Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 22.11.2007

Untertitel: Bilanz der Deutschen Einheit: Politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2007/11/2007-11-21-rede-chefbk-comenius-club-europa,layoutVariant=Druckansicht.html


Frauenkirche Dresden

21. November 2007

I. Einstieg / Deutschland in Europa

Lieber Pfarrer Treutmann,

lieber Fritz Hähle,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

der Deutsche Bundestag hat vor wenigen Tagen, am 18. Jahrestag des Mauerfalls, über den Vorschlag beraten, der Einheit und Freiheit Deutschlands in der Mitte Berlins ein Denkmal zu bauen.

Ich wünschte mir, dass diese Idee nicht nur im Deutschen Bundestag diskutiert wird, sondern auch Anlass gibt zu einer breiteren, einer gesamt-gesellschaftlichen Debatte.

Denn Deutschland, ganz Deutschland, kann stolz sein auf die friedliche Revolution 1989, auf den Durchbruch für die Einheit in Frieden und Freiheit.

Ich begrüße die Initiative für ein solches Denkmal in Berlin. Selbstverständlich kann auch in Leipzig ein Denkmal entstehen. Nur müssen beide nicht zwingend miteinander verknüpft werden. Was hat denn Leipzig bisher daran gehindert, ein solches Denkmal zu planen? Es gibt im Übrigen schon Denkmäler für die Einheit und Freiheit. Sie werden nur oft nicht als solche wahrgenommen.

In einem solchen sitzen wir. Auch die Frauenkirche ist zu einem solchen Symbol der Einheit und Freiheit geworden. Zerstörung ist Teil der menschlichen Geschichte. Zerstörung ist Teil der deutschen Geschichte. Aber sie hat nicht das letzte Wort. Das ist es, was wir hier an diesem Ort erleben dürfen. Natürlich ist die Frauenkirche nicht nur ein Denkmal, sondern eine lebendige, großartige protestantische Kirche.

Die Frauenkirche ist aber auch ein Symbol des wiedervereinigten Deutschlands. Wegen des prachtvollen Ergebnisses der gemeinsamen Anstrengungen. Mehr noch wegen dieser Anstrengungen selbst.

Denn das Engagement für den Wiederaufbau kannte kein Ost oder West. Das gemeinsame Ziel wurde von Menschen in Ost und West gleichermaßen mitgetragen und äußerst tatkräftig unterstützt.

In besonderem Maße spiegelt sich in diesem Wiederaufbau auch die Rolle, die Deutschland in Europa gefunden hat. Das große britische Engagement für die Wiedererrichtung zeigt, dass Aussöhnung möglich ist. Es zeigt, dass dem souverän gewordenen Deutschland in der Mitte Europas zum ersten Mal seit Jahrhunderten nicht in erster Linie Misstrauen entgegen gebracht wird.

Diese Entwicklung war keinesfalls selbstverständlich. Am Vorabend der Einheit gab es nicht nur Freude und Neugier. Es gab erhebliche Sorgen unserer europäischen Nachbarn über ein zu starkes Deutschland.

Es waren nicht zuletzt die Amerikaner, mehr als manche Europäer, die im entscheidenden Moment an der Idee einer Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit festgehalten haben. Und es war auch die selbst im Umbruch befindliche Sowjetunion, ohne deren Zustimmung es letztlich nicht gegangen wäre.

Deutschland hat 17 Jahre nach der Wiedervereinigung seinen geachteten Platz in und für Europa gefunden. Und es ist gelungen, die Deutsche Einheit in den europäischen Integrationsprozess einzubetten. Spürbar wurde das spätestens mit dem erreichten Etappenziel einer Vollmitgliedschaft unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn in der Europäischen Union.

Zum ersten mal in seiner Geschichte lebt Deutschland in allseits anerkannten Grenzen und ist umgeben von befreundeten Staaten. Das vereinigte Deutschland ist als europäische Mittelmacht ein stabilisierender Akteur. Die Überwindung der Teilung Deutschlands wird damit nicht nur für uns, sondern für die gesamteuropäische Stabilität ein Gewinn. Ist das nicht eine wunderbare Bilanz der deutschen Einheit, über die ich heute die Ehre habe zu sprechen? Gewiss, das ist so und wird zu leicht für selbstverständlich gehalten. Ich freue mich jedenfalls darüber.

II. Innere Einheit: Fünf Leitfragen

Wie sieht die Zwischenbilanz der Einheit aber im Inneren aus? Ist die Deutsche Einheit ein "Super-GAU" gewesen, wie ein bekannter Buchtitel nahe legt?

Sie können sich vorstellen, dass ich diese These in keiner Weise teile. Auch rein sprachlich ist Super-GAU falsch. Es gibt keinen supergrößten anzunehmenden Unfall. Ich will die Dinge aber auch nicht schön reden.

Ich möchte mich einer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zwischenbilanz der Deutschen Einheit vielmehr anhand von fünf Leitfragen nähern:

Erstens:

Was hat die Wiedervereinigung den Ostdeutschen gebracht?

ZWEITENS:

Was hat die Wiedervereinigung den Westdeutschen gebracht?

DRITTENS:

Sollte man heute noch von Ost und West sprechen? Überwiegt das Gemeinsame oder das Trennende?

VIERTENS:

Bedarf es neben den Anstrengungen der Länder heute noch einer eigenständigen Politik des Bundes für den Aufbau Ost und wenn ja, welche Art Politik?

Fünftens:

Welche Ziele und Schwerpunkte sollten dabei gesetzt werden?

Ich beginne mit Frage 1. Was hat die Wiedervereinung den Ostdeutschen gebracht?

Fünf von sechs Ostdeutschen sagen, die Wiedervereinigung war auch aus heutiger Sicht richtig. Die meisten Ostdeutschen 84 Prozent geben an, mit ihrem Leben zumindest zufrieden zu sein. In Westdeutschland sind es mit 90 Prozent nur unwesentlich mehr.

Gemessen an der bekundeten Zufriedenheit besteht in Ostdeutschland also keine Sondersituation. Schließlich gibt es auch im Westen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Auch dort ist die Stimmung etwas schlechter und das Niveau des subjektiven Wohlbefindens entsprechend niedriger.

Aber, kann Zufriedenheit der alleinige Maßstab dafür sein, ob die Wiedervereinigung etwas gebracht hat? Sicher nein.

Vergleicht man den Status quo im Jahr 2007 mit dem von 1989, so ist die Verbesserung auf nahezu allen Feldern offenkundig.

Die wichtigsten politischen Ziele der Herbstrevolution von 1989 sind längst erfüllt. Denn das Grundgesetz gilt in ganz Deutschland, d. h. freie Meinungsäußerung, Selbstbestimmung und vielfache Beteiligungsmöglichkeiten für alle.

Auch der Zugang zum Bildungswesen unterliegt heute nicht mehr politischen Beschränkungen. Die Loyalität zur Machtelite spielt keine Rolle mehr.

Diese politisch-kulturelle Befreiung muss immer wieder betont werden, auch wenn ich vor diesem Auditorium damit vielleicht Eulen nach Athen trage. Gerade für die Jüngeren in Ost und West fällt diese Freiheit zu verstehen und wertzuschätzen zunehmend schwer, weil ihnen das persönliche Erleben der Diktatur fehlt.

Den Wert von Freiheit scheint nur dann wertvoll, wenn sie bedroht ist.

Niemand verkennt, dass der Zustand unserer Demokratie nicht die Vision der friedlichen Revolution von 1989 ist. Visionen in Revolutionen haben aber in der Geschichte nie lange überlebt. Der Alltag der Demokratie, die Mühen der Ebene sind nicht glanzvoll, dafür aber stabil.

Was die Menschen demgegenüber wohl mehr bewegt, ist die wirtschaftliche und soziale Lage. Und hier spielt wie so oft die Frage der Perspektive für die Bewertung eine große Rolle.

Obgleich wie gesagt mehr als vier Fünftel der Ostdeutschen mit ihrem Leben zumindest zufrieden sind, sagen drei Viertel, sie fühlten sich gegenüber ihren Landsleuten im Westen benachteiligt. Woher kommt dieses merkwürdige, offenbar hartnäckige Gefühl, hinterher zu hinken oder benachteiligt zu werden?

Das Ziel, den Lebensstandard im Vergleich zur DDR deutlich und für alle zu steigern, wurde unbestreitbar erreicht. Die Bruttolöhne und -gehälter erreichen nach starken Steigerungen Anfang der neunziger Jahre heute 78 Prozent des westdeutschen Durchschnittsniveaus. Die Nettolöhne dürften aufgrund der Steuerprogression und des in vielen Gegenden niedrigeren Preisniveaus heute bereits mehr als 90Prozent des Westniveaus betragen.

Aber was ist eigentlich das Westniveau? Der Durchschnitt sagt wenig aus. Auch im Westen gibt es Gehaltsunterschiede für die gleiche Arbeit von 20 % und mehr. Bestimmt das gleiche Gehalt wirklich den Kern unseres Selbstbewusstseins? Das wäre schlimm.

Wer sich an die DDR erinnert, muss auch an Wohnraumzuteilung, jahrelanges Warten auf ein Auto oder Telefon denken. Und auch an zerfallende Städte und Dörfer, die heute ihr Gesicht wieder bekommen haben. Dazu gehören massive Umweltschäden, die inzwischen beseitigt wurden. Man hat in jeder Weise heute "Luft zum Atmen" ob in Bitterfeld oder Eisenhüttenstadt.

Ich glaube, dass ein dennoch bestehendes 2. Klasse-Gefühl kein ostdeutsches, sondern eher ein durch einige Westdeutsche hervorgerufenes und ein gesamtdeutsches ist. Westdeutsch, weil viele Westdeutsche sich für besser gehalten haben ohne besonderen Grund übrigens oder aus einer auf Wohlstand gegründeten Gefühlslage.

Und gesamtdeutsch, weil nach der Wende eine Betonung des Abstandes, der Unterlegenheit das beste taktische Argument für hohe Geldtransfers und deren Akzeptanz in Ost und West war. Dies hat sich im Nachhinein mental als verhängnisvoll herausgestellt.

Zentrale gesellschaftliche und politische Herausforderung bleibt die Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung, die Länder, die Wirtschaft, die Betroffenen, alle konnten dazu beitragen, dass die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland in den beiden letzten Jahren deutlich zurückging. In den ostdeutschen Bundesländern gibt es heute 290.000 Arbeitslose bzw. 20Prozent weniger als vor zwei Jahren. Das entspricht einer Größenordnung als ob die Städte Chemnitz ( 246.000 EW ) und Wittenberg ( 46.953 EW ) komplett in Arbeit gekommen wären. Gleichwohl: Die Arbeitslosenquote ist immer noch etwa doppelt so hoch wie im Westen.

Angesichts der damit verbundenen Einzelschicksale und der volkswirtschaftlichen Kosten steht der Abbau der Arbeitslosigkeit weiterhin im Mittelpunkt der politischen Anstrengungen stehen. Das gilt für Deutschland insgesamt und insbesondere für Ostdeutschland. Ich komme darauf zurück.

Bei allen Schwierigkeiten, mit denen diejenigen konfrontiert sind, die Arbeit suchen, bei aller geforderten Flexibilität, die der Umbruch und die neue Zeit mit sich gebracht hat schließlich arbeitet heute jeder Zweite in einem anderen Beruf als den, den er erlernt hat:

Zugenommen hat für die allermeisten Ostdeutschen die materielle Wohlfahrt. Die persönlichen Chancen, und damit die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe sind groß: Gerade die jungen Menschen spüren diese Chancen. Sie sagen sich: Wir wollen im Leben etwas leisten, es zu etwas bringen und dabei die vorhandenen Möglichkeiten nutzen.

Angesichts all dieser Veränderungen stellt sich die Frage, ob die Deutsche Einheit eigentlich nur eine Angelegenheit der Ostdeutschen ist. Oder provokanter:

Zweitens:

Was hat die Wiedervereinigung den Westdeutschen gebracht?

Als Helmut Kohl vor 18 Jahren hier vor der Ruine der Frauenkirche seine denkwürdige Rede hielt, sagte er: Das erste, was ich Ihnen allen zurufen will, ist ein herzlicher Gruß all ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik Deutschland."

Das war nicht nur von Helmut Kohl ehrlich gemeint. Es traf durchaus die Stimmung der Westdeutschen. Man war zwar überrascht. Aber man freute sich mit den Landsleuten jenseits der Mauer. In erster Linie freute man sich allerdings für sie und weniger für sich. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Westdeutschen bemerkt haben, dass die Deutsche Einheit auch sie betrifft. Bis heute haben es noch nicht alle bemerkt...

Rückblickend ist die Zustimmung zur Wiedervereinigung im Westen fast genauso hoch wie im Osten. Vier von fünf Bürgern sagen: Die Wiedervereinigung war auch aus heutiger Sicht richtig.

Zugleich steht immer die Frage im Raum, ob die Veränderungen, die die Deutsche Einheit der alten Bundesrepublik gebracht hat, per saldo positiv oder negativ sind. Oder im harten Wirtschaftsdeutsch: War die Wiedervereinigung nicht auch ein Geschäft für den Westen? Das ist zwar so. Aber die Frage greift erkennbar zu kurz.

Die alte Bundesrepublik war ein freies Land. Aber sie verfügte nicht über die volle Souveränität. Die politische Elite hatte sich in diesem Status eingerichtet. Bei bestimmten internationalen Fragen nahm man sich zurück, konnte man sich zurücknehmen. Ein militärischer Beitrag zur extraterritorialen Friedenssicherung wäre gegenüber der alten Bundesrepublik nicht angemahnt worden. Das war manchmal auch sehr bequem und gemütlich. Die alte Bundesrepublik musste an mancher Stelle Verantwortung nicht übernehmen, weil es die anderen schon taten oder man nicht wollte, dass es die Ostdeutschen tun.

Das vereinte Deutschland ist "reifer" als die alte Bundesrepublik, soweit man so etwas über Staaten sagen kann. Es kann selbstbewusster auftreten, ohne aggressiv zu erscheinen. Und eben dies erwarten unsere Freunde und Partner auch von uns. Das ist in doppelter Hinsicht eine Normalisierung, weil auch die Distanz der alten Bundesrepublik zur eigenen Nation immer ein gewisses Misstrauen unter den Nachbarn erzeugt hat.

Es ist souverän, aber auch verantwortlich. Es gibt keine Mündigkeit ohne volle Verantwortlichkeit.

Das vereinigte Deutschland ist auch dabei, sein kulturelles Herz wieder zu entdecken.

Ins historische Gedächtnis der Westdeutschen treten Regionen, von denen vieles ausging, womit Deutschland die Welt positiv beeinflusst hat. Ich denke an die mitteldeutschen Gebiete von Wittenberg und Leipzig bis Gotha und Eisenach. Ich denke an Luther und die Reformation, an die Wirkungsstätten Bachs, Goethes, Hegels und vieler anderer.

Ein Weiteres kommt hinzu: Was sich 1989 vollzog, war eine erfolgreiche Freiheitsrevolution. Ich will nicht so weit gehen, von dem Gründungsmythos der heutigen Bundesrepublik zu sprechen. Aber die Befreiung von der Diktatur von innen heraus, das ist etwas, das die Eigenwahrnehmung der gesamten Nation prägt. Gerade das ist es ja, was ein Freiheits- und Einheitsdenkmal zum Ausdruck bringen soll.

Politisch und kulturell ist die deutsche Einheit somit auch aus westdeutscher Sicht ein Gewinn. Es ist die Rückgewinnung der eigenen Geschichte, ohne die unser Land nur ein Torso war. Wie verhält es sich aber wirtschaftlich und sozial?

Im Oktober 1996 veröffentlichte das Institut für Wirtschaftsforschung Halle folgende Einschätzung: " Die gesamtwirtschaftliche Produktion in Westdeutschland hat durch die Vereinigung einen deutlichen Nachfrageschub erzielt.

Es wird geschätzt, dass in den neunziger Jahren ohne die Lieferungen in den Osten das westdeutsche Sozialprodukt um 6 bis 7 Prozent geringer gewesen wäre. Umgekehrt bedeutet dies im Westen eine Million Arbeitsplätze zusätzlich."

Heute stehen fast nur noch die Ausgleichszahlungen und die mit ihrer Finanzierung verbundenen Belastungen im Mittelpunkt der Diskussion. Finanzwissenschaftler gehen von weiterhin rund 80 Milliarden Euro an jährlichen West-Ost-Transfers aus. Dabei wird alles eingerechnet, auch die gesetzlich begründeten Leistungen im Bereich der Sozialversicherungen, auf die der Großteil der Transfers entfällt. Sie müssen im Grunde ganz unabhängig von der Himmelsrichtung geleistet werden, in der die Transferbezieher wohnen. Da schwirren immer wieder Milliarden- und eine Billionzahl durch den Raum, die außer Acht lassen, dass viele gesetzliche Leistungen allen Deutschen zustehen, ganz gleich, ob sie in Aachen oder Zwickau wohnen. Auch Bundeswehrkasernen sind hier nicht extra ggü. Bundeswehrkasernen in Bayern zu rechnen, zum Beispiel.

Die Verschuldung des Bundes hat nach der Wiedervereinigung dramatisch zugenommen. Auch die Abgabensätze sind deutlich gestiegen. Verschiedene Wirtschaftsforscher haben davon gesprochen, dass das Wirtschaftswachstum aufgrund einer wirtschaftlichen Überforderung durch die Deutsche Einheit jahrelang gedämpft war, es sich erst jetzt langsam erhole. Auch für öffentliche Mittel gilt, dass sie nur einmal ausgegeben werden können. Investitionen, die in Ostdeutschland erfolgten, konnten an anderer Stelle nicht getätigt werden.

Wäre der Wohlstand in Westdeutschland also ohne die Wiedervereinigung heute höher? Viele denken das offen oder heimlich. Eindeutig lässt sich das nicht beantworten. Womit vergleicht man? Mit der Situation vor der Öffnung der Mauer? Mit der fiktiven Option zweier freier deutscher Staaten, die freundschaftliche Beziehungen zueinander unterhalten, aber keine Einheit anstreben? Mit einem Westdeutschland, das sich neue Absatzmärkte in Mitteleuropa erschließt, sich aus dem Fachkräftereservoir Ostdeutschlands bedient, aber ansonsten die innerdeutsche Grenze für Übersiedlungen schließt?

Solche Szenarien wären unpolitisch und ahistorisch. Derartige Ideen waren schon 1989 nicht tragfähig. Das muss auch in Richtung desjenigen früheren Kanzlerkandidaten gesagt werden, der für sich in Anspruch nimmt, schon immer vor der Einheit gewarnt zu haben, gleichwohl aber nun an der Spitze einer ostdeutsch geprägten Partei steht. Und die wählt ihn auch noch... .

Wenn die sozialen Sicherungssysteme, die gerade auf einen Ausgleich zwischen Stärkeren und Schwächeren ausgerichtet sind und ich füge hinzu: und gerade deswegen eine breite Akzeptanz haben wenn solche Systeme in ihrem Geltungsbereich ausgedehnt werden, letztlich um mehr Personen erweitert werden, und dann an ihre Grenzen stoßen, ist dann die Ausweitung das Problem oder stimmt etwas mit ihrer Architektur nicht?

Möglicherweise haben wir in den 1990er Jahren unfreiwillig aber einstimmig, unbestritten und alternativlos das gemacht, was heute mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik Willy Brandts verbunden wird nämlich "die Belastbarkeit der Wirtschaft getestet".

Ich schließe daraus, dass die bundesweiten Sozialreformen der vergangenen Jahre notwendig waren. Und weniger, dass Westdeutschland ohne die Wiedervereinigung hätte noch ein wenig länger den Reformen ausweichen können.

Im Ergebnis: Neben dem positiven Nachfrageschub kann und müssen die Höhe der Ausgleichsleistungen und die damit verbundenen Belastungen in die Betrachtung einbezogen werden. Man sollte dankbar die Leistung derjenigen anerkennen, die diese Transfers aufbringen müssen. Wir werden auch zukünftig die sozialen Sicherungssysteme im Interesse von Wachstum und Beschäftigung in ganz Deutschland weiterentwickeln müssen. Dabei gilt es nicht nur auf die Herausforderungen einer deutschen Einheit, sondern auf die der Globalisierung zu reagieren. Wo finanzieller Ausgleich notwendig ist, muss sichergestellt werden, dass dies sparsam und wirtschaftlich geschieht und sich nicht in Phantasieszenarien verliert.

Die teilweise anzutreffende westdeutsche Nostalgie nach einer heilen Welt à la "Ein Herz und eine Seele" vor der Wiedervereinigung ist eine Illusion über die wirklich wirtschaftliche und soziale Lage in der alten Bundesrepublik. Und das in der Öffentlichkeit zuweilen gezeichnete Zerrbild vom Osten als Fass ohne Boden ist schlichtweg falsch.

Nachdem ich gerade wie selbstverständlich von Ost- und Westdeutschen gesprochen habe, meine 3. Frage:

Drittens:

Sollte man heute noch von Ost und West sprechen? Überwiegt das Gemeinsame oder das Trennende? Was ist ein Ostdeutscher überhaupt? Das Ossi-Wessi-Getue ist out,

Schwarz-rot-gold ist in "

so zitiert die "Super-Illu" einen ostdeutschen Jugendlichen.

Es ist die saloppe Sprache der Jugend. Aber der Befund ist dadurch noch lange nicht aus der Luft gegriffen. Im vergangenen Sommer gab es ein paar Wochen, da beschrieb dies fast uneingeschränkt die Wirklichkeit.

Die Welt war zu Gast bei Freunden, und Deutschland, ein Deutschland, freute sich aufrichtig über sich und über seine Gäste. Dass der Kapitän der Nationalmannschaft ein Sachse ist, darf Sachsen mit Stolz erfüllen. Aber für die Mannschaft spielte es keine Rolle. Man kämpfte gemeinsam, in Sieg und Niederlage.

Trotz allem zeigt diese schöne Erfahrung wohl nur eine Facette.

Es gibt noch viele Menschen, die sich in einer kulturellen Identität von Ost oder West sehen. Das kann, muss aber nichts mit "Ostalgie" oder "West-Snobismus" zu tun haben. Entscheidend ist doch, ob man seine Identität allein aus diesem Unterschied heraus definiert, ob man sich abgrenzen will oder ob das nur einen Aspekt der Selbstwahrnehmung prägt.

Was ist das überhaupt, ein Ostdeutscher? Ostdeutschland ist, wenn man es nicht so meint wie Nord- und Süddeutschland, ein künstlicher Begriff aus der Zeit nach 1990."Ostig" war mitunter ein abwertender Begriff für nicht ganz so modische Kleidung. Aber ostdeutsch... ? Zu DDR-Zeiten sagte wohl niemand, er sei ostdeutsch. Man war DDR-Bürger oder Deutscher. Ostdeutscher zu sein beschreibt deshalb keine innere gemeinsame Heimat oder gar Zukunft, sondern eine gemeinsame Erinnerung. Ein Ostdeutscher ist wohl, nur, wer noch bewusst die DDR erlebt hat, also alle, die mindestens 15 Jahre alt waren, als die Mauer fiel.

Eine These von mir ist nun, dass für die meisten Ostdeutschen in diesem Sinne für die Beurteilung der Gegenwart die Zeit nach 1990 inzwischen wichtiger geworden ist als die Zeit vor 1990. Zumal die damaligen Teenager nun schon genau so lange oder länger im vereinigten Deutschland leben. Die Wunden der Diktatur sind unvergessen, aber verarbeitet. Die Erfolge, aber auch manche Herabwürdigungen der Nachwendezeit sind dagegen präsent. Eine Lösung für die Zukunft kann das nicht sein. Ostdeutschland ist Geografie oder Erinnerung. Ostdeutschland ist keine Vision. Vision ist Sachsen, Deutschland und Europa.

Obwohl weiterhin mehr Menschen aus den ostdeutschen Ländern in die westdeutschen umziehen, siedeln natürlich auch Menschen aus dem Westen in den Osten um. Gegenwärtig kommen auf drei Fortzüge etwa zwei Zuzüge. Kumuliert sind es seit 1991 rund anderthalb Millionen. Darunter sind natürlich auch Rückwanderer. Aber eben nicht nur.

Einerseits sorgen die Wanderungen für eine gewisse Mischung von Herkünften und Erfahrungen. Andererseits zeigt die Erfahrung in Westdeutschland, wo es auch umfangreiche Wanderungen zwischen Nord und Süd gegeben hat, dass landsmannschaftliche Identitäten und Unterschiede zwischen den Regionen sich durchaus erhalten, ohne zu stören. Und das ist gut, denn Vielfalt belebt.

Auch in Ostdeutschland gibt es landsmannschaftliche Unterschiede. Ein Thüringer ist einem Hessen vielleicht kulturell näher als einem Mecklenburger. Dennoch gilt: Ein zusätzliches Selbstverständnis als Ostdeutscher wächst sich nicht einfach so heraus. Bei den Jüngeren stellen wir fest: Sie sind geprägt durch ihre Eltern, durch deren Erfahrungen. Und auch dies sind Erfahrungen aus der DDR, aber zunehmend auch Erfahrungen aus den Umbrüchen der Zeit danach.

Beides, das eigene Erleben der DDR und das Erleben der rasanten Veränderungen der letzten 18 Jahre, kann erheblich zusammenschweißen. Warum auch nicht?

Überwiegt nun das Gemeinsame oder das Trennende?

Jenseits der Eigenwahrnehmung hilft auch ein Blick auf Europa. Es gibt zahlreiche Beispiele für separatistische Tendenzen und Bewegungen, in Spanien mit seinem Baskenland und neuerdings Katalonien, im Vereinigten Königreich mit Nordirland und Schottland, Korsika in Frankreich und in jüngerer Zeit auch wieder in Belgien mit seinen wallonischen und flandrischen Landesteilen. Die Tschechen und Slowaken und die Völker der Sowjetunion haben die neuen Freiheiten dazu genutzt, sich friedlich zu trennen. Jugoslawien ist in einem blutigen Bürgerkrieg zerfallen. Von alledem kann in Deutschland keine Rede sein.

In Deutschland ist der nationale Zusammenhalt nach internationalen Maßstäben sehr stabil. Nicht einmal die PDS hat je eine Wiederherstellung der Zweistaatlichkeit gefordert. Sie hat hingegen auf ihre merkwürdige Weise eine Vereinigung nachvollzogen.

Im Rahmen der Föderalismuskommission von Bund und Ländern, die sich gerade mit den Verschuldungsgrenzen unseres Staatswesen beschäftigt, wird manchmal über die richtige Balance zwischen dem bündischen Prinzip und föderaler Autonomie gestritten. Aber niemand stellt die Einheit in Frage. Niemand will ausziehen. Auch der Vergleich mit dem Ausland zeigt also, die deutsche Einigung ist eine gelungene Einigung.

Viertens:

Bedarf es neben den Anstrengungen der Länder heute noch einer eigenständigen Politik des Bundes für den Aufbau Ost?

Das aktuelle Wirtschaftswachstum lässt durchaus den Schluss zu: Läuft die Wirtschaft bundesweit, dann kommt das auch dem Aufholprozess des Ostens zugute. Kann also Wachstum in den ostdeutschen Ländern künftig quasi die Probleme miterledigen?

Wir müssen uns diese Frage immer mal wieder stellen, um der Gefahr entgegen zu wirken, dieses Politikfeld einfach nur zu verwalten. Weiterzumachen, weil es "schon immer" so war." Soll

das immer so weitergehen? ", fragen sich auch Ostdeutsche inzwischen.

Wir sind diese Fragen und Antworten allen Deutschen schuldig, weil besondere Aufbauleistungen immer eine Bevorzugung darstellen können. Weil es Sorgen gibt, der Aufbau Ost sei ein Abbau West. Und weil 17 Jahre nach der Wiedervereinigung die besonderen gemeinsamen Anstrengungen für Ostdeutschland gut begründet sein wollen.

Aber: Eine eigenständige Politik des Bundes für die ostdeutschen Länder kann auch den Keim der Bevormundung, der Entmündigung und der Unselbständigkeit säen. So war es eben unbeabsichtigt in den ersten Jahren nach 1990. Um es vorwegzunehmen: Ich bin davon überzeugt, dass eine eigene Förderpolitik für die ostdeutschen Länder auch heute noch notwendig und berechtigt ist. Die Ausgangsbedingungen in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt sind trotz des enormen Veränderungsprozesses immer noch deutlich unterschiedlich. Die Politik für den Aufbau Ost muss heute einen anderen Charakter haben als 1990. Aber es wäre töricht, die Bemühungen auf Bundesseite jetzt einfach einzustellen.

Die Einführung der D-Mark, die Übertragung des Rechts- und Sozialsystems und die rapide Lohnanpassung traf über Nacht auf eine ostdeutsche Wirtschaft, die ihre Märkte in den ehemals sozialistischen Ländern verloren hatte, deren Produkte nicht auf den Westmärkten eingeführt waren und die einen erheblichen Investitions- und Technologierückstand aufwies.

Dies hatte

wie wir alle wissen tiefe Einschnitte in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt zur Folge. Sie wirken bis heute nach. Drei Beispiele möchte ich nennen:

Erstes Beispiel: Im Bereich der Industrie gibt es eine wirklich gute Entwicklung. Dies ist für die Gesamtwirtschaft in Ostdeutschland von großer Bedeutung, da insbesondere auch die produktionsnahen Dienstleistungen eine starke regionale Industriebasis voraussetzen. Das Wachstum im verarbeitenden Gewerbe liegt seit 2000 in Ostdeutschland mehr als dreimal und in Sachsen sogar mehr als fünfmal so hoch wie in Westdeutschland.

Wegen der tiefen Einschnitte Anfang der neunziger Jahre geht dieses Wachstum jedoch von einem geringen Niveau aus. Die Industriedichte die je Einwohner erzeugte Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe liegt in Ostdeutschland trotz der beschriebenen Aufholjagd erst bei der Hälfte des westdeutschen Niveaus und auch in Sachsen erst bei gut 62 Prozent.

Zweites Beispiel: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat vor kurzem eine Untersuchung zur Vermögensverteilung in Deutschland veröffentlicht. Es ist hochinteressant: In der Struktur der Verteilung, im Verhältnis zwischen Vermögensarmen und Vermögensreichen, da gibt es inzwischen kaum Unterschiede zwischen Ost und West. Aber festgestellt wird auch: Das Niveau ist ein ganz anderes.

Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Wir haben das beispielsweise auch bei den Diskussionen um eine Reform der Erbschaftsteuer vor Augen gehabt.

Drittes Beispiel: Der aus dem Amt geschiedene Bundesarbeitsminister Müntefering hat ein Programm zur Einführung kommunaler Kombilöhne vorgeschlagen. Ich möchte jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen. Entscheidend ist: Es gibt ein Kriterium, nach dem Landkreise für eine Teilnahme ausgewählt werden. Das ist eine bestimmte Arbeitslosenquote. Dieselbe Grenze für Ost und West. Gewiss keine Förderung nach der Himmelsrichtung. Und dennoch: 90Prozent der Landkreise liegen im Osten.

Die allermeisten Regionen in Ostdeutschland sind verglichen mit westdeutschen Regionen weiterhin durch geringere Wirtschaftskraft, höhere Arbeitslosigkeit und geringe Steuerkraft gekennzeichnet. Und in den meisten Fällen fehlt noch die starke Umgebung, die automatisch mitzieht. Die Daten von Gelsenkirchen oder Bremerhaven sind im Westen die Ausnahme, im Osten eben eher der Regelfall, Dresden ist hier die Ausnahme.

Mit der Wirtschafts- , Währungs- und Sozialunion die heute niemand in Frage stellen will und der damit verbundenen Übernahme eines engmaschigen Rechtsrahmens, vom Verwaltungs- bis zum Arbeitsrecht, haben sich die Handlungsoptionen für das Management des Transformationsprozesses verengt. Weil eine schnelle Einführung des vollständigen Rechtsrahmens aber angeblich die zwingende Voraussetzung für die politische Einheit war, haben wir das so gewollt.

Zusammen mit den immer noch sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in der Wirtschaft und am Arbeitsmarkt begründet dies auch heute noch ein besonderes förderpolitisches Engagement des Bundes in Ostdeutschland, um Innovationen und Investitionen zu beschleunigen. Eine schrittweise Rückführung der Sonderförderung ist gesetzlich vorgesehen. Aber ein darüber hinausgehender plötzlicher Ausstieg wäre unverantwortlich.

Dennoch darf und muss jedes Instrument auf den Prüfstand gestellt werden. Jede Förderung muss ihre Wirksamkeit nachweisen.

Fünftens:

Worin liegen also heute die Ziele und Handlungsschwerpunkte für den "Aufbau Ost" ?

Der Bund hat den ostdeutschen Ländern mit dem Solidarpakt II weitere Förderung in die Hand versprochen. Dabei geht es um mehr als 150Milliarden Euro. Er läuft zum Ende 2019 aus. Einen Solidarpakt III wird es nicht geben.

Das sind harte Rahmenbedingungen, es

ist aber keine Hiobsbotschaft. Denn klar ist auch: Mit den Solidarpaktmitteln stehen hier mehr Gelder pro Kopf zur Verfügung als im Durchschnitt West. Selbst der Rückgang der Mittel ändert bis 2019 nichts. Nur die relative Bevorzugung wird abgeschmolzen.

Einen allgemeinen Finanzausgleich zwischen steuerstarken und steuerschwachen Ländern wird es auch nach 2019 weiter geben. Gleiches gilt für die Sozialversicherungen. Einheit ist Einheit.

Was aber sind die konkreten Ziele des Aufbaus Ost, woran wird sich der Erfolg messen lassen?

Die Politik zieht sich oft auf die üblichen Floskeln zurück. Was heißt denn, es soll ein selbsttragender Aufschwung erreicht werden? Das ganze Wort ist ökonomisch üblich, aber schwer verständlich. Wer trägt sich da selbst? Man kann sich dieser Vorstellung nur nähern: die ostdeutschen Länder sollen keinesfalls autark sein; aber dauerhaft in etwa soviel produzieren wie verbrauchen.

Mitte der neunziger Jahre lag der Verbrauch in den ostdeutschen Flächenländern noch um 50 Prozent über der regionalen Produktion. Nach den aktuellsten Daten nur noch um 20 Prozent. Die Abhängigkeit von Ausgleichszahlungen ist somit deutlich gesunken. Das ist ein großer Fortschritt. In den strukturschwächeren westdeutschen Ländern wie Rheinland-Pfalz und Niedersachsen liegt der Verbrauchsüberhang mit zwischen 6und 8 Prozent jedoch deutlich niedriger. Das könnte eine durchaus erreichbare untere Zielmarke für die ostdeutschen Länder sein.

Auch der Begriff der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse gibt keine unmittelbare Orientierung. Ich habe schon über den enormen Gewinn an Chancen in den ostdeutschen Bundesländern gesprochen. Das sächsische Kinderbetreuungs- und Schulsystem muss sich hinter keinem eines anderen Bundeslandes verstecken. Die Versorgung mit medizinischen Spitzenleistungen hinkt dem Westen nicht mehr hinterher. Die Lebenserwartung ist enorm gestiegen. Für heute Neugeborene gibt es keinen Unterschied mehr.

Gleichwertige Lebensverhältnisse heißt aber sicher auch: Aus der Heimat zwar jederzeit weggehen zu können, wenn man möchte. Aber nicht aus der Heimat weggehen zu müssen, nur weil man dort keine Arbeit findet.

Meine Damen und Herren,

die relevante Vergleichsgruppe ist, das muss man als Politiker hinnehmen, nicht das eigene Erleben vor zwanzig Jahren, sondern der Nachbar, dem es angeblich besser geht.

Wir müssen daher zusehen, dass die Markteinkommen, die nicht staatlich gestützten Löhne und Gehälter, bis 2019 zumindest nahe an das Niveau der strukturschwächeren westdeutschen Länder heranreichen. Wir müssen also weiter hochwertig investieren.

Die Verbesserung der Arbeitsmarktlage und die weitere Anpassung der Produktivität, das sind klare Ziele. Wenn sie beide erreicht wären, hieße das, dass die Bevölkerung im Erwerbsalter in Ostdeutschland pro Kopf ein ähnlich hohes Sozialprodukt erwirtschaftet, wie in den strukturschwächeren westlichen Flächenländern. Derzeit sind es in den ostdeutschen Flächenländern nur etwa 65 Prozent des westdeutschen Niveaus. Länder wie Niedersachsen erreichen 84 Prozent.

Der Bund kann das am besten unterstützen, indem er seine Förderinstumente flexibel zum Einsatz bringt. In der ersten Hälfte des Aufbaus Ost dominierte klar die physische Bautätigkeit. Zunächst galt es die grundlegende Infrastruktur wiederherzustellen und die Städte wieder herzurichten.

Diese Aufgabe ist nicht abschließend erledigt. Aber das Wichtigste ist erreicht. Und oftmals sind heute die Verkehrsbedingungen und die Stadt- und Dorfbilder mit denen in vielen Teilen Westdeutschlands mindestens vergleichbar. Die Erträge weiterer Infrastrukturinvestitionen nehmen langsam ab.

Es wird daher eine Schwerpunktverschiebung erforderlich sein, hin zu Bereichen, die heute höhere Wachstums- und Beschäftigungsrenditen erwarten lassen:

Die Förderung unternehmerischer und unternehmensnaher Investitionen muss weiterhin hohe Priorität haben. Damit wird die positive Dynamik im verarbeitenden Gewerbe unterstützt und ein Beitrag zur weiteren Steigerung der Arbeitsproduktivität geleistet.

Forschung und Entwicklung werden zur Schlüsselgröße des Aufbaus Ost werden. Denn nur über Innovationsvorsprünge, über hochwertige Tätigkeiten, lässt sich die notwendige Wertschöpfung erzielen.

Nicht zuletzt müssen wir angesichts der demografischen Entwicklung bei Bildung und Qualifizierung reagieren. Wir müssen es schaffen, denjenigen, die heute bereits im Arbeitsprozess stehen, durch Weiterbildung die aktuellsten Qualifikationen zu vermitteln. Schon in naher Zukunft wird es nötig werden, die Beschäftigten länger im Erwerbsprozess zu halten. Bei den Jüngeren müssen wir etwas tun, um weniger Schulabbrecher und mehr Hochschul-Absolventen zu haben.

Der Bund wird seine Hausaufgaben machen. Er kann aber nur das Seine tun. Investitionsentscheidungen werden in Unternehmen getroffen. Und für die Entwicklung vor Ort ist in erster Linie die Landespolitik verantwortlich.

Die konzeptionelle Entwicklung für die Region in Deutschland kann und darf der Bund nicht übernehmen. Nordrhein-Westfalen und Bayern würden sich das verbitten. Die Konzepte zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen unterscheiden sich ebenfalls. Bei den Regionalfonds aus Europa haben das alle längst gelernt. Das muss auch für die Zuständigkeit des Bundes gelten. Es war bequem, vom Bund Geld und Konzepte zu fordern, aber es war nicht regional angemessen. Das zur Verfügung stehende Geld steht jetzt für Jahre im Großen und Ganzen fest. Die konzeptionelle Ausfüllung beim Aufbau Ost kann nicht Bundesaufgabe sein.

III. Schluss

Ich komme zum Ende meiner Bilanz.

Mit der friedlichen Revolution von 1989 geht die Nachkriegszeit, die Zeit des geteilten Deutschlands, endgültig zu Ende.

Die Deutschen leben heute in Einheit, Frieden und Freiheit und im weltweiten Vergleich in beachtlichem Wohlstand, alle. Wann in der deutschen Geschichte konnte man Vergleichbares sagen?

Richard Schröder hat zu Recht darauf hingewiesen: Wer heute noch auf Fragen fixiert ist wie Warum sind die im Osten immer noch anders als wir? ",

oder aber auch Warum geht es uns immer noch schlechter als im Westen? ",

der nimmt nicht wahr, was seit 1989 geschehen ist und wie viel bewältigt wurde.

Wer immer wieder das Trennende betont, darf sich nicht über die trennende Wirkung seiner Rede wundern.

Wer unsere Kinder als Ostdeutsche gegen Westdeutsche erzieht oder umgekehrt, darf sich nicht wundern, dass ein 2. Klasse-Gefühl nicht verschwindet.

Wer nach hinten schaut beim Fahren oder Laufen, darf sich nicht wundern, wenn er Hindernisse rammt, statt sie zu vermeiden.

Die Bilanz der Deutschen Einheit ist nichts, was wir irgendwo ablesen können, nichts Fremdes, was ein Wirtschaftsprüfer beurteilt.

Die Bilanz der Deutschen Einheit ist viel mehr das, was wir selbst jeden Tag daraus machen. Die Deutsche Einheit in Freiheit ist nie vollendet. Sie ist Teil unserer Gegenwart und zugleich Aufgabe für die Zukunft.