Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 17.06.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/87/11687/multi.htm


heute vor 47 Jahren wehrten sich in der Stalin-Allee Hunderte von Bauarbeitern öffentlich gegen die Erhöhung ihrer Arbeitsnormen. Ihr Protest war die Initialzündung für eine Welle des Aufbegehrens in über 500 Städten und Gemeinden der DDR. Das Signal, dass die Frauen und Männer mit ihren Streiks und Demonstrationen setzen wollten, ging aber weit über die Forderung nach menschenwürdigen Arbeitsbedingungen hinaus: Eingefordert wurden die Grundwerte freiheitlichen Zusammenlebens? die freie Meinungsäußerung ebenso wie die demokratischen Rechte auf politische Teilhabe durch Wahlen, Mitbestimmung und nicht zuletzt das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Die Antwort der kommunistischen Staatsführung und ihrer Verbündeten auf die Forderungen seiner Bürger war hart, gewalttätig und damit die zynische Bestätigung für die moralische und politische Rechtfertigung des Aufstandes: Der Ausnahmezustand für Ost-Berlin und viele Kreise der DDR, Waffengewalt und Panzereinsatz gegen die Demonstranten, Diese unerbittliche Machtdemonstration kostete mehr als 100 Menschen das Leben, weit über tausend trugen Verletzungen davon. Tausende wurden verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt; nicht wenige sogar standrechtlich erschossen.

Unsere Gedanken sind deshalb zunächst bei diesen Opfern des Aufstandes vom 17. Juni 1953, die den Mut hatten, sich für Freiheit und Bürgerrechte einzusetzen; die ihr Leben dafür hingegeben oder Jahre davon hinter Gefängnismauern zugebracht haben.

Unsere Gedanken sind aber auch bei denjenigen, die die innere Kraft und die menschliche Größe hatten, sich als Volkspolizisten, als deutsche und sowjetische Soldaten dem Befehl zu verweigern, auf die eigenen Landsleute zu schießen? ihre Zivilcourage bleibt beispielgebend für uns alle.

Anrede,

Gleichwohl, der Aufstand vom Sommer 1953 wurde gewaltsam und blutig niedergeschlagen; er war zum damaligen Zeitpunkt erfolglos, jedoch nicht vergeblich. Denn die Tage im Juni 1953 waren die erste entscheidende historische Zäsur und das erste Glied in einer Kette von mutigen Akten des Widerstandes gegen Unfreiheit und Unterdrückung durch die kommunistischen Diktaturen. Er fand seine Nachfolge in Ungarn im Jahr 1956, im "Prager Frühling" 1968; in seiner geistigen Tradition steht auch die Solidarnosc-Bewegung der achtziger Jahre und in Polen 1981. Für uns Deutsche wurde das Vermächtnis von Freiheitsdrang, Tapferkeit und Bürgersinn jener Tage in den Jahren 1989 und 1990 mit der friedlichen Revolution eingelöst; die Deutschen in der DDR haben durch ihren Willen zur Freiheit das Regime zu Fall gebracht, an dem ihre Eltern und Großeltern noch gescheitert waren und damit die Voraussetzung für die Einheit Deutschlands geschaffen.

Anrede,

Die heutigen Stunde der Erinnerung an jene Tage im Juni 1953 fällt ins 10. Jahr dieser Einheit; es ist ein Jahr, in dem wir schon viele nachdenkliche Resümees gehört haben und noch mehr hören werden. Und es ist ein Jahr, in dem wir bei ehrlicher Bilanzierung des bisher Erreichten sagen können, dass Ost- und Westdeutsche in solidarischer Gemeinsamkeit große Schritte auf dem Weg zur inneren Einheit vorangekommen sind, aber auch sagen müssen, dass gleichwohl noch viel Zeit und Kraft gebraucht werden wird, um aus dem halb vollen ein ganz volles Glas zu machen.

Gerade der heutige Tag in diesem 10. Jahr der Einheit Deutschlands ist aber besonders geeignet, um uns bei aller klugen Nüchernheit der historischen Bilanzierung Eines vor Augen zu führen: Was in Deutschland und Europa im Jahr 1989 und in den Jahren seither erreicht wurde, geht weit über das hinaus, was sich die Frauen und Männer, die 1953 für ihren Freiheitswillen gekämpft und gelitten haben oder sogar gestorben sind, damals, vor 47 Jahren erträumen konnten? wir leben in einem vereinten freien Land in einem zusammenwachsenden Europa ohne eisernen Vorhang und atomare Bedrohung.