Redner(in): Michael Naumann
Datum: 01.07.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/41/15241/multi.htm
Anmoderation Rieber: Heute möchte ich Sie auf eine Zeitreise mitnehmen, eine Zeitreise zurück in die 50er-Jahre, und zugleich auf eine Reise ins Amerika der 50er-Jahre, in die Zeit der Pferdeschwänze und Petticoats, in die Zeit von Doris Day und Elvis Presley. Amerika war damals ein Wunderland für Deutsche. Wir glaubten allen Ernstes, dass dort alle Menschen mehr oder weniger reich seien. Damals gab es noch keine Billigflüge nach New York oder San Francisco. Damals reiste man noch mit dem Schiff in die USA. Und das konnten sich nur die wenigsten leisten.
Aber eine ganze Reihe von Jugendlichen aus Deutschland bekamen diese einmalige Chance: Sie durften als Austauschschülerinnen und -schüler nach Amerika reisen. Sie staunten dort über Selbstbedienungsrestaurants und -läden, die es damals in Deutschland noch nicht gab, über das Fernsehen, über Cola-Automaten, über Hamburger und Drive-in-Kinos, über Kühlschränke und Waschmaschinen bei den Gastfamilien. Für uns Deutsche in den 50er-Jahren unerreichbare Schätze. Die neue Welt und wie Prominente sie damals erlebten, das soll heute, drei Tage vor dem amerikanischen Nationalfeiertag, unser Thema sein.
Der "American Fieldservice", also wörtlich übersetzt der "Amerikanische Felddienst", ist während des Ersten Weltkrieges gegründet worden. Damals haben amerikanische Privatleute ihre Autos und sich selbst als Fahrer zur Verfügung gestellt, um in Frankreich an die Front zu fahren, verwundeten alliierten Soldaten zu helfen und sie in Krankenhäuser nach Paris zu bringen. Nach dem Ersten Weltkrieg beschlossen diese Fahrer der Ambulanzautos, etwas zu tun, um Kriege in Zukunft zu verhindern. Diese Amerikaner sagten sich, wenn junge Leute aus aller Welt einander kennen lernen, werden sie später nicht mehr aufeinander schießen. So brachten sie junge Deutsche, aber auch andere junge Europäer, als Studenten nach Amerika. Nun, wir wissen, dass es nur ein frommer Wunsch war, durch diese Begegnungen weitere Kriege verhindern zu können.
Dennoch: Auch nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 wurde die Idee der internationalen Jugendbegegnungen wieder aufgegriffen. Der "American Fieldservice" suchte nun Schülerinnen und Schüler aus Europa und später auch aus der ganzen Welt aus, die ein Jahr lang in amerikanischen Familien leben und amerikanische Highschools besuchen konnten.
Damals, 1959 bis 1960, war der heutige deutsche Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, AFS-Schüler. Er war damals 17 œ Jahre alt und erst in der siebenten Oberschulklasse, aber nicht etwa weil er sitzen geblieben wäre, wie er mir erzählte.
Naumann: Ich war tatsächlich nicht sitzen geblieben, aber durch die Flucht aus dem Osten in den Westen hatte ich ein Schuljahr verloren.
Das heißt, Sie sind in der damaligen DDR geboren. Und wo?
Ich bin in der Kleinstadt Köthen geboren, die jetzt im Bachjahr zumindestens den Bachliebhabern unter Ihren Hörern bekannt sein dürfte. Dort sind die "Brandenburger Konzerte" komponiert worden. Das war der einzige Stolz dieser Stadt. Von dort sind wir, wie man damals sagte,"weggemacht", das heißt unter dramatischen Umständen geflohen. Meine Mutter, eine Kriegerwitwe, war eine sehr tapfere Frau mit vier Kindern. Wir sind damals in Köln gelandet, 1953 war das noch ein einziges Trümmerfeld. Ich bin in Köln-Mülheim in das naturwissenschaftliche Gymnasium gegangen. Das war der Irrtum meines Lebens, denn ich konnte überhaupt nicht rechnen. Ich glaube, inzwischen kann ich es. Ich habe aber festgestellt, dass im Geschäftsleben, das ich ja dann intensiv kennen gelernt habe, Sinuskurven und Logarithmen gottlob nicht unbedingt benötigt werden. Dies also allen Schülern zum Trost, die sich damit immer noch herumschlagen.
Also, 17 œ Jahre, Kölner Schüler, und Sie hörten damals von der Möglichkeit, als "American Fieldservice" -Schüler ein Austauschjahr in den USA zu machen. Hatte Ihr Lehrer Ihnen das gesagt, oder haben Sie das selber herausgefunden?
Die Situation sehe ich noch genau vor Augen. Ein kleiner Artikel, den mir meine Mutter aus dem Lokalteil des "Kölner Stadtanzeigers" gab, hatte die Überschrift: "Wer will nach Amerika?". Dann fragte sie mich zu meiner Überraschung: "Hast Du Lust?", und ich habe gesagt: "Na klar". Dann musste man sich bewerben, und es war wohl eine ziemlich große Schar von Bewerbern, von denen am Ende, glaube ich, vier oder fünf Kölner Jugendliche übrig blieben. Und dann ging es los: Mit dem Schiff; es war ein Boot der "Holland-America" -Linie, mit dem schönen Namen "SS Waterman", das durch Rost und eine anständige Lackierung desselben zusammengehalten wurde. Auf dem Schiff befanden sich 650 Jugendliche im Alter von 17 bis 18 Jahren. Alle verliebten sich zum ersten Mal in ihrem Leben in eine jeweils andere Nationalität.
In wen haben Sie sich verliebt?
In zwei Mädchen: Ornella Brega aus Ancona war meine erste Liebe überhaupt. Das Schiff brauchte neun Tage von Rotterdam nach New York; wir wurden eigentlich von allen Bananenfrachtern der Welt überholt. Ornella war eine schöne Blondine aus Ancona, und irgendwann einmal erlaubte sie mir auch, ihr meinen ersten Kuss zu geben - auf die Stirn."You may kiss me here." Dann zeigte sie auf ihre Stirn. Das andere Mädchen war die wunderschöne Ingla, mit der ich heute noch befreundet bin.
Gut, Sie kamen in New York an. Wir sind damals von der AFS-Zentrale abgeholt worden und haben etwas gelernt über die Entstehung und Funktion des "American Field Service". War das bei Ihnen auch so?
Wir wurden sofort in "Greyhound" -Busse gesteckt. Die ganze Truppe, die in den Mittelwesten wollte, wie ich zum Beispiel, fuhr in einen kleinen Ort namens Mexico, Missouri. Der Ort hieß Mexico, weil sich dort damals der Trail, die Strecke der Pioniere, die Richtung Südwesten, also Richtung Mexiko zogen, von dem Trail trennte, der in den Westen und Nordwesten ging. Diese Region war um 1890 noch der "Wilde Westen". Der Lokalchef der Zeitung dort war 90 Jahre alt. Sein Bruder war noch in einem Gefecht mit Jesse James' Bande ums Leben gekommen. Er hatte darum seine kleine Redaktionsstube gepflastert mit Aufnahmen der traurigen Überreste der Jesse-James-Gang, wie sie alle von furchtbaren Geschossen durchlöchert an einer Holzwand lehnten. Das war gewissermaßen sein später Triumph. Andere Leute sagten, er hätte damals ja eigentlich den Todesschützen zum Duell fordern müssen. Aber er sei sehr froh darüber gewesen, dass sein Bruder nun aus dem Weg geräumt war, denn so gehörte ihm die Zeitung alleine. Ich halte das für eine übertriebene Behauptung, aber der "Wilde Westen" war durchaus noch in der Stadt.
Und Sie waren mit 17 œ Jahren, frisch aus Deutschland, mitten drin im "Wilden Westen". Wie haben Sie sich denn am Anfang in der Highschool gefühlt?
Amerika war dort - mitten im Land - buchstäblich Lichtjahre entfernt vom Rest der Welt. Es gab noch nicht CNN. Es gab drei Schwarz-Weiß-Fernsehprogramme: CBS, CBC und NBC. Das Ausland kam damals so wenig vor wie heute, aber man war noch ganz neugierig. Insofern war das für einen Jungen, der gerade der Pubertät entschlüpft ist und der im Übrigen auf einem reinen Jungen-Gymnasium gelernt hatte, ein sehr verblüffendes Erlebnis, in einer "Co-Educational-School" zu landen, also in einer integrierten Jungen- und Mädchenschule, in der auch gerade die schwarzen Schüler zum ersten Mal integriert waren.
Das Interessante ist, dass das alles ja erst vierzehn Jahre nach Kriegsende war. In dieser Zeit habe ich plötzlich sehr viel über mich selbst gelernt. Ich wohnte bei einer Familie mit vier Mädchen und einem Jungen. Eines Nachts wachte ich auf. Draußen jaulten die Sirenen. Das waren haargenau die Sirenen, die ich während der Bombenangriffe auf meine Heimatstadt Köthen gehört hatte. Ich habe wie ein Pawlow'scher Hund reagiert und bin aus dem Bett runter in den Keller gestolpert, wie ich das damals als Dreijähriger erlebt hatte. Es war einfach fest einprogrammiert in mein nächtliches Verhalten. Was war los? Es drohte ein Tornado. Ich habe instinktiv das Richtige gemacht, denn unten im Keller traf mich dann der Rest meiner Familie wieder. Der Tornado rollte haarscharf an der Stadt vorbei und hatte großes Unheil angerichtet.
Wir können jetzt unmöglich über das ganze Jahr sprechen. Ich will nur ganz kurz erwähnen, dass Sie dann auch in der Zeitungsredaktion der Highschool waren, wie ich übrigens auch.
Ich wollte immer Journalist werden, und deshalb bin ich ja auch in diese Familie gekommen. Die Mutter war Redakteurin einer kleinen Tageszeitung. Übrigens ist der Chefredakteur dieser Zeitung, ein Jahr nachdem ich weggegangen bin, Chef der "Herald Tribune" geworden. Eine Bilderbuchkarriere!
Sie haben ja dann auch Karriere gemacht.
Ich wollte damit nur sagen, dass diese Provinzzeitung hervorragend war. Dort habe ich meine ersten Artikel geschrieben. Ich wurde dann in der Tat Journalist, was ich auch 14 Jahre lang geblieben bin.
Viel später sind Sie als Verleger nach Amerika gegangen. Hat es bei Ihrer Entscheidung, dort zu arbeiten, eine Rolle gespielt, dass Sie damals als Jugendlicher in Amerika gewesen sind?
Aber natürlich. Erstens hatte ich dort gut Englisch gelernt. Ich habe nur einmal im Jahr zu Weihnachten mit meiner Mutter am Telefon Deutsch gesprochen. Das war gewissermaßen ein Crashkurs über ein Jahr. Zum Zweiten habe ich die USA lieben gelernt - nicht nur die Landschaft, sondern auch die Offenheit, die Freundlichkeit und die Toleranz. Ich habe auch gelernt zu unterscheiden zwischen den Geschäftsinteressen dieses Landes und seiner Bewohner und deren inhärenter und schier unüberwindlicher Liebenswürdigkeit, die es in Europa in dieser Form einfach nicht gibt unter den "normalen" Bürgern.
Herr Naumann, haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Gastfamilie von damals?
Ja, natürlich. Ich telefoniere oft mit ihnen. Wir haben auch schon einmal unsere Kinder ausgetauscht und sind eine richtige Familie geworden.
Wie erklären Sie sich denn eigentlich den Anti-Amerikanismus der Deutschen oder überhaupt der Europäer? Ich bin immer wieder verblüfft, dass Menschen, die nie in Amerika waren, immer wieder schimpfen und sagen, dass die Amerikaner schlimme Leute seien.
Es gibt da historische Wurzeln. Ein Freund von mir hat einmal gesagt: "Es gibt zwei Inseln, die ich in meinem Leben niemals betreten werde: Sylt und Amerika." Hinter dieser witzigen Bemerkung steckte natürlich ein enormer Snobismus. Angesichts zweier Weltkriege und der militärischen Überlegenheit Amerikas, die ursächlich mit unseren Kriegsniederlagen zusammenhängt, hat sich ein Ressentiment, ein kompensatorisches Gefühl, aufgebaut: Sie mögen zwar bessere Ingenieure sein; sie mögen zwar bessere Flugzeuge bauen; sie mögen sogar in der Mehrzahl sein, aber kulturell sind sie Banausen.
Das ist natürlich ein großer Irrtum. Jeder, der große klassische Musik hören will, weiß, dass die führenden Orchester nicht erst seit der Emigration deutscher Musiker nach Amerika existieren, sondern dass dieses Land auf fast allen Gebieten der Kultur, von der Wissenschaft über die Kunst bis hin zum Jazz und zur Unterhaltungsmusik, eine Kreativität sondergleichen hat, die möglicherweise bei einigen zu Ressentiments führt. Zu viel des Guten. Das ist der eine Grund.
Der andere Grund liegt in einer tieferen historischen Dimension: Er führt zu dem Sachverhalt, dass gerade im Gefolge der fehlgeschlagenen bürgerlichen Revolution von 1848 die intellektuelle bürgerliche Elite, die das geistige Klima Deutschlands geprägt hat, nach Amerika emigriert ist. Wir beklagen ja immer völlig zu Recht, aber mit einem merkwürdigen Unterton, dass Deutschland sich so Schreckliches zugefügt habe durch die Ermordung und Vertreibung der intellektuellen Eliten unter Deutschlands Juden. Dabei ist das in der Geschichte des Holocausts das geringste Problem. Das andere ist, dass eben Millionen umgebracht worden sind. Aber gleichwohl: Es gab schon 1848 so einen Aderlass. Und vielleicht hat sich daraus ein Ressentiment und eine Überheblichkeit gegenüber Amerika entwickelt.
Außerdem ist Europa der Kontinent einer scheinbar geschichtsphilosophisch begründeten Ideologie des Anti-Kapitalismus, und das kapitalistische Land par excellence war Amerika. In Deutschland wollten wir ja eigentlich immer beides haben: Wir wollten einerseits eine kapitalistische Wirtschaft aufbauen, gleichzeitig aber diese einem quasi völkisch-romantischen Selbstverständnis entsprungene Nation der Dichter und Denker sein, die Karl Kraus dann bereits in der Zeit des Ersten Weltkrieges satirisch als das Land der Richter und Henker umdefiniert hat.