Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 02.10.2007
Untertitel: Rede vom Chef des Bundeskanzleramtes, Bundesminister Thomas de Maizière, zur Festveranstaltung der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/10/2007-10-02-rede-chef-bk-tag-der-deutschen-einheit,layoutVariant=Druckansicht.html
uns führt heute, am Vorabend des 3. Oktober, ein wichtiger Feiertag der nationale Feiertag zusammen: der Tag der Deutschen Einheit.
Ein Feiertag bietet eigentlich den richtigen Rahmen für eine richtig schöne Sonntagsrede. Bezogen auf die deutsche Einheit hieße das, von den Vorzügen Usedoms, Rügens oder des Erzgebirges zu schwärmen, die Kerzen des Jahres 1989 "leuchten" zu lassen und im Übrigen die Fortschritte beim Aufbau Ost hervorzuheben.
Beschwerden von Oberbürgermeistern aus dem Westen über die scheinbare Bevorzugung des Ostens, die anhaltenden Diskussion über die Verwendung von Solidarpaktgeldern oder die Debatte über Bevorzugung oder Benachteiligung der finanziellen Ausstattung bei der Kinderbetreuung in Ost und West gäbe dagegen eigentlich den richtigen Rahmen für eine Nicht-Sonntagsrede, für eine Dienstags-Rede.
Nicht fehlen dürfte in einer solche Rede der Verweis auf die massiven wirtschaftlichen Probleme im Osten, die gravierenden Folgen der Abwanderung aus den neuen Ländern und die abnehmende Solidarität des Westens, über Rechtsextremismus und die PDS.
Ich will hier und heute weder eine Sonntags- noch eine Dienstags-Rede halten. Beides würde der Situation, die wir heute vorfinden, nicht gerecht. Mein Ziel mit dieser Rede heute ist es vielmehr, Verständnis dafür zu wecken, dass die Lage nicht weiß oder schwarz, nicht nur gut oder nur schlecht ist. Ich möchte zeigen, dass sich die Situation in den ostdeutschen Ländern differenziert darstellt. Und ich möchte vor allem damit zum Ausdruck bringen, dass darin ein Stück deutscher Normalität liegt: Vielfalt ist in unserer Geschichte, unserer Verfassung und als Ausfluss von Freiheit normal, also der Regelfall. Einheitlichkeit ist der Ausnahmefall.
Ich möchte auch zeigen, dass unser Ziel nicht die Gleichheit der Lebensverhältnisse in ganz Deutschland sein sollte. Unser Ziel sollten gleichwertige Lebensverhältnisse sein. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind immer der jeweiligen Region angepasst. Auch West ist nicht gleich West die Menschen im Ruhrgebiet leben anders als die Menschen im Stuttgarter Raum. Auch in der alten Bundesrepublik gibt es starke Unterschiede.
Nun zunächst zu einigen Fakten:
I. 17 Jahre sind mittlerweile vergangen, seit am 1. Juli 1990 aus der Währungs- , Wirtschafts- und Sozialunion von Bundesrepublik und DDR am 3. Oktober1990 Deutschland eins wurde. Vor fast 18 Jahren standen die mutigen Frauen und Männer in Leipzig und anderen großen Städten der damaligen DDR gegen die Diktatur der SED auf.
Für einen Historiker ist dieser Zeitraum kurz. Doch für den ganz normalen Bürger ist das Ereignis bereits Geschichte. Für viele Menschen, vor allem in Westdeutschland, hat der Siegeszug des Mobiltelefons vielleicht zumindest vordergründig mehr im Alltagsleben verändert, als die wie nebenbei hingeworfenen Worte des Politbüromitglieds Günther Schabowski, der an jenem Abend des 9. November 1989 auf Nachfragen von einem Zettel ablesend, verkündete, dass die Grenzübergänge "ab sofort" offen seien.
Die Freude über die wiedergewonnene Freiheit der Menschen im Osten Deutschlands in dieser Nacht und während der folgenden Wochen wird wohl keiner vergessen, der dabei sein durfte.
Aber es blieb insbesondere für viele Menschen in Westdeutschland zunächst ein Ereignis, das auf ihren Alltag keinen nachhaltigen Einfluss hatte. Später wurde für sie oberflächlich betrachtet, nur die Postleitzahl verändert... .
In Ostdeutschland war es anders. Dort wurde das Freudenfest dann abgelöst von einem Alltag, der tägliche Veränderungen mit sich brachte.
Die Mühen der Ebene verdrängten in West wie in Ost schnell, für meinen Geschmack zu schnell, die Freude an der Vereinigung und vor allem die Freude über die neugewonnene Freiheit.
Wer in Freiheit lebt, für den wird die Freiheit recht schnell zu einer Selbstverständlichkeit, manchmal vielleicht sogar zu einer Belastung wenn man nicht gewohnt war, damit umzugehen.
Jener 9. November 1989 war eine wichtige Zäsur in der Geschichte Deutschlands. An jenem Tag wurde das Ende der über 40-jährigen kommunistischen Herrschaft in der ehemaligen DDR besiegelt. Dass die DDR am Ende war, konnte man aber bereits vorher an der stinkenden Luft riechen, an den absterbenden Bäumen und vergifteten Flüssen sehen und bei Fahrten über holprige Autobahnen spüren. So erklärt sich auch, dass die ersten und frühen Widerstandsbestrebungen aus der Umweltbewegung kamen, die meist bei der evangelischen Kirche Zuflucht suchte und Zuflucht fand.
Für die Klügeren unter den Spitzen der SED war der Zusammenbruch der DDR vorhersehbarer als für die Massen auf der Straße und die DDR-Experten im Westen. In einer "Vorlage für das Politbüro des ZK der SED" diagnostizierten fünf hochrangige Wirtschaftsfunktionäre der DDR unter Führung des Vorsitzenden der staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, im Oktober 1989 die Überschuldung der DDR. Sie kamen zu dem Schluss, dass eine Rettung nicht mehr möglich sei. Im Auftrag des vorletzten DDR-Regierungschefs Egon Krenz stellten die fünf Herren im Oktober 1989 fest, dass die Zahlungsfähigkeit 1985 noch mit großen Anstrengungen hätte hergestellt werden können. 1989 wussten der Politkader der DDR, dass das nicht mehr möglich war."Heute besteht diese Chance nicht mehr. Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen." Das Ende war also damals bereits verdammt nahe.
Trotzdem kam die friedliche Revolution in der DDR und vor allem die schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik für alle Beteiligten überraschend. Da war innenpolitisch nichts geplant. Es gab keine Konzepte für einen Vereinigungsprozess in den Schubladen der Bonner Ministerien.
Um so großartiger war deshalb einerseits die Leistung der Ostdeutschen, die als Ingeneure, Ärzte, Handwerker, Physiker oder Pfarrer an den Runden Tisch kamen oder danach in der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR plötzlich Staatssekretäre oder Minister wurden, um in dieser Funktion die Vereinigung zu verhandeln. Ich habe die Bezeichnung Laienschauspielgruppe nie als Beschimpfung empfunden. Wer waren denn stattdessen die Profis? Und was hatten die angerichtet?
Wichtiges geleistet haben andererseits auch die westdeutschen Politiker und die Ministerialbeamten, die von heute auf morgen Neuland betraten und den Anfang des neuen, größeren Deutschlands zu bauen hatten. Trotz mancher Fehler: Das war eine Sternstunde deutscher Politik und Verwaltung; man bedenke den Zeitraum vom Tag der Volkskammerwahl am 18. März bis zum 3. Oktober!
Doch die Probleme waren vielerorts größer, als es die Beteiligten erwartet hatten. Das ökonomische Desaster der DDR vor allem hätte umfassender öffentlich dargelegt werden müssen. Dann wären manche Enttäuschungen später und bis heute nicht so groß gewesen.
Es wäre natürlich schön gewesen, wenn die Treuhandanstalt ihre Privatisierungsauftrag mit einem kräftigen Plus abgeschlossen hätte. Es gab für diesen Fall lange streitige Debatten auch der sog. Profis West, ob man den "Gewinn" an die Bürger der DDR auskehren solle man schätzte den Gewinn damals auf 150Milliarden DM. Die Unternehmen im volkseigenen Besitz waren jedoch so marode, dass die Treuhandanstalt ihre Arbeit mit einem Minus von weit über 100 Milliarden Euro abgeschlossen hat.
Natürlich wäre es schön gewesen, wenn die Infrastruktur in deutlich kürzerem Zeitraum hätte erneuert und modernisiert werden können. Tatsächlich hatte die DDR aber so stark von der Substanz gelebt, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einem Gutachten für die Solidarpakt II-Verhandlungen noch 10 Jahre nach der Vereinigung einen Nachholbedarf bei Autobahnen, Schienenwegen, Wasserstraßen von weit über 150 Milliarden Euro feststellte. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits ein dreistelliger Milliardenbetrag in die Wiederherstellung und den Neuaufbau der Infrastrukturen geflossen.
Gerade bei der Diskussion über die Ausgaben für Infrastruktur und die dafür noch notwendigen Finanzmittel wird gerne mit dreistelligen Milliardenbeträgen hantiert. Hier trifft man in Ost und West einen besonders empfindlichen Nerv in der Diskussion über den Aufbau Ost.
Über besondere Zuweisungen an die ostdeutschen Länderhaushalte und überproportionale Ausgaben etwa für Infrastrukturmaßnahmen und Wirtschaftsförderung engagiert sich der Bund gegenwärtig mit 15 Milliarden Euro im Jahr beim Aufbau Ost. Diese Leistungen werden in den nächsten Jahren planmäßig und vereinbarungsgemäß abgeschmolzen bis zum Jahr 2020 auf Null.
Die Bundesregierung hält am Solidarpakt II, der finanziellen Grundlage des Aufbaus Ost, ohne Abstriche fest. Der Solidarpakt hat eine Laufzeit bis Ende 2019. Er ist seit der Föderalismusreform I im Grundgesetz abgesichert. Dies ist ein realistischer Zeithorizont, in der die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auch auf wirtschaftlichem Gebiet in ganz Deutschland wohl erreicht sein kann.
Angesichts wachsender Steuereinnahmen und sinkender Neuverschuldung in den öffentlichen Haushalten wird nun von einigen Seiten gefordert, den Solidaritätszuschlag zu senken oder abzuschaffen.
Diese Forderung kommt trotz aller Fortschritte aus meiner Sicht zu früh. So sind die finanziellen Lasten der deutschen Einheit für den Bundeshaushalt noch lange nicht bewältigt. Und gesamtstaatlich stehen wir vor der schwierigen Aufgabe, die öffentlichen Haushalte endlich aus der Verschuldung herauszuführen.
Die Gelder werde an dieser Stelle gebraucht. Deshalb halte ich wenig von den Vorstellungen einiger Länder in der derzeitigen Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat, Teile der Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag für den Altschuldenabbau der Bundesländer einzusetzen. Dafür steht der Solidaritätszuschlag nicht zur Verfügung. Und übrigens: Warum sollte auch der Bund die Länder entschulden?
Wegen der geringeren Wirtschafts- und Steuerkraft und der höheren Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Ländern kommt es durch den allgemeinen bundesstaatlichen Finanzausgleich und die gesamtdeutsche Organisation der Sozialversicherungen zu weiteren Nettozahlungen von West nach Ost und das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben.
Die hierin liegende gelebte Solidarität zwischen Bürgern in West und Ost sollte keinesfalls klein geredet werden. Denn natürlich hat dies auch zu höheren Abgaben und einer höheren öffentlichen Verschuldung in ganz Deutschland beigetragen.
Richtig ist: die Folgen der deutschen Vereinigung ließen und lassen sich nicht aus der Portokasse bezahlen.
Es griffe aber viel zu kurz, in der Deutschen Einheit den Grund für die um die Jahrtausendwende sichtbar gewordenen Strukturschwächen von Wirtschaft und Sozialsystemen zu sehen. Den Herausforderungen der Globalisierung hätte sich die alte Bundesrepublik auch ohne Wiedervereinigung stellen müssen. Und der demografische Wandel wird in den alten Ländern gegenwärtig durch Zuzüge aus Ostdeutschland sogar noch abgemildert. Gut ausgebildete Arbeitskräfte und auch die transfergestützte Nachfrage aus Ostdeutschland haben zudem durchaus einen positiven Wachstumsbeitrag im Westen geleistet.
Die Deutsche Einheit ist teuer. Das ist wahr. Sie bleibt teuer. Das ist auch wahr. Aber sie hat Deutschland als Ganzes wirtschaftlich nicht zurückgeworfen.
Soweit zu einigen Fakten.
II. In einem zweiten Punkt meiner Rede möchte ich mit Ihnen strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West beleuchten. Bis heute wirken besondere Faktoren, die ich dann näher beschreiben werde:
die Regionalstruktur in der DDR,
die Wirtschaftsstruktur,
die Bevölkerungsstruktur und
gesellschaftliche Grundstrukturen.
1. Zur Regionalstruktur. Im Norden der Deutschlands, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und in Teilen Sachsen-Anhalts, dominierte seit jeher die Landwirtschaft und die Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Großflächige landwirtschaftliche Betriebe prägten die Landschaft wie die Wirtschaft. Unternehmertum gab es, abgesehen von einigen Handwerkern, nicht mehr. Die meisten Menschen waren abhängig beschäftigt.
Der Süden der ostdeutschen Länder war einst das industrielle Zentrum Deutschlands. In Wolfen wurde der Farbfilm erfunden. Im Chemnitz steht die Wiege des deutschen Automobilbaus. Die Glasindustrie hatte ihr Zentrum in der Lausitz und die Bodenschätze des Erzgebirges, des Thüringer Waldes und des Harzes waren Finanzier und Motor der deutschen Industrialisierung. Neben großen Industrieunternehmen entwickelte sich über Jahrhunderte ein lebendiges Handwerk und ein starker gewerblicher Mittelstand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands war plötzlich die alte deutschlandweite regionale Arbeitsteilung nicht mehr möglich. Im Osten gab es keinen Schiffbau, im Westen war die Chemieindustrie unterentwickelt. Dem Westen fehlte die Kornkammer, der Osten hatte keine Erdölverarbeitungskapazitäten.
Die DDR begann deshalb planwirtschaftlich die Industrie auch regional neu zu organisieren. So wurde Eisenhüttenstadt zur Stahlstadt, so bekam Schwedt an der Oder eine Raffinerie und so wurde Rostock zum zentralen Schiffbaustandort der Ostsee. Orte wie Hoyerswerda oder Johanngeorgenstadt vervierfachten in wenigen Jahren ihre Bevölkerung.
Diese regionale Entwicklung in der DDR hat mit Blick auf heute zweierlei Folgen: Zum Einen entstanden Industrien in Regionen, die über Jahrhunderte eigentlich nur Landwirtschaft kannten. Zum Zweiten und das ist für die heutige Diskussion über Wanderungsbewegungen wichtig wurden mit hohen Gehältern und üppigen Sozialleistungen Menschen aus der ganzen DDR in neu geschaffene Industriestandorte gelockt, die heute so keine Zukunft mehr haben. Diese Menschen hatten keine Generationen währende Verankerung in der Region.
2. In der DDR entwickelte sich systematisch natürlich eine andere Wirtschaftsstruktur als in marktwirtschaftlich organisierten Ländern Europas. Der Plan ersetzte im Inland den Markt und den Preis als wichtigstes Wettbewerbselement. Deshalb war es aus planwirtschaftlicher Sicht weniger problematisch, ob die Arbeit vonzwei odersechs Melkern ausgeführt wurde und jeder Traktorist mindestenseinenReservetraktoristen hatte. Ähnliches galt in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Dazu kam, dass die DDR-Wirtschaft spätestens seit Mitte der siebziger Jahre auf Verschleiß lief. Die Investitionen in die Unternehmen lagen deutlich unter dem tatsächlichen Investitionsbedarf. Das Einzige, was es in größerer Zahl gab, war die Arbeitskraft. Beschäftigung wurde Arbeit genannt und so bezahlt. Und so entstand die Illusion der Vollbeschäftigung.
Wie weit sich die Wirtschaftsstruktur in der DDR von den marktwirtschaftlichen Bedingungen entfernt hatte, wurde blitzartig mit der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion deutlich. Damit wurde der Preis zum Maßstab für Wettbewerbsfähigkeit. Die Währung wurde von einem auf den anderen Tag um 400Prozent aufgewertet. Hier konnte die DDR-Wirtschaft nicht mithalten. Keine andere der Welt hätte das gekonnt.
Der neue marktwirtschaftliche Wind erfasste nicht alle Sektoren gleichermaßen. Am schlimmsten traf es die Industrie der DDR. Autos, Werkzeugmaschinen, chemische Produkte oder Mikroelektronikprodukte lassen sich überall auf der Welt herstellen, es gab keine Standortbindung. Außerdem hatten etliche westdeutsche und ausländische Hersteller Überkapazitäten. Sie wollten und mussten nicht die maroden DDR-Fabriken übernehmen, um den ostdeutschen und den von dort belieferten osteuropäischen Markt zu bedienen. Viele Unternehmen in Ostdeutschland mussten dicht machen. Viele Menschen wurden arbeitslos.
Inzwischen ist dieser Prozess längst abgeschlossen. Von niedrigem Niveau ist das verarbeitende Gewerbe inzwischen Erneuerungs- und Wachstumsmotor.
Im vergangenen Jahr hat die Industrie mit einem Wachstum von über 10Prozent wesentlich dazu beigetragen, dass der wirtschaftliche Aufholprozess in den ostdeutschen Ländern wieder an Schwung gewinnt.
Die deutlichen regionalen Wachstumsdifferenzen in Deutschland werden interessanterweise immer weniger dem typischen "Ost-West-Vergleich" gerecht.
Während etwa das Wachstum in Sachsen in vier der fünf der vergangenen Jahre stärker war als in Niedersachsen, wuchs die bayerische Wirtschaft in allen fünf Jahren kräftiger als in Mecklenburg-Vorpommern wohlgemerkt, immer nur relativ gesehen.
Insgesamt profitieren die Unternehmen in Ostdeutschland heute von ihrer gefestigten Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, die sie durch kluge Innovations- und harte Restrukturierungsanstrengungen erreicht haben.
Entscheidend dafür war auch die günstige Entwicklung der Lohnstückkosten. Diese sind in den neuen Ländern rund 10Prozent geringer als in den alten Ländern.
Der Produktivitätsrückstand der ostdeutschen gegenüber der westdeutschen Industrie hat sich so auf rund 20Prozent verringert. 1995 betrug er noch über 40 Prozent.
3. Auch am ostdeutschen Arbeitsmarkt ist der bundesweite Aufschwung angekommen. Im September 2007 waren in Ostdeutschland 300.000 Menschen weniger arbeitslos als noch im September 2005. Trotzdem ist die Arbeitslosenquote mit 14Prozent leider immer noch doppelt so hoch wie im Westen.
Und das hat auch Auswirkungen auf den dritten Bereich, auf die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur. Im ostdeutschen verarbeitenden Gewerbe werden noch immer zu wenig zusätzliche Arbeitskräfte gebraucht. Gleichzeitig steigen mit dem Strukturwandel die Anforderungen an die Arbeitskräfte. Es werden immer mehr Menschen mit hoher Qualifikation gesucht im Osten wie in Westen.
Besonders prägend für die Bevölkerungsentwicklung wirkt der abrupte Geburtenrückgang seit 1990. Die Zahl der Geburten ging innerhalb von ein, zwei Jahren zunächst auf 40Prozent, nach leichter Steigerung jetzt wieder auf die Hälfte der Vorwendezahlen zurück. Familien werden seit der Vereinigung später, seltener und mit weniger Kindern gegründet.
Eine Folge ist, dass die Bevölkerung durchschnittlich älter wird. 1990 war Mecklenburg-Vorpommern das Land mit der jüngsten Bevölkerung. Fünfzehn Jahre später war das Land nicht mehr an erster, sondern an elfter Position. Die Gesellschaft altert. Unternehmen fehlen junge Nachwuchskräfte.
Ein Trugschluss ist es übrigens zu glauben, dass Infrastruktur und die öffentlichen Leistungen automatisch eher günstiger werden, wenn die Menschen gehen. Pro Einwohner steigen sogar einige der "öffentlichen" Kosten bei sinkender Bevölkerungszahl. Eine Wasserleitung wird nicht billiger, wenn nicht mehr 150, sondern nur noch 100 Einwohner davon profitieren. Sie wird sogar teurer, wenn diese 100 Einwohner älter und damit sparsamer werden und die Wasserleitung deshalb öfter mit viel Aufwand gespült werden muss.
Ein anderes Beispiel sind die Schulen. Auch hier sinken die staatlichen Kosten nicht linear mit der Nachfrage. Der Lehrer ist zunächst noch da, wenn die Schüler ausbleiben. Das ist auch eine Chance zur Verbesserung der Betreuungsrelation zwischen Lehrern und Schülern und damit der Bildungsqualität. Bei halbierten Schülerzahlen bleiben gravierende Einschnitte in die Schulstrukturen aber zwangsläufig nicht aus.
4. Wichtig ist es, darüber hinaus aber auch die besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland zu beleuchten. Damit komme ich zum Bereich der gesellschaftsstrukturellen Folgen von über 40 Jahren DDR.
Dass es da immer noch erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt, offenbaren Umfragen der letzten Monate.
Während zirka 70Prozent der Westdeutschen die Demokratie bundesdeutscher Prägung für die denkbar beste Staatsform halten, sind es in Ostdeutschland nur 30Prozent. Ein Drittel glaubt sogar, dass es eine überlegene Alternative zu unserer Demokratie gibt.
Diese Umfrageergebnisse können uns nicht zufrieden stellen. Sie sind aber auch kein Grund, in Panik zu geraten.
Während die Menschen in Westdeutschland seit rund 60Jahren in einem demokratischen Rechtsstaat leben, sind es in Ostdeutschland gerade 17 Jahre. Auch in Westdeutschland dauerte es lange, bis eine feste und tiefe Bindung an den demokratischen Rechtsstaat aufgebaut war. In den späten sechziger und frühen siebziger Jahren war die NPD in bis zu sieben westdeutschen Länderparlamenten vertreten. Bei baden-württembergischen Landtagswahlen gelang es den REP sogar, mit jeweils zwischen neunundzehn Prozentzweimal hintereinander ( 1992 und 1996 ) in den Landtag einzuziehen. Das möchte ich in Erinnerung rufen, bevor vorschnell das Einziehen rechtsextremistischer Gruppierungen in zwei ostdeutsche Landtage als typisch ostdeutsch verurteilt wird.
Ein Unterschied ist aber wichtig. Die Stützen der NPD in der frühen Bundesrepublik waren eher die Altvorderen der Nazis. In Ostdeutschland sind männliche Erstwähler und enttäuschte Männer zwischen 50 und 65 ein Hauptreservoir der NPD. Nicht aus alter Verbundenheit, sondern aus Protest und Enttäuschung wählen die Menschen diese Partei.
Der Protest der Wählerinnen und Wähler richtet sich zuallererst gegen "den Staat" und "die da oben"."Der Staat" hat in den vergangen 17Jahren Erwartungen mancher Menschen in Ostdeutschland enttäuscht. Über 40 Jahre konnten die Menschen der DDR vom Staat Arbeit, Einkommen, Wohnung, vor allem aber eine besondere Form von Sicherheit erwarten. Der Preis dafür waren Unfreiheit, Wohlverhalten und geringe Einkommen bei wenig Möglichkeiten des Einkaufs. Würden manche der Menschen, die sich als Verlierer der Einheit, wahrscheinlich besser sogar als Verlierer der Moderne fühlen, würden sie vielleicht sogar bereit sein, die gewonnene Freiheit eher gegen eine staatliche ge- oder besser verordnete Sicherheit einzutauschen?
Ich wage die Antwort nicht zu geben.
Wichtiger ist mir aber, zwischen den Generationen in Ost und West zu unterscheiden. Da sind zunächst die Menschen, die heute Rentner sind. Die meisten haben ein ordentliches Auskommen. Dank großzügiger Rentenüberleitung und vor allem Dank geschlossener Erwerbsbiographien beziehen vor allem ostdeutsche Rentnerinnen oft höhere Renten als westdeutsche Rentner. Verschwiegen wird bei diesem Vergleich allerdings meist, dass westdeutsche Ruheständler häufig über zusätzliche Einkommen verfügen. Vor allem Großunternehmen bezahlen teils üppige Zusatzrenten, viele Menschen konnten sich außerdem in all den Jahren etwas zurücklegen oder profitieren heute von Lebensversicherungen. Schließlich wohnen nicht wenige in den eigenen vier Wänden und die ersparte Miete erhöht auch das verfügbare Einkommen. Dennoch gilt: Die jetzigen ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner gehören insgesamt zu den dankbaren Gewinnern der Einheit.
Zu den Gewinnern zählen meist auch die Jüngeren in den ostdeutschen Ländern. Wer die DDR allenfalls noch als Grundschüler erlebt hat, ist in der Regel im vereinten Deutschland "angekommen" und oft besser ausgebildet, höher motiviert und mobiler als manch westdeutscher Jugendlicher.
Wenn es Verlierer der Vereinigung gibt, dann sind sie in der Altersgruppe dazwischen zu finden.
Wenn Sie in den bayerischen Alpen Urlaub machen, treffen sie oft ältere Ostdeutsche, die mit ihren Enkeln Urlaub machen. Die Eltern können sich oft für sich keinen Urlaub leisten. Die durchschnittlichen Einkommen in Ostdeutschland liegen in vielen Bereichen weit unter dem in Westdeutschland üblichen.
Insbesondere die Altersgruppe zwischen 45und 60 Jahren ist von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Für die meisten besteht wenig Aussicht, je wieder in sie selbst befriedigender Weise am ersten Arbeitsmarkt dauerhaft Fuß zu fassen. Auch diese Gruppe ist für extreme Parolen anfällig.
Ich möchte fußend auf dieser Beschreibung noch einen Schritt weiter gehen: Gibt es den "typischen Ostdeutschen" überhaupt noch? Arnulf Baring hat bei einer Charakterisierung der westdeutschen Gesellschaft die Menschen einmal in die vor und nach 1945 und die vor und nach 1968 geborenen und geprägten Menschen unterteilt. Übertragen auf die DDR beziehungsweise Ostdeutschland müsste man diese Unterteilung weiterschreiben in die vor und nach 1990 Geborenen und Geprägten.
Zudem gab es seit der Wiedervereinigung gewaltige Bevölkerungsumwälzungen im Osten.
Zwischen 1991 und 2006 ging die Bevölkerungszahl in den neuen Ländern um 1,3 Millionen zurück. Das liegt nicht nur an Abwanderungen in den Westen, sondern vor allem in den letzten Jahren in erster Linie an der geringen Geburtenzahl. Den Abwanderungen standen aber auch gewaltige Zuwanderungen aus dem Westen und zu einem kleinen Teil aus dem Ausland gegenüber.
Es ist zu einem aus meiner Sicht wünschenswerten Neben- und Miteinander zwischen Ost und West in beiden Teilen des Landes gekommen.
Wichtig für unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen und Wahrnehmungen in Ost und West ist schließlich der Anteil ausländischer Mitbürger. Während in den alten Ländern schon jeder zehnte Bürger ausländischer Herkunft ist, sind es in den neuen Ländern gerade mal 2,4 Prozent. Manchmal wird man den Eindruck nicht los, dass mit abnehmendem Ausländeranteil die Fremdenunfreundlichkeit sogar steigt. Der Berliner Bischof Wolfgang Huber hat in einem Interview mal festgestellt: "In den neuen Bundesländern gibt es ein Phänomen der Fremdenfeindlichkeit ohne Fremde."
Anrede,
mir lag daran, mit dieser ausschnittartigen Beleuchtung struktureller Unterschiede und neuer Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West die Vielfalt in unserem Land zu beschreiben. Ich habe nicht gesprochen über die höheren staatlichen Kulturausgaben pro Kopf in den ostdeutschen Ländern, über die bessere Kinderbetreuung, darüber, dass Sekundärtugenden im Osten selbstverständlicher akzeptiert werden als im Westen; über das immer noch stärkere Gemeinschaftsgefühl, nicht über das Kopfschütteln gegenüber westdeutschem Schicki-Micki-Gehabe. Zu allem fehlt die Zeit.
Wir sollten uns nur hüten, nun immer wieder mit dem Stempel "typisch Ost" oder dem Stempel "typisch West" den Anderen zu etikettieren und dann auch noch die Kinder und Enkel so zu verschubladen.
Die meisten gesellschaftsstrukturellen Unterschiede werden in den kommenden Jahren an Bedeutung verlieren, da die jungen Menschen in Ostdeutschland heute ganz anders aufwachsen, wenn wir sie lassen.
Andere strukturelle Unterschiede werden uns erhalten bleiben und unsere Gesellschaft bereichern.
Zusammenfassend können wir sagen: seit 1990 ist Deutschland nicht nur vereint, versöhnt mit allen Nachbarn, frei und demokratisch, sondern auch bunter. Wir sollten dies als Chance begreifen, sollten dann aber auch unser Bild von regionaler Entwicklung überprüfen.
Vielleicht können wir daraus zwei Punkte für unsere künftigen Diskussion zum Thema Ost / West mitnehmen:
Erstens: Es gibt ihn vielfach nicht mehr, den typischen Ossi und den typischen Wessi. Und deshalb sollten wir auch jedenfalls für die Zukunft die typischen Stigmatisierungen vermeiden.
Zweitens: Es gibt auch nicht mehr das typische Ost- und Westdeutschland, sondern 16 Bundesländer und vielleicht sollten wir auch unsere Sprache von den alten und den neuen Bundesländern 17 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 überdenken und einfach von den Bundesländern sprechen den ost- , den süd- , den west- und den norddeutschen.
Ich komme zum Schluss auch noch mal zurück auf die eingangs erwähnten Begriffe Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit:
Bei der Verfassungsreform 1994 wurde aus dem Staatsziel der "Einheitlichkeit" das der "Gleichwertigkeit". Gleichwertige Lebensverhältnisse sind nun als Ziel festgeschrieben.
Wir sollten uns nicht scheuen, diese grundgesetzliche Festlegung ernst zu nehmen. In Teilen Mecklenburg-Vorpommerns ist die Bevölkerungsdichte fast auf finnischem Niveau. Und in der Lausitz leben noch immer mehr Erwerbswillige, als je Arbeitsplätze entstehen werden. Gleichwertigkeit heißt nicht gleiches Gehalt, gleicher Arbeitsplatz, gleicher Wohlstand, aber sehr wohl unterschiedlich gleicher Wert der Lebensverhältnisse. Die Lebensverhältnisse im bayerischen Voralpenland waren immer anders als die im Bayerischen Wald oder in München und in Bottrop und Gelsenkirchen anders als im Sauerland. Ich finde das normal und sehe darin keinen Grund zur Klage.
Ich möchte Sie heute auffordern, morgen fröhlich zu feiern.
Wir sollten den Tag der deutschen Einheit zum Anlass nehmen, die Dankbarkeit nicht zu verlieren und über neue Aufgaben nachzudenken, die uns neue, buntere, vielfältigere, unterschiedliche Lebensverhältnisse stellen. Die Kerzen des Herbstes 1989, die Feuerwerke des 3. Oktober bleiben in unseren Herzen:
Jetzt brauchen wir Kerzen der Zuversicht gegen Pessimismus und ein Feuerwerk der Ideen.
Ich möchte Sie in Umwandlung des bekannten Sprichwortes auffordern, das, was uns so teuer wie die Deutsche Einheit ist, auch ebenso lieb zu haben. Beide Teile Deutschlands waren und sind eine untrennbare Einheit. Bald gibt es nicht mehr zwei Teile Deutschlands, aber auch nicht eines, sondern viele Teile, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Freuen wir uns, dass unsere Generation daran mitwirken darf: dankbar und stolz, Deutsche zu sein.