Redner(in): k.A.
Datum: 19.09.2008

Untertitel: Perspektiven für die Europäische Migrationspolitik
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/09/2008-09-19-boehmer-kongress-boell-stiftung,layoutVariant=Druckansicht.html


I Migrationspolitik als europäische Aufgabe in der globalisierten Welt

Mobilität und Flexibilität der Menschen haben in den letzten Jahren zugenommen und werden weiter zunehmen. In Europa leben rund 64 Mio. Migranten ( Schätzung UN ) . Dies entspricht der Bevölkerung Spaniens, Portugals und Griechenlands zusammen.

Migration ist kein neues Phänomen. Neu ist ihr Ausmaß. Die größten Migrationsbewegungen finden innerhalb einzelner Regionen und Kontinente statt. Aber die "Interkontinental-Routen" kennen im Grunde nur eine Richtung: Aus armen Gegenden mit hohem Bevölkerungswachstum in Wohlstandsregionen mit Bevölkerungsschwund. Wer die Grenze zur Europäischen Union überschreitet, gelangt in einen Binnenmarkt weitgehend ohne Grenzkontrollen. In diesem Binnenmarkt kann die Einwanderungspolitik eines Mitgliedslandes immer auch die der anderen Mitgliedsländer betreffen. Migrationspolitik ist auch deshalb zu einer europäischen Aufgabe geworden.

Dem hat die europäische Politik Rechnung getragen. Lange stand auf EU-Ebene die Migration innerhalb der EU im Zentrum, seit etwa fünfzehn Jahren rückt die Migration in die EU in den Fokus, aber auch die Mobilität von Drittstaatsangehörigen, die schon länger in der EU leben. Eine rein nationale Migrationspolitik kann es deshalb nicht mehr geben.

Umgekehrt würde eine rein europäische Migrationspolitik den unterschiedlichen Einwanderungstraditionen und der jeweiligen Arbeitsmarktsituation nicht gerecht. Dies zu betonen, heißt nicht eifersüchtig über die nationale Souveränität zu wachen. Es heißt, die zum Teil sehr unterschiedlichen Probleme möglichst effektiv lösen zu wollen. Das gelingt nur, wenn nationale und europäische Politik zusammenwirken und zugleich ihre je eigene Handlungsfähigkeit nicht einbüßen.

Der Europäische Rat hat im Dezember 2005 einen "Gesamtansatz zur Migrationspolitik" entwickelt, der einen konkreten Aktionsplan enthält. Die darin enthaltenen Maßnahmen werden jetzt von der EU und ihren Mitgliedstaaten Zug um Zug umgesetzt werden. Während des Europäischen Rates im Dezember 2007 haben die Staats- und Regierungschefs gemeinsam eine Zwischenbilanz gezogen und eine Fortschreibung beschlossen. Das begrüße ich.

Was sind die Ziele einer Migrationspolitik, die von der EU und den einzelnen Ländern gemeinsam gestaltet wird?

Ziel muss es erstens sein, die humanitäre Tradition Europas fortzuschreiben. Zweitens müssen wir die illegale Migration bekämpfen und die legale Migration steuern. Wir müssen die Potenziale der Arbeitsmigration für Entwicklung und Wohlstand in Europa besser nutzen. Drittes Ziel muss die Verbindung der Migrationspolitik mit der Integrationspolitik sein. Für Deutschland muss ich feststellen, dass wir die Integration zu lange vernachlässigt haben. Diese Verbindung von Migration und Integration ist zwingend notwendig, um auf Dauer ein friedliches Zusammenleben der Menschen unterschiedlichster Herkunft und eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.

II Erstens. Die humanitäre Tradition Europas fortschreiben.

Menschen in existenzieller Not müssen auf unsere Hilfe zählen können. Dabei kommt es nicht nur auf die vorhandenen klaren Definitionen des Flüchtlingsstatus an, sondern auf eine Angleichung der Praxis. Um zu einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem zu kommen, wie es das Haager Programm von 2004 vorsieht, muss ein höheres Maß an Harmonisierung erreicht werden, damit beispielsweise der Flüchtlingsstatus einheitlich zuerkannt wird.

Außerdem müssen die nationalen Asylbehörden besser zusammenarbeiten. Es kann nicht sein, dass Verfolgte mit gleichen Schicksalen in einem Mitgliedsland als Flüchtlinge anerkannt werden und in einem anderen nicht, wie das gegenwärtig bei irakischen Flüchtlingen der Fall ist. Hier wird die Rechtsprechung bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Klarheit bei der Auslegung der sog. Qualifikationsrichtlinie bzw. des Flüchtlingsbegriffs sorgen müssen.

Zu überlegen ist, ob wir zusätzlich ein europäisches Unterstützungsbüro brauchen, das die Zusammenarbeit der nationale Asylbehörden erleichtert. Bei seiner Konzeption muss aber das Prinzip der Subsidiarität ebenso berücksichtigt werden wie das Gebot der Vermeidung von Bürokratie.

Ein weiterer Grundsatz muss sein, dass kein Mitgliedsland mit seinen Flüchtlingsproblemen alleine gelassen werden darf. Es ist unvermeidlich, dass die Mitgliedstaaten unterschiedlich hohe Asylbewerberzahlen haben. Gerade deshalb kommt es auf die Solidarität unter den Mitgliedstaaten an. Die Frage, wie viele Flüchtlinge ein Land aufgenommen hat und integrieren kann, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden.

Institutioneller Ausdruck der Solidarität ist der Europäische Flüchtlingsfonds. Er muss weiterentwickelt werden; andere Formen finanzieller Hilfe müssen genutzt werden, um einzelne Mitgliedstaaten gezielt zu unterstützen.

Derzeit sind wir mit dem Drama irakischer Flüchtlinge konfrontiert. Viele von ihnen, darunter viele Christen, sitzen in Syrien und Jordanien in überfüllten Aufnahmelagern fest. Sie können weder auf legalem Wege nach Europa gelangen, noch in ihre Heimat zurückkehren.

In wenigen Tagen wird sich der Rat der Justiz- und Innenminister damit befassen. Zunächst wird eine Kommission die Lage der Flüchtlinge und eventuelle Rückkehrmöglichkeiten in den Irak untersuchen und bewerten. Voraussichtlich im November wird der Rat dann über die Flüchtlingsaufnahme durch die Mitgliedstaaten entscheiden. Wie eine solche Entscheidung aussehen wird, ist zur Zeit sehr schwer zu prognostizieren. Zugleich muss Deutschland gut vorbereitet sein, wenn es nicht zu einer europäischen Lösung kommen sollte. Ich setze mich seit Monaten für die Aufnahme irakischer Flüchtlinge in Deutschland ein. Eine schnelle Lösung ist geboten.

II Zweitens. Illegale Migration bekämpfen, legale Migration steuern.

Migranten können ganz unterschiedlichen Gruppen zugeordnet werden. Sie kommen als Wirtschaftsmigranten, politisch Verfolgte bzw. Flüchtlinge, Opfer von Menschenhandel oder aber als Hochqualifizierte. Dies erfordert differenzierte Lösungen.

Wir müssen an mehreren Punkten gleichzeitig ansetzen. Illegale Migration bringt Menschen - nicht selten unter Gefahr für Leib und Leben - in schwierige, oft auswegslose Situationen und Abhängigkeiten. Wir tragen die Verantwortung dafür, den Schlepperorganisationen und Menschenhändlern, die den Menschen skrupellose Versprechungen machen und ihren Tod in Kauf nehmen, das Handwerk zu legen.

Verbesserte Grenzkontrollen alleine können nicht die Lösung sein. Wir brauchen einen kohärenten Ansatz bei der Bekämpfung von Armut und Fluchtursachen in der Welt, wie ihn auch das Policy Paper für diese Konferenz einfordert. Das ist eine europäische Aufgabe.

Wir müssen Migrationsfragen in der Entwicklungspolitik stärker berücksichtigen, um Armut und Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu verringern. Wir brauchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten, um unfreiwilliger oder illegaler Migration bereits in den Herkunftsländern erfolgreicher zu begegnen.

Das kann die Europäische Union besser leisten als jedes europäische Land für sich allein.

Wir brauchen außerdem eine maßgeschneiderte Rückkehrförderung. Zugleich müssen wir sicherstellen, dass Kinder von Illegalen nicht für das Verhalten ihrer Eltern bestraft werden: Ob in Deutschland oder in einem anderen Land der EU: Kinder müssen die Schule besuchen und medizinisch gut versorgt werden können.

Skeptisch bin ich allerdings, ob das gelingen kann, was wir derzeit unter dem Stichwort "zirkuläre Migration" diskutieren. Wir haben in Deutschland lange von "Gastarbeitern" gesprochen und viele von ihnen dachten selbst lange daran, wieder zurückzugehen. Viele sind aber geblieben. Wir müssen uns den Vorschlag "zirkuläre Migration" deshalb sehr gut überlegen und mit klaren Bedingungen verbinden.

Dazu gehört zwingend, dass der Drittstaat seine Bereitschaft zur Kooperation bei der Rückübernahme unter Beweis gestellt hat undbereit ist, den Rückkehrer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie ist es um den Erwerb oder die Verbesserung der beruflichen Qualifikationen bestellt? Was hat also der einzelne, was das Herkunftsland von zirkulärer Migration? Und wie ist es um die Familien dieser Arbeitnehmer bestellt?

Zu bedenken ist ebenso, was geschieht, wenn ein Arbeitnehmer in seine Heimat zurückkehrt und in einem EU-Land Ansprüche, beispielsweise in der Rentenversicherung, erworben hat.

Ob nun die EU die zirkuläre Migration organisieren soll, oder nicht doch einzelne EU-Länder, die sich gegebenenfalls zusammentun, ist für mich gleichfalls eine offene Frage.

Nicht offen, sondern klar beantwortet ist die Frage bei wem die Zuständigkeit liegen sollte im Fall der Arbeitsmigration. Für die Bundesregierung gilt der Grundsatz, dass die Steuerung der Arbeitsmärkte auf nationaler Ebene bleiben muss.

Denn die Situation ist in den einzelnen Mitgliedsländern doch sehr unterschiedlich.

Die italienische Wirtschaft braucht primär einfache Arbeitskräfte, Deutschland hingegen braucht ganz besonders Hochqualifizierte. Das frühere Auswanderungsland Spanien wurde zum Einwanderungsland, damit die Wirtschaft wachsen kann. Das Einwanderungsland Frankreich kämpft hingegen mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit.

Deshalb habe ich auch Zweifel, ob eine EU-Richtlinie zu Hochqualifizierten für Deutschland und andere Mitgliedstaaten mit weit entwickeltem Migrationsrecht notwendig ist, so wie ich auch eine EU-Richtlinie zu Saisonarbeitnehmern nicht für zwingend halte.

Für die Entscheidung, wohin ein Hochqualifizierter geht, dürften die rechtlichen Regelungen einzelner Länder nicht ausschlaggebend sein.

Da spielen ganz andere Fragen eine Rolle, nämlich:

Wie gut sind die Verdienstmöglichkeiten? Wie sind die Karrierechancen?

Und mit Blick auf die Familienangehörigen:

Wie gut und integrierend ist die Bildungsangebote für Kinder? Werden die im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse anerkannt, so dass auch der Ehepartner einen attraktiven Arbeitsplatz finden kann?

Wenn verschiedene europäische Länder den Zuzug von Hochqualifizierten unterschiedlich regeln, trägt das den unterschiedlichen Gegebenheiten Rechnung. In Deutschland ist dazu gerade ein neuer Gesetzentwurf im Kabinett behandelt worden. Denn wir wissen alle: Deutschland muss speziell für Hochqualifizierte, aber auch für Fachkräfte attraktiver werden. Durch bessere Ausbildung und Nachqualifizierung allein können wir den Bedarf nicht decken. Klar ist für mich auch, dass der gegenwärtige Gesetzentwurf nur ein Zwischenschritt sein kann.

Das Policy Paper zu dieser Konferenz stellt fest, zu einer "intensiveren europäischen Zusammenarbeit" gebe es "keine Alternative". Das stimmt für viele Bereiche, aber es verdeckt den Blick auf die bestehenden nationalen Handlungsspielräume und -schwerpunkte. Zuwanderungsprobleme können nicht grundsätzlich besser auf der Ebene der EU gelöst werden.

Außerdem müssen wir erst einmal Erfahrungen mit dem neuen EU-Recht sammeln: Deutschland hat im vergangenen Jahr 11 EU-Richtlinien mit Mindestnormen in nationales Recht transformiert, andere Länder sind noch nicht so weit. Eine Evaluierung ist noch nicht möglich. Deshalb sollte genau überlegt werden, inwieweit erneut Migrationsrecht gesetzt werden soll.

IV Drittens. Die Verbindung von Migrationspolitik und Integrationspolitik

Die Integrationspolitik ist eine nationale Domäne und sie bleibt es auch dann, wenn der Vertrag von Lissabon oder Teile davon in Kraft treten sollten.

Das ändert aber nichts daran, dass wir die Migrationspolitik mit der Integrationspolitik verbinden müssen. Die längere Zeit in der bundesdeutschen Geschichte der Zuwanderung war dies nicht im erforderlichen Maße der Fall. Wir haben in Deutschland lange um die Regelung und Begrenzung der Zuwanderung gestritten und dabei zu wenig die Integration derer befördert, die bereits hier leben und bleiben wollen.

Fast 20 % aller in Deutschland lebenden Menschen stammen aus einer Zuwandererfamilie. Viele sind gut integriert und tragen zum Wohlstand und zur kulturellen Vielfalt in Deutschland bei. Aber viele sprechen schlecht Deutsch, haben nicht die gleichen Bildungschancen und bleiben ohne Ausbildung:

72 % der 15 - 64 Jahre alten Menschen türkischer Herkunft sind ohne Berufsabschluß, bei griechischer Herkunft sind es 61 % , bei italienischer 56 % .

Die Integration durch Sprache und Bildung ist deshalb eine Schlüsselaufgabe der deutschen Politik, zumal der Anteil der Menschen aus Zuwandererfamilien auch ohne nennenswerte Zuwanderung steigt.

Nicht nur in Deutschland ist Integration zur Schlüsselaufgabe geworden. Zahlreiche europäische Staaten haben in den letzten Jahren ihre Anstrengungen verstärkt oder alte Instrumente und Prämissen auf den Prüfstand gestellt. In dieser integrationspolitischen Aufbruchphase können und müssen wir viel voneinander lernen. Zwischenstaatliche Kooperationen und Ideen-Transfers zeichnen sich ab. Mit Frankreich stehen wir in intensivem Austausch, andere Länder sind gefolgt.

So hat die deutsche Charta der Vielfalt, die ich gemeinsam mit der Wirtschaft initiiert habe, ihr Vorbild in Frankreich. Immer mehr europäische Länder übernehmen diese Form der Selbstverpflichtung auf eine Kultur der Vielfalt in Unternehmen, aber auch im öffentlichen Dienst. Auch die Böll-Stiftung unterstützt diese Idee und hat ein eigenes Internet-Portal dazu aufgebaut.

Im November werden sich erneut alle europäischen Minister treffen, die für Integrationsfragen zuständig sind. Ein gemeinsames Papier befindet sich noch in der Abstimmung. So viel kann ich aber schon heute sagen: Wir werden uns darin auf gemeinsame Leitlinien einigen. Sie werden das wechselseitige Verständnis befördern und dem europäischen Austausch über Integrationsfragen einen Rahmen geben.

Wir werden uns darauf verständigen,

Migranten die gemeinsamen europäischen Werte nahezubringen. die jeweilige Landessprache von Anfang an zu vermitteln. Insbesondere die Migrantinnen zu stärken und damit die Gleichberechtigung zu befördernden interkulturellen Dialog zu vertiefen undnach gemeinsamen Wegen suchen, um erfolgreiche Integration messbar zu machen.

Deutschland möchte hier einen Schwerpunkt setzen. Wir haben bereits ein Indikatorenset entwickelt und gehen damit in die Erprobungsphase.

Der europäische Integrationsfonds unterstützt seit vergangenem Jahr die

Fortentwicklung der Integrationspolitik in den Mitgliedsstaaten. Er wird künftig auch der zwischenstaatlichen Kooperation in diesem Bereich dienlich sein.

V. Schluß

Wir alle sehnen uns zuweilen nach kohärenten, widerspruchsfreien Lösungen. Diese Sehnsucht klingt auch im Policy Paper zu dieser Konferenz an.

Aber liegt nicht gerade ein Vorteil der EU darin, dass die Einheit in der Vielfalt gelingt, und sich dies auch in der Vielfalt der politischen Lösungsansätze ausdrückt? Wenn wir künftig mehr als bislang vom anderen wissen und bereit sind, gute Beispiele zu übertragen, ist viel gewonnen.

Dabei müssen wir den Blick zugleich über Europa hinaus richten. Denn die attraktivsten Länder für Hochqualifizierte liegen ebenso außerhalb der europäischen Grenzen wie die größten Wanderungsbewegungen. Diesen Herausforderungen werden wir uns in Europa noch stärker stellen müssen als bisher.

Vielen Dank.