Redner(in): Angela Merkel
Datum: 16.10.2007
Untertitel: der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und der Vodafone Stiftung Deutschland, in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/10/2007-10-16-rede-bkin-symposium-integration-durch-bildung,layoutVariant=Druckansicht.html
Herr Kommissionspräsident, lieber José Manuel Barroso,
sehr geehrte Frau Staatsministerin, liebe Maria Böhmer,
Herr Joussen,
meine Damen und Herren Kollegen aus den Regierungen und Parlamenten,
liebe Gäste,
ich finde, das ist heute ein ganz besonderer Tag, den Maria Böhmer, unsere Staatsministerin, zusammen mit Stiftungen in besonderer Weise vorbereitet hat. Ich glaube, man kann sagen: Wir unternehmen damit im Bereich der Integration einen qualitativ völlig neuen Schritt. Wir machen auf ein Thema aufmerksam, das uns alle angeht. Diese Veranstaltung führt alle in einem Maße zusammen, in dem daraus, wie ich hoffe, dann auch gemeinsames Tun entsteht.
Worum geht es? Es geht um die Frage, wie die entscheidende Kraft unserer Zeit Bildung und Wissen allen in unserem Land zugänglich gemacht werden kann. Wissen vermitteln, das müssen wir. Bildung befähigt dazu, aus Wissen wieder neue Erkenntnisse und neue Produkte zu machen. Wissensvermehrung und Wissensvermittlung sind durch das, was wir Globalisierung nennen, natürlich noch mehr zu einem treibenden Faktor geworden und dies in einem Maße, in dem wir es bisher nicht gekannt haben. Globalisierung ist keine Naturgewalt, sondern sie ist eine von Menschen gestaltbare Möglichkeit, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit in der Welt besser durchzusetzen. Aber wir haben eben die Aufgabe, zu erlernen, wie wir die Globalisierung gemeinsam gestalten können. Daran müssen wir auch mutig arbeiten.
Charakteristisch für unsere globalisierte Welt ist insbesondere die zunehmende Mobilität. Damit wird natürlich auch die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in jedem unserer Länder wichtiger. Die Tatsache, dass der Präsident der Europäischen Kommission heute hierher gekommen ist, zeigt, dass dies nicht nur ein deutsches Anliegen ist, sondern dass dies ein europäisches Anliegen und letztlich ein Anliegen aller Länder auf der Welt ist.
Bildung und Integration sind also zwei Seiten einer Medaille. Die Frage, wie es uns gelingt, beides zusammenzubringen, ist eine der ganz großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, man kann sagen, dass Deutschland diese Aufgabenstellung nicht immer nur mutig, sondern manchmal auch etwas verzagt angegangen ist. Ich glaube, dies wird eine Veranstaltung werden, die Mut zeigt, die Offenheit zeigt und die uns vor allen Dingen sagt: Lasst uns die Chancen, die wir haben, nutzen, und lasst uns nicht die Augen vor den Problemen, die wir auch haben, verschließen.
Herr Joussen hat eben schon darauf hingewiesen, dass unsere Gesellschaft heute so vielfältig ist, wie sie es noch nie war. Fast ein Fünftel der deutschen Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Bei den jungen Menschen, die zum Beispiel in die Schulen kommen, manifestiert sich das heute in vielen Städten Deutschlands auch angesichts unseres eigenen demografischen Wandels so, dass die Hälfte oder sogar mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler, die in die Schule kommen, einen Migrationshintergrund haben. Bei den unter Fünfjährigen kommt fast ein Drittel aus Zuwandererfamilien. Rund 15Millionen Menschen aus 200 Staaten leben heute in unserem Land. Sie haben die gleichen Chancen und sie sollen diese auch haben.
Wir vergessen manchmal, dass Deutschland schon immer durch Zuwanderung geprägt war. Die Zuwanderung der Hugenotten nach Preußen hat vieles in Berlin erst möglich gemacht, von dem wir heute ganz selbstverständlich profitieren. Ich möchte auch die Zuwanderung aus Süd- und Südosteuropa sowie aus der Türkei in denSechzigerjahren nennen. Wir haben damals von "Gastarbeitern" gesprochen. Sie haben unserer Gesellschaft ein völlig neues Gesicht gegeben. Viele Zuwanderer, gerade süd- und südosteuropäische, sind wieder nach Hause zurückgekehrt, aber viele sind auch bei uns geblieben. Unter den türkischen Zuwanderern gibt es bei uns jetzt schon die vierte Generation. Immerhin gibt es unter den türkischen Zuwanderern in Deutschland mittlerweile 66. 000Selbständige, die mit gut 70Milliarden Euro einen erheblichen Umsatz erzielen und die 300. 000Arbeitsplätze schaffen. Die Tendenz ist steigend. Wir wollen diese Chancen auch ganz bewusst nutzen.
Deutschland hat ein leistungsfähiges Bildungssystem. Das ist auch die Grundlage für unsere Stärke als Wirtschaftsnation. Ich glaube, dass unser duales Ausbildungssystem der beruflichen Ausbildung wegweisend ist und auch als vorbildlich anerkannt wird weit über die Grenzen Europas hinaus. Ich war vor wenigen Tagen in Äthiopien, wo man mir mit leuchtenden Augen von den Vorzügen des deutschen Berufsausbildungssystems erzählt hat. Wir haben gute Wissenschaftler. Diesbezüglich konnten wir uns letzte Woche freuen, als deutsche Wissenschaftler die Nobelpreise für Physik und Chemie bekommen haben.
Aber wir verschließen nicht die Augen davor, dass wie uns die PISA-Studie sagtnoch nicht alles so gut ist, wie wir es uns wünschen. Es gibt auch Schwächen. Und immer wieder stellt sich die Frage, wie wir die Dinge besser voranbringen können. Ich glaube, dass das heutige Bekenntnis zu einheitlichen Bildungsstandards durch die Kultusministerkonferenz ein Schritt in die richtige Richtung ist, um deutlich zu machen, dass wir den Menschen in einer globalisierten Welt auch bundesweit ähnliche Bildungsstandards geben müssen.
Es gibt bei uns allerdings immer noch eine Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft. Diese Abhängigkeit muss durchbrochen werden. Kinder und Jugendliche gleich welcher Herkunft müssen die gleichen Chancen auf Bildung in Schule, Hochschule und Beruf haben. Das gilt für alle, auch für diejenigen, die aus Migrantenfamilien kommen. Angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, gilt: Wir können auf kein einziges Talent, auf keinen Menschen in unserer Gesellschaft verzichten.
Wenn wir über Fachkräftebedarf reden, dann müssen wir zuerst einmal schauen, dass wir den Menschen in unserem Land eine wirkliche Chance geben. Dafür ist unsere "Nationale Qualifizierungsinitiative" ein ganz wichtiger Baustein. Wir wollen damit gegen Schulabbruch und gegen Studienabbruch vorgehen und uns um jeden einzelnen Menschen in unserem Land wirklich kümmern. Wir wollen mehr junge Menschen für ein Hochschulstudium begeistern, nicht zuletzt auch in den technischen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Hierbei befinden wir uns ein Stück weit im Rückstand.
Wir wollen natürlich vor allen Dingen auch, dass Menschen mit Migrationshintergrund von Anfang an der Schule folgen können. Deshalb ist es mehr als richtig, dass heute nicht mehr prinzipiell darüber diskutiert wird, sondern nur noch über die praktischen Modalitäten, wie wir sicherstellen können, dass jeder junge Mensch, der in die Schule kommt, auch wirklich den Lehrer versteht, also so viele Deutschkenntnisse hat, die notwendig sind, um in der Schule mitzukommen. Es bedarf nämlich nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass jemand, der schon in den ersten drei Jahren in der Schule nicht versteht, was der Lehrer sagt, anschließend erhebliche Schwierigkeiten haben wird, alle weiteren Bildungsstufen zu durchlaufen. Deshalb ist es wichtig, ein durchlässiges Bildungssystem zu haben, aber vor allen Dingen auch in der Schule dafür Sorge zu tragen, dass die Kinder mitkommen und an der Bildung teilhaben können.
Im Übrigen bin ich sehr froh, dass die Unterscheidung zwischen vorschulischem Alter und schulischem Alter ein Stück weit überwunden wird und man das Wort Bildung heute auch im Zusammenhang mit Kindergärten in den Mund nehmen darf, ohne gleich in den Verdacht zu geraten, man wolle Kinder irgendwie über die Maßen bilden. Wer sich mit Hirnforschern unterhält, der weiß: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Das zeigt sich auch schon im Alter von drei bis fünfJahren. Manches kann im jüngeren Alter viel spielerischer aufgenommen werden als später. Dafür werden uns die Kinder eines Tages auch danken, da bin ich mir ganz sicher. Wir alle wissen: Wenn man einmal über 50 ist, ist das lebenslange Lernen jedenfalls bei bestimmten Dingen, zum Beispiel bei technischen auch schon eine große Herausforderung. Allerdings hat unser Kommissionspräsident die deutsche Sprache wunderbar gelernt er ist ein gutes Vorzeigebeispiel.
Wir verstehen Bildung also als Schlüssel für Teilhabe und auch als Sicherung unserer Innovationskraft in Deutschland. Deshalb haben wir gesagt: Wir müssen das Thema angehen, auch wenn der Bund nicht überall eine Zuständigkeit hat. Die Staatsministerin ist durch ihre Anbindung im Kanzleramt insoweit deutlich gestärkt, als die Integration eine Schwerpunktaufgabe im Rahmen der Bundesregierung geworden ist. Wir haben es geschafft dafür möchte ich den Kommunen, den Städten, den Gemeinden und den Ländern ganz herzlich danken, einen "Nationalen Integrationsplan" aufzustellen. Wir haben uns nicht mehr in Zuständigkeitsdebatten verstrickt, sondern alle haben dabei mitgemacht. Das Motto unserer Integrationspolitik heißt: Fordern und Fördern nicht übereinander reden, sondern miteinander reden.
Integration ist keine einseitige Sache, sondern bedarf auch der Offenheit der Gesellschaft, in die die Migranten kommen. Integration ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Wir haben im "Nationalen Integrationsplan" über 400Selbstverpflichtungen. Er beschreibt aus meiner Sicht einen Dreiklang erfolgreicher Integrationspolitik: Sprache, Bildung und Integration in den Arbeitsmarkt. Das sind die Grundlagen für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das heißt, ohne die Beteiligung der Migranten ist Integration nicht möglich. Und ohne die, die Integration organisieren, auch nicht. Deshalb bin ich so froh, dass wir im "Nationalen Integrationsplan" auch sagen: Ganz wichtig sind gerade für junge Menschen mit Migrationshintergrund der Ausbau von Kindertageseinrichtungen, die Sprachförderung in Tageseinrichtungen und die Forschung zur Sprachstandsfeststellung auch das muss man immer wieder wissenschaftlich eruieren.
Wenn wir über die Anerkennung der Vielfalt in unserer Gesellschaft als einer Chance, als einer Möglichkeit sprechen, dann geht das natürlich auch ganz wesentlich über die staatlichen Institutionen hinaus. Hier in Deutschland haben wir jetzt eine "Charta der Vielfalt" so hat Maria Böhmer das genannt. Diese Initiative halte ich für außerordentlich wichtig."Diversity" ist in der angelsächsischen Welt schon lange eine Chance, ein Reichtum. Die Vielfalt wird dort schon seit längerem als eine unglaubliche Möglichkeit wahrgenommen. Ich finde es gut, dass wir die "Charta der Vielfalt" haben. Ich bin froh, dass 120Unternehmen und öffentliche Einrichtungen mit 1, 1Millionen Beschäftigten diese Charta unterzeichnet haben. Vielleicht ist diese Veranstaltung hier auch eine Möglichkeit, noch einmal dafür zu werben, dieser Charta weiter zum Durchbruch zu verhelfen. Sie ist ein vorbildliches Beispiel dafür, wie Staat und Wirtschaft gemeinsam und im Übrigen im jeweiligen Interesse an einem Strang ziehen können.
Bei der Arbeit, wie wir die "Charta der Vielfalt" umsetzen, spielen Stiftungen natürlich eine ganz zentrale Rolle. Wir haben in Deutschland eine lange Geschichte der Stiftungsarbeit. Wir haben eine vielfältige Stiftungskultur. Die Zahl derer, die hier heute anwesend sind, zeigt das. Wir können mit Stolz sagen: 15.000 Stiftungen gibt es in Deutschland und 3.000 davon engagieren sich ganz intensiv im Bildungsbereich und übernehmen damit gesellschaftliche Verantwortung, die aus unserer Bildungslandschaft das weiß jeder, der mit diesen Stiftungen einmal in Berührung gekommen ist überhaupt nicht mehr wegzudenken ist.
Gerade im Bereich der Integration durch Bildung leisten Stiftungen eine herausragende Arbeit. Ein Beispiel ist die Begabtenförderung der Stiftungen, wie zum Beispiel des heutigen Mitveranstalters, der Vodafone Stiftung, der ich natürlich ganz herzlich danken möchte. Mit dem Stipendiumsprogramm "Vodafone Chancen" ermöglicht sie jungen Menschen aus Zuwandererfamilien ein Hochschulstudium. Es gibt viele andere Beispiele. Die Hertie-Stiftung fördert junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule. Die Orientierungshilfe für angehende Abiturienten durch die Initiative "Studienkompass", die gemeinsam von der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, der Deutsche Bank Stiftung und der Accenture-Stiftung getragen wird und mit der Migranten aus bildungsfernen Elternhäusern angeregt werden, ein Hochschulstudium aufzunehmen. Die Stolzenberg-Stiftung kümmert sich um wissenschaftliche Nachwuchsförderung. Kurzum: Man könnte viele Beispiele für Stiftungen nennen, die Bildung für Menschen mit Migrationshintergrund fördern.
Nun ist es, glaube ich, sehr klug, dass dieses Symposium nicht nur auf uns und auf die nationale Arbeit, sondern auch international ausgerichtet ist. Denn unser Thema "Integration durch Bildung" kann nicht allein in nationalen Kategorien erörtert werden. Wir müssen uns austauschen. Wir haben begonnen, einen sehr intensiven Austausch mit Frankreich zu führen. Wir tun das in der Europäischen Union und wir tun es über ihre Grenzen hinweg. Deshalb ist es natürlich schön, dass, wenn technisch alles gut läuft, Bill Gates uns jetzt auch schon zuhören kann. Bildung ist natürlich in ganz besonderer Weise auch ein passives Anliegen seiner Stiftung bzw. der Stiftung, die er mit seiner Frau gemeinsam leitet. Wir können eben auch eine ganze Menge lernen, wenn wir schauen, was auf internationaler Ebene passiert. Wenn ich sage "wir", dann meine ich damit die Vertreter der Regierungen auf Bund- , Länder- und die Verantwortlichen auf kommunaler Ebene, aber eben auch die Unternehmen diejenigen, die in Deutschland Stiftungen betreiben. Ich denke, es lohnt sich, sich das amerikanische Verständnis des Stiftens näher anzuschauen und kennen zu lernen.
Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika, sagte: "Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen." Das ist also nicht erst eine Erkenntnis der Wissensgesellschaft, sondern schon eine ziemlich alte Erkenntnis. So hoffe ich, dass dieses Symposium natürlich in umfassendem Sinne Zinserträge bringt, die uns allen ein Stück weiterhelfen.
Es geht bei diesem Symposium nicht um die Alternative Privat oder Staat, sondern es geht um Public Private Partnerships, also Partnerschaften zwischen staatlichen und privaten Verantwortlichen. Nach unserem Grundgesetz ist klar: Eigentum verpflichtet. Aus Eigentum erwächst eine Verantwortung. Diese Verantwortung wollen wir gemeinsam wahrnehmen zum Wohle der Menschen, die in diesem Land ihre Heimat sehen und die im Übrigen in ihrer übergroßen Mehrheit in diesem Land nicht nur ihren Platz finden wollen, sondern die auch zum Gelingen unseres Lebens in diesem Land beitragen wollen. Wenn jeder in diesem Land eine Chance bekommen soll ich möchte das, dann müssen wir auch jedem eine Chance geben. Diese Veranstaltung trägt dazu bei, die Wege dahin besser zu finden und uns darüber auszutauschen.
Ein herzliches Dankeschön an alle, die hier heute mitmachen. Seien Sie gewiss: Die Verantwortung endet nicht mit dem heutigen Tag, sondern sie wird eher noch zunehmen. Aber ich bin mir ganz sicher, alle die heute hier sind, haben auch Freude daran, diese Verantwortung zu übernehmen. Auf ein gutes Gelingen dieses Symposiums.