Redner(in): Angela Merkel
Datum: 25.06.2008

Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrte Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/06/2008-06-25-merkel-festrede-prager-fruehling,layoutVariant=Druckansicht.html


lieber Mirek Topolánek,

lieber Robert Fico,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,

liebe Vertreter des Europäischen Parlaments,

sehr verehrte Botschafter,

meine Damen und Herren und

besonders auch Zeugen der Geschichte, wenn ich hier stellvertretend für viele andere beispielsweise Hans-Dietrich Genscher, Ji? í Dienstbier und Egon Bahr nennen darf!

Es passiert selten, dass zwei Regierungschefs anderer Länder die deutsche Bundeskanzlerin auf dem Gendarmenmarkt vor dem Konzerthaus in Empfang nehmen und zwei Botschafter miteinander eine Veranstaltung hier in Berlin organisieren in der Stadt, in der am Ende einer großen historischen Bewegung die Mauer gefallen ist, aber vorher, wie es unser Bundestagspräsident heute schon gesagt hat, schon einige Steine aus dieser Mauer gezogen worden waren.

Den Botschaftern beider Länder möchte ich ein ganz, ganz herzliches Dankeschön dafür sagen, dass sie mit vielen Helfern auch aus der Bundesrepublik Deutschland diesen Nachmittag für uns organisiert haben. Ein herzliches Willkommen auch den Musikern. Das ist ein großartiges Ereignis.

Wir diskutieren in diesem Jahr sehr viel über 1968. Meistens sind damit 40Jahre Studentenbewegung, Studentenrevolte, oder wie auch immer man das nennen will, gemeint. Deshalb finde ich es wichtig, dass auf einen anderen Aspekt des Jahres 1968 ausdrücklich hingewiesen wird.

Das Jahr 1968 ist für die Geschichte unserer drei Länder Deutschland, die heutige Tschechische und die Slowakische Republik gleichermaßen von allergrößter Bedeutung. Dass wir den Prager Frühling vor 40Jahren und seine Niederschlagung heute hier im ungeteilten Berlin, im wiedervereinten Europa feiern können, zeigt, wie Geschichte ihren Weg geht und wie sie häufig ihren guten Weg geht.

Ich war 1968 14Jahre alt. Ich habe mit meinen Eltern und meinen Geschwistern den Urlaub im Riesengebirge, in Pec pod Snežkou verbracht. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Diskussionen mit den Kindern und den Erwachsenen. Meine Eltern entschieden sich, uns Kinder zwei Tage im Riesengebirge zu lassen und nach Prag zu fahren, weil die Bewegungen dort einfach so unglaublich waren der Hauch der Freiheit, das Verteilen von Zeitungen. Mirek Topolánek hat noch einmal auf die kulturelle Dimension der damaligen Bewegung hingewiesen.

Umso ernüchternder und verheerender war es dann für mich als 14-Jährige, als ich den zweiten Teil meiner Ferien bei meiner Großmutter in Ostberlin verbrachte und eines Morgens das Radio einschaltete und von den sowjetischen Truppen die Rede war, die in die Tschechoslowakei einmarschiert waren. Für uns als damalige Ostdeutsche war es ein unglaublich beklemmendes Gefühl, zu hören, dass wieder einmal Deutsche dabei geholfen hatten, dass Soldaten in die Tschechoslowakei einmarschierten. Schon als Kind habe ich mich damals, so kann man es sagen, dafür geschämt. Aber wir waren machtlos. Danach wurde so vieles zerstört, nicht nur in der Tschechoslowakei. So viele Menschen mussten ihr Leben, ihre Lebensplanung ändern. Es war auch eine Eiszeit in der ehemaligen DDR.

Aber es war so, dass in der ehemaligen Tschechoslowakei genauso wie 1956 in Ungarn und 1953 hier in Berlin Arbeiter und Studenten, Land- und Stadtbevölkerung, Alt und Jung gleichermaßen auf tiefgreifende Veränderungen, auf mehr Demokratie und mehr Freiheit gehofft haben. Es gab die Sehnsucht nach dem freien Wort, nach der Möglichkeit, an die eigenen persönlichen Grenzen zu gehen, ohne immer überwacht zu werden und Steine in den Weg geworfen zu bekommen.

Als der 21. August 1968 diese Hoffnungen zerstörte, war das ein Schlag für ganz Mittel- und Osteuropa. Aber heute wissen wir: 1968 war ein Vorbote kommender Umwälzungen, die dann 1980 in Polen mit der Solidarno?? -Bewegung und 1989 mit der friedlichen Revolution in der DDR und der "samtenen" Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei weitergingen.

Der Prager Frühling löste eine Welle aus, deren ganze Kraft sich erst im Rückblick zeigt. Letztlich war der Fall des Eisernen Vorhangs die Fortsetzung und die Erfüllung des Rufes mutiger Menschen nach Selbstbestimmung. Wenn Hans-Dietrich Genscher heute hier ist, erinnern wir uns natürlich auch an das, was in der deutschen Botschaft in Prag geschah, an die Unterstützung und die wunderbaren Ereignisse, als die Menschen endlich ausreisen konnten.

So war der Prager Frühling ein Aufbruchsignal für die Abkehr von totalitären Regimen und für die Hinwendung zu einer offenen Gesellschaft mit freier Meinungsäußerung und freier Presse. Insofern kann man sagen: Der Prager Frühling war der Ausdruck der Sehnsucht der Menschen nach Demokratie. Das hat damals auch Mut gekostet. Das Risiko war ja mit Händen zu greifen. Es waren ja keine naive Menschen, die dachten, nun sei auf einmal die Freiheit ausgebrochen, sondern sie sind auch bewusst Risiken eingegangen. Das nennt man Mut und Kreativität. All das darf nicht vergessen werden.

Im Westen hat man damals gebannt auf Prag und Bratislava, auf Brünn und Kaschau geschaut und den Menschen dort viel Sympathie und spontane Hilfsbereitschaft entgegengebracht. Es hat viele interessante Diskussionen darüber gegeben, was dieser Umbruch denn nun bedeutet und wohin er führen soll, wie die Pläne aussehen sollten und welche Gesellschaften man sich für Mittel- und Osteuropa vorgestellt hat. Zumeist war der Eiserne Vorhang ja eine solche Trennung, die bewirkte, dass man sich gar keine Vorstellungen mehr gemacht, keine Ideen mehr entwickelt hat, wie denn die Gesellschaften aussehen könnten.

Ich vermute, dass 1968 in der Tschechoslowakei sehr schnell die Diskussion darüber begann, wohin es gehen soll so, wie wir es alle 1989 erlebt haben. Vom dritten Weg oder vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz bis hin zu einer freiheitlichen Demokratie, wie wir sie heute haben, waren ja alle Gesellschaftsentwürfe in der Diskussion.

Ich erinnere mich, dass sich solche Bewegungen ob 1968 oder 1980 die Solidarno?? -Bewegung oder 1989, die uns darin einten, gegen ein diktatorisches Regime zu sein, plötzlich in Vielfalt aufspalteten, weil das, was wir uns als zukünftige Gesellschaft vorgestellt haben, in den einzelnen Köpfen doch sehr unterschiedlich ausgeprägt war.

Heute sind wir an einer ganz anderen Stelle. Unsere Länder haben ihren Weg gefunden. Deutschland ist wiedervereint. Die Tschechische und die Slowakische Republik sind geachtete Mitglieder der Europäischen Union ganz selbstverständlich diskutieren wir miteinander und gleichzeitig Mitglieder der NATO.

Die Entwicklung der demokratischen Emanzipation von Menschen in Mittel- und Osteuropa ist heute schon Teil unserer Geschichte, obwohl sie Teil unseres eigenen Lebens ist. Aber der Fall der Berliner Mauer ist fast 20Jahre her und die Ereignisse in Prag liegen 40Jahre zurück, sodass wir viele junge Menschen haben, die von all dem nichts erlebt haben, für die das Geschichte ist und nicht mehr eigenes Erleben. Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass in unseren Ländern auch an diesen Teil der Geschichte gedacht und erinnert wird, dass er lebendig gehalten wird.

Da gibt es das Institut für das Studium totalitärer Regime in Prag, das Institut für nationales Gedenken in Bratislava oder die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Berlin. Sie alle leisten wichtige Arbeit bei der Bewältigung unserer Vergangenheit. Ich muss hinzufügen: Wir haben jetzt fast 20Jahre gebraucht, um uns über ein Gedenkstättenkonzept zu einigen, das auch den Teil der früheren DDR-Diktatur mit einschließt, um zu zeigen, was auf Dauer in die Geschichte eingehen soll.

Die Erinnerung an 1968 hat keineswegs nur eine historische Dimension. Ich glaube, aus solcher Erinnerung erwachsen auch immer Aufgaben für die Gegenwart und für die Zukunft. So, wie damals auf spontane Weise Menschen Risiken eingegangen sind, sich engagiert, sich zusammengeschlossen haben, brauchen wir das natürlich auch heute. Zwar haben wir heute ganz andere Bedingungen, aber wir brauchen Menschen, die sich einmischen, die mitgestalten, die Verantwortung für sich und andere übernehmen. Ich glaube, das ist wieder etwas Gemeinsames, was wir für unsere Länder finden müssen.

40Jahre nach dem Prager Frühling und mehr als 60Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben wir anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge gesagt, dass wir Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union zu unserem Glück vereint sind. Dass wir heute in dieser historischen Situation sind, dass wir zu unserem Glück vereint sind, dass wir friedlich und demokratisch zusammenleben können, ist zum Teil fast ein Wunder und zum anderen eine unglaublich große Verpflichtung.

Man kann das alles schnell wieder zerstören. Deshalb gilt es auch, diesen europäischen Weg voranzubringen. Deshalb gilt es, dass wir miteinander in einem Europa der heutigen 27Mitgliedstaaten, in einem Europa, von dem wir wissen, dass auch der westliche Balkan sich nur friedlich entwickeln kann, wenn er eine europäische Perspektive hat, Lösungen und Wege finden und dafür ab und an eben auch und das gilt für jeden von uns über den eigenen Schatten springen.

Viele vor uns hatten die Kraft dazu. Wenn ich an das denke, was an Risiken damals einzugehen war, um voranzukommen, dann haben wir es heute zumindest nicht schwerer. Es ist heute anders. Wir brauchen eine andere Form von Entschlossenheit, von Mut, von Leidenschaft. Aber ich glaube, unser gemeinsames Europa wird sich auch in Zukunft und auch unter friedlichen Bedingungen nicht ohne Mut und Leidenschaft weiterentwickeln können. Weil wir aber so mutige Vorgänger hatten, sollten wir alle miteinander daraus auch ein Stück Kraft schöpfen, dass sich unser Europa in einer Welt der globalen Vernetzung so weiterentwickeln kann, dass wir, auf unsere Art lebend, darin bestehen können mit der Achtung des einzelnen Menschen, seiner Würde, mit demokratischen Grundprinzipien und mit unseren Wirtschaftsordnungen der Sozialen Marktwirtschaft.

In diesem Sinne ganz herzlichen Dank noch einmal unseren beiden Botschaftern für diese tolle Idee! Dank den Premierministern aus den beiden Ländern und Ihnen allen dafür, dass Sie heute hierher gekommen sind! Ich wünsche noch einen schönen Tag!