allem das gelungene Bonmot, die treffende Attacke, das gewitzte Wortspiel Beifall mithin die Dekoration am rhetorischen Bauwerk. Bei den meisten Reden kann man voraussehen, welches Wortspiel zitiert wird, unabhängig davon, ob es den Inhalt der ganzen Rede zutreffend zusammenfasst oder einfach nur "schön" ist.

Wie wäre es, wenn jemand einen anderen Preis ausloben würden: Einen Preis für einfache, echte, verständliche Sprache, die ein schwieriges politisches Thema behandelt?

Soweit einige grundsätzliche Anmerkungen zum Verhältnis von Politik und Rhetorik. Zum Abschluss noch eine Bemerkung zur aktuellen Situation.

Braucht eine Große Koalition eine große Erzählung?

Genau dies wird ja immer wieder von den Kommentatoren angemahnt: Wo bleibt die eine Große Rede? Nur noch Klein-Klein. Gebt uns eine Vision! Dann sind die Menschen auch zu anstrengenden Reformen bereit.

Braucht eine Reformregierung eine "große Erzählung" ? Ich sage: Im Prinzip ja. Aber man muss aufpassen, dass man nicht abstürzt. Denn große Erzählungen handeln von großen Taten. Sind die Taten nur erfunden, erzählt man Märchen. Liegen die Taten alle noch in der Zukunft, kann es sich um Science Fiction handeln. Märchen und Science Fiction - beides taugt nicht als politisches Genre.

Und die meisten "großen Erzählungen" über politische Epochen sind nacherzählt, also im Nachhinein erklärend systematische Analysen. Der "große Plan" wird im Nachhinein geschrieben.

Eine Reformregierung, die dennoch mit einer großen Erzählung antreten will, braucht vor allem eins. Ein sehr hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Das setzt zweierlei voraus: Ein intaktes Band zwischen politischer Klasse und Bevölkerung. Und die politischen Akteure dürfen sich nur wenig für vorangegangene Politik verantworten müssen. Man wird ehrlich konstatieren müssen: Diese Bedingungen sind derzeit nur eingeschränkt gegeben.

Deswegen besser: Erst die Taten. Da sind wir dabei. Dann kann durchaus eine große Erzählung gewagt werden. Wovon sollte sie handeln? Doch von dem, was die Menschen bekümmert, was die Menschen hoffen lässt. Über Verunsicherung und Selbstvertrauen. Über Durchsetzungskraft und Zusammenhalt. Über die älter werdende Gesellschaft und die Zukunft unserer Kinder.

Aber die gemeinsame Erzählung einer großen Koalition müsste noch eine Bedingung erfüllen: Sie muss auf eine spürbare politische Freund-Feind-Kennung verzichten.

Die Frage ist dann immer noch offen, ob das lange genug ertragen würde. Erstens von der jeweiligen Kern-Anhängerschaft, zweitens von der medialen Öffentlichkeit. Hier hören wir dem Ruf nach schärferem Profil, dort den Vorwurf der Langweiligkeit beide sind der Tod jeder großkoalitionären Erzählung.

Ich halte etwas anderes in den kommenden Jahren für wichtiger. Nach einem bekannten Wort besteht Politik zur Hälfte darin, sich über die Wirklichkeit zu verständigen. Dazu bedarf es essenziell einer gemeinsamen Sprache.

Dass dieser Verständigungsprozess einem Gemeinwesen gelingt, wird vor allem dann zukunftsentscheidend, wenn sich die Dinge grundlegend ändern.

Ein britischer Berater von Margret Thatcher hat Ende der Siebziger Jahre für die politische Sphäre notiert: Der Grund, warum es demokratischen Regierungen so schwer fällt, beginnende Auflösungserscheinungen in einer Gesellschaft aufzuhalten, liegt darin, dass weder sie noch die meisten politischen Kommentatoren den Augenblick bemerken, in dem sich die Spielregel ändern, so dass überkommenes politisches Denken und Verhalten plötzlich obsolet ist." ( John Hoskyns, späterer Leiter des Grundsatzreferates in Downing Street 10, zitiert nach Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution, 2002 ) .

In einer solchen Situation bedarf es zur neuen Verständigung, zu einem neuem Grundkonsens in einem Gemeinwesen auch der entsprechenden Sprache.

Es spricht doch einiges dafür, dass wir mitten in einer grundlegenden Veränderung unserer Lebenswelt stecken - eine Veränderung, die wir mit den Stichworten Globalisierung, Wissensgesellschaft und demographischer Wandel umreißsen, aber erst dabei sind, in aller Konsequenz richtig zu verstehen.

Haben wir für diese neuen Fragen und Antworten, für das Leben im 21. Jahrhundert zwischen i-phone und Nanotechnik, Familie und viertem Lebensalter, Klimawandel und Renaissance des Religösen schon die richtige Sprache gefunden?

Das zu versuchen, halte ich für eine vornehme Aufgabe der politischen Rhetorik unserer Zeit. Und sie gilt allen, die sich am öffentlichen Diskurs beteiligen. Es ist Aufgabe des ganzen Gemeinwesens, nicht nur der Politik.

Die richtigen Worte zur Beschreibung der Wirklichkeit im 21. Jahrhundert zu finden, dazu rufe ich uns alle auf. Dann werden große Erzählungen über Politik mit Logos, Pathos und Ethos auch wieder möglich und vor allem verständlich besser noch verstanden.

Rhetorik und Politik bleiben aufeinander angewiesen. Das war auf dem Athener Marktplatz genauso wie auf den rhetorischen Marktplätzen von heute.

Ich wünschte mir, dass dabei mehr von den Universitäten die Rede wäre, nicht nur in einer Rhetorik-Woche an der Humboldt-Universität.