Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 30.06.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/35/13035/multi.htm


Die Wirtschafts- , Währungs- und Sozialunion war ein wesentlicher Schritt im deutschen Einigungsprozess. Die Debatte zu deren 10. Jahrestag wird dazu beitragen, diesen Vertrag in seinen politischen und wirtschaftlichen Ausmaßen in unser aller Gedächtnis zu rufen. Aber wir sollten nicht zu lange darüber diskutieren, was vor 10 Jahren richtig oder falsch gemacht wurde.

Ich möchte mit meiner Rede dazu einladen, unseren Blick auf die Gegenwart und die Zukunft zu richten. Wir müssen uns fragen, welche Lehren ziehen wir aus den Ereignissen vor 10 Jahren und den Entwicklungen seither. Wir müssen uns die Frage nach dem politischen, wirtschaftlichen, vor allem aber dem gesellschaftlichen Fazit stellen. Das ist notwendig für den Weg, der noch vor uns liegt.

Ich will dies aus meiner Perspektive hier tun und vier Schlussfolgerungen formulieren:

Die erste Schlussfolgerung lautet:

Gerade in Zeiten des Wandels und des Umbruchs ist eines besonders wichtig: Wir brauchen den Mut zur Veränderung.

Und: Politik muß dabei vorangehen.

Die Themen in der gegenwärtigen politischen Debatte sind die Globalisierung, die Internationalisierung von Politik, Ökonomie und gesellschaftlichem Leben, die demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft. Die Menschen in unserem Land haben uns die politische Verantwortung gegeben, diese Prozesse zu gestalten.

Sie haben uns diese Verantwortung aber nicht übertragen, damit wir auf dem Rücken ihrer Sorgen und Ängste die Lufthoheit über den Stammtischen erobern, damit wir mit Blick auf die nächste Wahl schwierige Entscheidungen verschieben oder oft längst überfällige strukturelle Anpassungen verwässern.

Eine meiner Lehren aus der Wirtschafts- , Währungs- und Sozialunion lautet: Nicht aussitzen, sondern die gesellschaftlichen Veränderungen aktiv gestalten

Wir haben uns mit der Steuerreform, der Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme, der Überwindung der Arbeitslosigkeit politische Aufgaben von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung vorgenommen. Deren Konsequenzen berühren die nächsten Generationen.

Deshalb suchen wir dort, wo es unserer Meinung nach notwendig ist, die intensive politische Diskussion oder auch den Konsens mit den anderen Parteien. Oder wir knüpfen mit den gesellschaftlichen Partnern ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, das etwas so Konkretes wie den Ausbildungskonsens hervorgebracht hat.

Jürgen Strube, der Vorstandsvorsitzende eines der größten Chemieunternehmen der Welt, hat in dieser Woche zu Recht festgestellt, das wir in Deutschland gerade dabei sind, den Begriff Reformstau aus unserem Sprachgebrauch zu tilgen. Zugleich debattieren wir in dieser Woche die politischen Leistungen und Lehren des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses. Er ist ein deutsch-deutsches Gesamtkunstwerk. Dieses Kunstwerk entstand an wesentlichen Punkten auch über politische Schützengräben hinweg. Vielleicht tun Politik, Parteien und Verbände gut daran, beides weiterzuführen. D. h. bei über unsere Zukunft entscheidenden Fragen über Parteigrenzen hinweg den Konsens zu suchen.

Die zweite Schlussfolgerung aus den Ereignissen von vor 10 Jahren besteht für mich in der Notwendigkeit eines Perspektivwechsels im Selbstverständnis der Ostdeutschen, aber auch im gesamtdeutschen Kontext.

Natürlich stellt sich mancher an diesem Jubiläumstag die Frage, ob wir in den Jahren ab 1990 beim Aufbau der Wirtschaft und Infrastruktur, beim Umbau von Verwaltung und Hochschulen, notwendigerweise eng angelehnt an das westdeutsche Rechts- , Wirtschafts- und Sozialsystem, unseren Blick nicht zu sehr auf die Frage gerichtet haben: Wann ist es bei uns wie im Westen? Wann haben wir es erreicht, das so genannte "Westniveau" ?

Richtig ist daran, dass die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse konsensualer Bestandteil einer Gesellschaft ist, die sich als demokratisch und sozial begreift.

Richtig ist aber auch, dass sich ganz Deutschland heute mitten in einem Prozess des Wandels befindet. Wir erleben eine technologische Revolution, die unsere Kommunikation und unser Arbeitsleben grundlegend verändert. Neue Berufe entstehen und lösen andere ab. Das betrifft z. B. die Medien- und Biotechnologie. Hier bieten sich große Chancen. Diese Technologien legen uns aber auch eine große Verantwortung auf.

Die technologische Revolution vollzieht sich heute auf einem weltweiten Markt. Unternehmen müssen mit ihren Produkten und Dienstleistungen weltweit miteinander konkurrieren.

Zugleich aber rückt Deutschland, rücken vor allem die neuen Länder durch die Fortsetzung der europäischen Integration von der Rand- in eine Mittellage. Europa wird sich den ehemaligen Partnern der DDR aus RGW-Zeiten wirtschaftlich und gesellschaftlich öffnen. 100 Millionen neue Käufer und Verkäufern, Geschäftspartner und Wettbewerber sind eine große Chance und eine zugleich eine große Herausforderung.

Ich stimme deshalb dem Bundestagspräsidenten ausdrücklich zu, wenn er in seinem Artikel in der Berliner Zeitung davon spricht, dass wir ein "neues Leitbild" für Ostdeutschland brauchen. Ja, ich bin sogar noch ein wenig optimistischer als er. Ich behaupte: Dieser Wechsel in der Perspektive hat bei vielen im Osten bereits begonnen. Wir sind mitten im Prozeß. Zu den neuen Inhalten, mit denen wir dieses neue Leitbild füllen, gehören für mich: Wissensgesellschaft, Innovation, Aktivieren und Motivation.

Die dritte Schlussfolgerung ist für mich die Erkenntnis, daß die Stärke der Bundesrepublik nicht nur in der Vielfalt, sondern vor allem in der Gemeinsamkeit liegt. Dies gilt nicht nur für Deutschland insgesamt, sondern gerade für die Ostdeutschen.

So wie vor 10 Jahren und in den Jahren danach die gesamtdeutsche Solidarität die Grundvoraussetzung für das Gelingen der deutschen Einheit war, so müssen wir uns heute in Ostdeutschland auf unser gemeinsames Interesse besinnen.

Ostdeutschland bleibt auf absehbare Zeit ein Wirtschaftsraum mit vielen Gemeinsamkeiten. Nicht zuletzt deshalb wird er im europäischen Kontext bis 2006 als Fördergebiet mit der höchsten Förderpräferenz bedacht. Wir müssen uns stärker als bisher die Frage nach einem gemeinschaftlichen Politikansatz für die neuen Bundesländer insgesamt stellen. Das gilt für alle politischen Ebenen.

Gemeinsamkeiten herauszufiltern zwischen dem Bund und den Ländern, aber auch der Länder untereinander halte ich für ein wichtiges politisches Thema. Denn Sachsen befindet sich doch nicht nur in einem regionalen Wettbewerb mit Thüringen oder Brandenburg. Die regionale Konkurrenz hat doch schon längst eine gesamtdeutsche und europäische Dimension erreicht. Ostdeutschland konkurriert heute mit Irland, mit Spanien und mit anderen europäischen Regionen und wird morgen bereits die EU-Osterweiterung einzubeziehen haben. Dies wirft eben die Frage nach einem gemeinschaftlichen Handeln im Osten auf.

Die vierte Schlußfolgerung ist: Eine gesellschaftlich-politische Neuorientierung, ein neues Leitbild, funktionieren nur so gut, wie es gelingt, die Menschen auf einem solchen Wege mitzunehmen und zwar gerade diejenigen, die der Idee einer erfolgreichen europäischen Zukunftsregion Ostdeutschland noch skeptisch gegenüber stehen.

Wir müssen durch unsere Politik um Vertrauen dafür werben, dass die Chancen Ostdeutschlands, zu einer eigenständigen kooperationsfähigen und konkurrenzfähigen Region inmitten Europas zu werden, sehr gut sind. Die Solidarität des Landes bleibt uns erhalten, wenn uns dabei dreierlei gelingt:

Wir Ostdeutsche müssen uns unserer Fähigkeiten bewußt sein, die wir in 40 Jahren DDR und darüber hinaus in 10 Jahren Einheit gewonnen haben. Wir müssen uns insbesondere der Fähigkeit bewußt sein, auf Veränderungen und den vollständigen Paradigmenwechsel zu reagieren. Die Voraussetzungen, die wir Ostdeutschen dafür mitbringen sind

Ergebnisorientiertes, pragmatisches und unideologisches, Denken,

Die Bereitschaft, Neues auszuprobieren, weil wir unsere Fähigkeit dazu bereits erproben mussten.

Schließlich: Wir ziehen dem Einzelkämpfertum die Arbeit als ein kooperatives Miteinander vor. Wir können gut in Netzwerken denken und nutzen flache Hierarchien.

2. Wir müssen unseren Blick auf die europäische Union insgesamt versachlichen. Dabei dürfen wir gerade am heutigen Tage nicht vergessen, dass die Wirtschafts- , Währungs- und Sozialunion ( WSU ) uns nicht nur die ökonomische und soziale Einheit, sondern auch die Integration in die EU gebracht hat und damit ständig wachsende, offene Märkte für immer mehr ostdeutsche Unternehmen. Vorteile haben die neuen Länder auch durch die besonderen Leistungen, die sie durch Einstufung als Ziel-1 -Region erhalten. Die Bundesregierung konnte diese Einstufung bei den Verhandlungen zur AGENDA 2000 nicht nur verlängern, sondern in Bezug auf die Gesamtleistung aus den Strukturfonds sogar erheblich verbessern.

3. Wir Ostdeutschen müssen zu selbstbewußten Mitgliedern einer offenen Gesellschaft werden. Jeder Akt von Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit, den wir in Ostdeutschland erleben und zulassen, verletzt nicht nur die Opfer. Er gefährdet auch den Erfolg unser aller Arbeit für eine sichere Zukunft der neuen Länder im Konzert der europäischen Regionen. Niemand soll sich Hoffnung machen, allein mit dem Ruf nach dem starken Staat oder mit Wegschauen und Totschweigen ließe sich das Problem lösen. Es gibt nur ein erfolgreiches Rezept: das zivilgesellschaftliche Engagement aller. Solidarische Verantwortung für den Nächsten, Mitverantwortung für die Gemeinschaft und Zivilcourage sind Werte, die in den Männern und Frauen des 17. Juni 1953 und der friedlichen Revolution eine gute ostdeutsche Tradition haben.