Redner(in): Michael Naumann
Datum: 22.06.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/95/12695/multi.htm


Rede von Staatsminister Dr. Michael Naumann zur Eröffnung der Ausstellung "Stadt der Architektur - Architektur der Stadt. Berlin 1900 - 2000" im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel am 22. Juni 2000 Architektur ist alles, was nicht umfällt." An dieser lakonischen Begriffsbestimmung, die jüngst im Feuilleton einer angesehenen deutschen Tageszeitung zu lesen war, ist vor allem eines richtig: Architektur ist in der Regel von einer gewissen Dauerhaftigkeit. Damit hängt zusammen, was die besondere Verantwortung der Architektur vor allen anderen Künsten begründet: Bauwerke prägen ihre Umwelt oft für viele Generationen.

Das hat Vor- und Nachteile. Nachteilig kann sein, dass der ursprüngliche Nutzungszweck sich überlebt, für eine "Umnutzung" aber nicht automatisch ideale Bedingungen bestehen. Die Vorteile jedoch sind nicht gering zu achten: Die Menschen haben sich an die Gebäude gewöhnt, sind vertraut mit ihnen, und bekanntlich ist Vertrautheit eine wesentliche Voraussetzung für Wohlbefinden.

Diese einfachen Feststellungen sind nicht nur für den Umgang mit Einzelbauwerken von Bedeutung; sie haben in besonderem Maße städtebauliches Gewicht. Die Architektur, die wir vorfinden, macht Straßen, Plätze und Quartiere kenntlich. Die Identität der Orte wird von ihr wesentlich definiert. Das Gefühl, an einem Ort zu Hause zu sein, entsteht nicht zuletzt dadurch, dass wir eine unverwechselbare Topografie von Landschaft und Bebauung in Erinnerung haben und wieder erkennen.

So manchen Stadtplaner, Architekten und Bauherrn mag bei solchen Überlegungen eine leichtes Unbehagen beschleichen. Wer Neues bauen will, hat meist andere Probleme. Wer allerdings Neues in alten städtebaulichen Strukturen zu bauen hat - und dies ist hier in Berlin häufig, zumal im Innenstadtbereich, der Fall - , der darf nicht daran vorbeisehen, dass er in einer Stadt baut, in der die Verwüstungen des letzten Weltkrieges und städtebauliche und architektonische Fehlleistungen der Nachkriegszeit noch vielerorts sichtbar sind. Wer auf öffentliche Akzeptanz bedacht ist - in der Demokratie ja kein von vornherein verächtliches Streben - , steht er vor der Frage, wie er sich zur örtlichen Bautradition verhalten will. Das Bewahren und die Weiterentwicklung von Bautraditionen sind originäre Leistungen der Gesellschaft. Das Bürgerengagement in Fragen von Architektur und Städtebau sollten wir als wertvolle Ressource verstehen - und nicht nur als Hemmschuh für Visionen und Investorenprojekte. Die Stadtplaner müssen sich überlegen, ob sie das "störende" Neue in das Alte integrieren, und damit auch die Identität der Stadt bewahren und bereichern wollen, oder ob es ihnen um aufsehenerregende städtebauliche Akzente geht, die die Diskontinuitäten der Architektur betonen und bewusst Anstösse für die Entwicklung neuer Identitäten vermitteln.

Die Stärkung der Innenstadt als Wohnort ist in diesem Zusammenhang ein besonders für Berlin virulentes Thema. Fragen des historischen Stadtgrundrisses spielen dabei eine entscheidende Rolle. Auch in dieser Ausstellung wird sichtbar, was der deutsche Beitrag zur Architektur-Biennale in Venedig ausdrücklich zum Thema macht: Wie nach 1945 der historische Stadtgrundriss in ganz Berlin bewusst und planmäßig verleugnet wurde. Es erschien den Planern nahe liegend, den Zustand der kriegszerstörten Stadt als Chance für einen völligen Neubeginn zu nutzen.

Die Städteplaner im Berlin der Nachkriegszeit veranstalteten, orientiert an Leitbildern wie dem der "autogerechten" und der "durchgrünten" Stadt, in Ost und West wahre Abrissorgien und zerstörten weit über die Kriegsschäden hinaus bestehende Stadtstrukturen. Schon vor dem Mauerbau spielte die politische Systemkonkurrenz von Ost und West auch in der Architektur eine bedeutsame Rolle. Stalinallee und Hansaviertel demonstrieren dies in ihrer Gegenüberstellung mit ideologischer Schärfe. Aus dem Abstand der Jahre erkennen wir Vorzüge und Grenzen beider Konzepte. Die allzu wohlfeile Kritik an diesen Leistungen hat sich - nach der jeweiligen Euphorie - inzwischen glücklicherweise relativiert.

Es versteht sich von selbst, dass die Mauer, die den Stadtorganismus vollständig auseinander riss, in den beiden Berlins einen Zwang zur Neusortierung der zentralen Orte und der städtischen Infrastruktur zur Folge hatte. Insgesamt betrachtet, sind im Berlin des 20. Jahrhunderts vor und nach dem Zweiten Weltkrieg viele Beispiele interessanter und großer Architektur entstanden, darunter Schlüsselwerke der Baukunst der Moderne. Die Ausstellung macht das eindrücklich bewusst.

Spätestens seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten setzte sich die Einsicht durch, dass Berlin in Anknüpfung an den historischen Stadtgrundriss und durch seine Erneuerung und Fortentwicklung wieder zu einer lebendigen europäischen Metropole werden kann. Wer die Bautätigkeit der vergangenen zehn Jahre in Berlin betrachtet, kann nicht nur historisierende Langeweile und postmoderne Fantasielosigkeit beobachten - im Gegenteil: für große, wagemutige Lösungen und experimentelle Vorstöße gab es Raum und manche Gelegenheit. Wer es sich leisten kann, wohnt in einem modernisierten Altbau." Wenn diese Maxime des bekannten Architekturkritikers Vittorio Magnago Lampugnano als Kriterium auch für Bundesministerien gilt, dann kann es ihnen nicht so schlecht gehen: Immerhin ist der weitaus größte Teil von ihnen nach dem Regierungsumzug in Altbauten untergekommen. Diese Entscheidung hat die Bundesregierung im Jahre 1994 in erster Linie aus Kostengründen getroffen. Ob das Kostenargument wirklich schlüssig ist, weiß ich nicht. Viel wichtiger scheint mir aber zu sein, dass die Entscheidung unter baukulturellen Aspekten richtig war. Fast alle betroffenen Gebäude haben repräsentative Standorte und sind denkmalgeschützt. Es ist ein kaum zu überschätzender Beitrag zur Vitalisierung der historischen Mitte Berlins, dass der Bund wichtige staatliche Funktionen in bestehende bauliche Zusammenhänge integriert, indem er diese Bauten herrichtet und an die neuen Nutzerbedürfnisse anpasst. Ein gettohaftes, geschlossenes neues Regierungsviertel wäre die eindeutig schlechtere Lösung gewesen - für die Bundesregierung wie für Berlin.

Darüber hinaus kommt in der Wahl dieser Regierungsdomizile ein Verhältnis zu unserer Geschichte zum Ausdruck, das seinem Erbe nicht ausweichen will, sondern es bewusst annimmt. Denn natürlich sind einige der Bauten - zum Teil mehrfach - "historisch kontaminiert". Die künstlerischen Interventionen des international diskutierten Kunstkonzepts der Bundesregierung müssen ihre Bewährungsprobe erst noch bestehen. Unabhängig davon meine ich jedoch, dass auch historisch belasteten Monumenten durch einen offenen, bewussten Umgang mit ihrer Geschichte im Lauf der Zeit zusätzliche, neue Bewertungen zuwachsen können, ohne dass die Erinnerung an ihre Vergangenheit verblasst. Ich halte es für einen Vorzug, beim Betreten eines Gebäudes auf die Frage gestoßen zu werden, welche Vergangenheit es hatte.

Für die Bundesregierung ist einzig das Bundeskanzleramt als vollständiger Neubau konzipiert worden. Außerdem gab es mehrere Ergänzungsbauten. Der schöne, ebenso zurückhaltende wie einladende Neubau des Auswärtigen Amtes scheint mir ein gelungenes Beispiel zu sein. Der Neubau des Bundesinnenministeriums ist lediglich angemietet worden.

Die Planungen für den monumentalen Solitär des Kanzleramts im Spreebogen waren, wie Sie wissen, weitgehend abgeschlossen, als die Koalition von SPD und Bündnis 90 / Die Grünen die Regierungsverantwortung übernahm. Insofern gehört die neue Regierungszentrale zu unserem architektonischen Erbe. Ich bin mir sicher: Ein Anziehungspunkt wird das Kanzleramt sicher - die Aufmerksamkeit des Publikums ist ihm gewiss.

Der "kulturelle Mehrwert" des Bauens, der die rein funktionale architektonische Dienstleistung übersteigt, macht Architektur zur Baukunst. Vielleicht sollte man überhaupt erst dann, wenn dieser Mehrwert aufscheint, von "Architektur" reden. Der Architekt hat natürlich eine vorgegebene Nachfrage zu befriedigen - das ist die Pflicht, ohne deren Erfüllung kein Bauherr zufrieden sein wird; als Künstler soll der Architekt, um mit Umberto Eco zu reden, etwas liefern, worauf der Auftraggeber noch gar nicht gefasst ist. Daniel Libeskind, der Architekt des signifikantesten modernen Museumsbaus in Berlin, hat das, worauf es in der Architektur als Baukunst ankommt, auf die Formel gebracht: "Es geht um Länge, Höhe und Breite, aber es geht auch um Tiefe von Hoffnung und Erinnerung. Der lebendige Anspruch der Architektur liegt in der Substanz der Seele und ihr Wesen ist die Kultur." Das jüdische Museum erfüllt diese Maxime perfekt. Und das Publikum weiß das zu schätzen. Noch bevor die museale Nutzung dieses Bauwerks beginnt, ist es ein Besuchermagnet geworden. Die Ausstellung über jüdisches Leben in Deutschland wird es nicht leicht haben, gegen diese starke Architektur zu bestehen. Und dennoch bin nach meinen Gesprächen mit Michael Blumenthal sehr zuversichtlich. Qualität ist eben - und das nicht nur in der Architektur - auch eine geistige, eine kulturelle Kategorie.

Dies gilt in besonderem Maße für Berlin. Natürlich beeinflussen die städtebaulichen und architektonischen Entscheidungen der Bundesregierung die Physiognomie der Stadtmitte. So wichtig jedoch für die baukulturelle Profilierung Berlins die Bundes- und Regierungsbauten sind - noch wichtiger für die Stadtgestalt und für das Gelingen einer von der Zustimmung der Menschen getragenen städtebaulichen Organisation der Innenstadt sind die Kulturbauten, zumal die Museen.

Man muss nicht unbedingt den kulturkritischen Gemeinplatz bemühen, wonach die Museen im säkularisierten bürgerlichen und nachbürgerlichen Zeitalter einen Teil jener kulturellen und sozial-kommunikativen Funktionen übernommen haben, die im Mittelalter den Kirchen und Kathedralen zukamen. Kaum ein Zweifel kann jedoch daran bestehen, dass die Museen in Berlins Innenstadt in städtebaulicher Hinsicht strukturbildende Kraft entfalten.

Bei den Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit ihren beiden Innenstadt-Standorten Museumsinsel und Kulturforum ist das besonders evident. Deshalb ist das große Projekt der Museumsinsel von so zentraler Bedeutung. Professor Lehmann, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, träumt, wie Sie wissen, von noch Größerem. Ich hoffe, dass es gelingen wird, das Areal des Schlossplatzes in die Entwicklung der Spreeinsel einzubeziehen, und dadurch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine neue Qualität ihrer musealen Repräsentanz zu ermöglichen. Damit wäre eine historisch konsequente stadträumliche Disposition getroffen, die Ernst macht mit dem Ende der patriarchal-feudalen Kulturförderung des 19. Jahrhunderts.

Die Inbesitznahme von Teilen der ehemaligen Residenz durch eine hochrangige öffentliche kulturelle Nutzung wäre von außerordentlicher symbolischer Wirkung. Sie hätte aber vor allem einen prägenden, zentrierenden urbanen Wert. Es deutet manches darauf hin, dass diese Lösung auch eine breite Zustimmung in der Öffentlichkeit finden wird und damit, wenn Sie so wollen, demokratisch legitimiert würde. Die Berliner Stadtmitte hätte damit ihren wichtigsten architekturästhetischen Bezugspunkt wiedergewonnen und stünde den Bürgerinnen und Bürgern offen - wie natürlich allen Gästen der Stadt. Den vielen Brüchen und Diskontinuitäten in der Architekturgeschichte der Stadt Berlin, von denen die Ausstellung über das 20. Jahrhundert einen eindrucksvollen, bisweilen auch erschreckenden Eindruck vermittelt, würde hier ein Artefakt an die Seite gestellt, das die stadträumliche Identität stärkt.

Rudolf Schwarz, einer der theoretischen Köpfe unter den Architekten und Stadtplanern der ersten Nachkriegszeit, der vor allem als Kirchenbauer bekannt geworden war, wandte sich vehement gegen die Technokraten unter den modernen Architekten. Er selbst verstand sich als "Baumeister". Was das für ihn bedeutete, fasste er in einem Brief an Mies van der Rohe in dem Satz zusammen: "Der Baumeister gestaltet eine vorliegende Aufgabe, indem er aus der bescheidenen Forderung ihrer niederen Notwendigkeit ihr Geistigstes hervorbringt." In diesem Sinne postulierte er schon 1932: "Das neue Europa... wird kein technisches sein, sondern es wird ein baumeisterliches werden." Hoffen wir, dass auch das Berlin des 21. Jahrhunderts ein "baumeisterliches" wird.