Redner(in): Angela Merkel
Datum: 02.10.2008

Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Lothar de Maizière, liebe Ludmilla Werbitzkaja, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/10/2008-10-02-merkel-petersburger-dialog,layoutVariant=Druckansicht.html


gerne haben wir heute wieder den Petersburger Dialog und den Besuch bei Ihnen mit den Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen verbunden. Das hat sich, glaube ich, bewährt. Ich bin sehr dankbar, dass Dmitrij Medwedew das genauso handhabt wie sein Vorgänger. Ich glaube, damit wird auch die Verbindung von zivilgesellschaftlichem Engagement und politischer Kooperation sehr deutlich. Die Veranstaltung findet heute am Ort der Gründung statt, wie man auch dem Namen "Petersburger Dialog" entnehmen kann. Das verschafft mir die Möglichkeit, nach der deutschen Wiedervereinigung zum ersten Mal wieder nach Sankt Petersburg zu kommen. Das finde ich ausgesprochen schön. Ich hoffe, dass ich heute, spätestens am Abend auf der Newa, noch etwas von dieser wunderschönen Stadt sehen werde. Wir führen diesen Dialog jetzt seit sieben Jahren. Er hat sich bewährt das ist von allen gesagt worden. Er wird von Ihnen allen mit Leben erfüllt. Das stellt die deutsch-russische Kooperation und Zusammenarbeit auf eine breite Grundlage, die weit in die Gesellschaften hineinreicht. Ich glaube, es ist richtig und wichtig, dass man auch über kritische Themen sprechen kann. Ich muss ehrlich sagen: Wenn das nach sieben Jahren nicht gelingen würde, dann müsste es sehr langweilig sein. Insofern sollten Sie das durchaus fortsetzen. Das tun wir in der politischen Welt auch. Auch bei unserer jetzigen Begegnung wird das unumgänglich sein. Das Thema ist weitsichtig gewählt. Lothar de Maizière hat gesagt, dass das in Passau noch nicht absehbar war, aber die Frage, wie man den Herausforderungen in einer globalisierten Welt begegnen kann, beschäftigt uns in diesen Tagen in vielfältiger Weise. Der russische Präsident hat eben gesagt, die gegenseitige Abhängigkeit, die Interdependenz sei in allen Bereichen vorhanden. Nur nicht-offene Gesellschaften können versuchen, sich von diesen Interdependenzen abzukoppeln nach meiner festen Überzeugung nicht zum Wohle der jeweiligen Gesellschaften. Wir alle führen darüber politische Diskussionen bei uns zu Hause auch die Diskussion darüber, ob man nicht die gefallene Berliner Mauer nun um ganz Deutschland setzen und so tun könnte, als ob man bestimmte Dinge alleine machen könne. Man kann es in dieser Welt nicht. Deshalb sind die Probleme niemals von einem alleine zu lösen, sondern sie müssen kooperativ gelöst werden. Die Finanzkrise führt uns das noch einmal vor Augen. Ich sage, wir haben noch nicht die Architektur der Welt in Form von internationaler Kooperation, wie wir sie brauchen, um Antworten auf die Fragen zu finden, die sich uns stellen von den sicherheitspolitischen Fragen, sprich: Stärkung der UNO und des UN-Sicherheitsrates, bis zu finanzpolitischen Fragen, sprich: neue Rolle des IWF und Finanzmarktregeln. Diese Architektur müssen wir finden; wir brauchen sie. Davon bin ich zutiefst überzeugt übrigens nicht erst seit der momentanen Finanzmarktkrise. Deutschland wird sich immer für einen multilateralen Ansatz aussprechen. Es geht jetzt bei der Finanzmarktkrise um das aktuelle Management. Dieses Management muss auf der einen Seite darauf hinauslaufen, dass wir Sicherheit haben und nicht Unsicherheit vergrößern. Auf der anderen Seite dürfen wir aber auch nicht von privater Freiheit in völlige Staatlichkeit verfallen. Wir müssen hier vielmehr vernünftige Mechanismen finden, um die Verantwortlichkeiten, soweit das möglich ist, nicht völlig zu verwischen. Das ist im Augenblick eine sehr schwierige Gratwanderung, weil wir natürlich den Menschen in unseren Ländern und auch unserer Wirtschaft ein Stück Sicherheit garantieren wollen. Es zeigt sich, dass es gut ist, dass es hierfür staatliche Institutionen gibt und dass hier auch Haltepunkte gefunden werden können. Die Lehren aus der Krise werden wir mit sehr viel Nachdruck einfordern, denn wir können uns nicht alle paar Jahre solche Krisen leisten. Es liegt seit längerer Zeit auf der Hand, dass man mehr Transparenz und mehr Risikoabsicherung braucht. Für jeden Bürger im Alltagsleben und für die Realwirtschaft ist es ganz selbstverständlich, dass man Transparenz hat, dass man Standards hat und dass man Kontrollen hat. Das muss sich jetzt auch in der Welt der Finanzmärkte bewähren. Es zeigt sich also: Das, was wir in Deutschland Soziale Marktwirtschaft nennen, ist immer eine gestaltete Marktwirtschaft gewesen. Es gibt keinen Marktbereich, der sich aus dieser Gestaltung völlig herausnehmen kann. Ein zweites Thema, das uns in diesem Sommer beschäftigt hat, ist natürlich die Krise im Kaukasus. Wir haben uns darüber ausgetauscht. Wir sind darüber nicht einer Meinung, aber wir halten die Reaktion Russlands in diesem Konflikt für nicht angemessen. Wir haben gesagt: Wir müssen jetzt wieder Vertrauen aufbauen. Dazu war die europäische Initiative des Sechs-Punkte-Plans eine ganz wichtige Initiative. Schritt für Schritt wird das jetzt auch umgesetzt. Wir müssen dann noch miteinander klären, wie die Rolle der OSZE-Beobachter weiterentwickelt werden kann. Darüber werden wir heute sprechen. Ich finde es gut, dass sie das hier bei diesem Dialog auch getan haben. Wir haben aber noch eine ganze Reihe von weiteren Themen, bei denen ähnliche Konflikte auftreten können. Wir sollten daher präventiv arbeiten. Auch das wird heute eine Rolle spielen ob es nun um Transnistrien in Moldawien geht, ob es um den Kosovo geht oder ob es um Bosnien-Herzegowina geht. Ich glaube, hinter mancher dieser Differenzen liegt noch etwas Tiefergehendes, das wir miteinander besprechen müssen das ist auch meine Bitte an den Petersburger Dialog: Das ist die Sicht auf die Geschichte nach 1990 bzw. den Zeitraum von Ende der 90er Jahre bis heute. Ich möchte ausdrücklich noch einmal Russland und damit auch Michail Gorbatschow, der jetzt nicht mehr hier sein kann, für Russlands Rolle in der Phase der deutschen Wiedervereinigung danken. Das war ein großartiges und sehr mutiges Vorgehen, das im Übrigen nur möglich war, weil es trotz der langen Zeit des Kalten Krieges auch zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Michail Gorbatschow eine Vertrauensbasis gegeben hat. Daraus ist auch die Möglichkeit erwachsen, völliges Neuland zu betreten. Wir müssen jetzt aber darauf achten, dass wir aus dieser Erfahrung der zum Schluss doch gemeinsam geschafften Lösung nicht unversehens zu einem ganz unterschiedlichen Bild dessen, was sich seitdem getan hat, kommen. Darüber muss man reden: Was hat das eigentlich bedeutet? Natürlich wird es nie wieder einen Kalten Krieg geben. Aber die Fragen, was es für Russland bedeutet, dass die Sowjetunion zerfallen ist, und was es für uns bedeutet, dass wir und auch die mittel- und osteuropäischen Länder heute zu Bündnissen gehören, die vielleicht in Russland als Bündnisse der Zeit des Kalten Krieges angesehen werden, müssen auf den Tisch. Denn wenn sie unter dem Tisch bleiben, besteht die Gefahr, dass sich jede Gesellschaft ihre eigene Meinung darüber bildet und dass daraus dann Friktionen entstehen, die ich nicht möchte. Deshalb glaube ich, dass es sich lohnt, über das darunterliegende Problem weiter zu sprechen: Was tut eigentlich der Westen, was ist die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika, wie positioniert sich Russland, welche Rolle will, soll und kann Russland spielen, wie stehen die verschiedenen Sicherheitsarchitekturen zueinander? Daher bin ich froh und glücklich, dass es den Petersburger Dialog gibt, damit das in den unterschiedlichen Bereichen getan werden kann. Dass wir das tun müssen, zeigt sich schon allein daran, dass wir vielfältige Interdependenzen haben, wie Dmitrij Medwedew gesagt hat. Das zeigt sich sehr deutlich an den wirtschaftlichen Kontakten. Heute ist eine kleine, aber feine Wirtschaftsdelegation aus Deutschland mit dabei. Wir werden wichtige Abkommen unterzeichnen und damit deutlich machen: Diese wirtschaftliche Kooperation ist zu beiderseitigem Nutzen. Im Vordergrund werden diesmal der Bereich der Gesundheit und der Bereich der Energiekooperation sowie der Energieeffizienz stehen. Ich glaube, wir können hier viel voneinander lernen und miteinander tun. Deutschland ist nicht besonders reich an Rohstoffen; das ist bekannt. Aber wir glauben, dass wir an manchen Stellen ganz gute Technologien haben. Vielleicht können wir auf dieser Basis unsere Kooperationen weiter intensivieren. Auf jeden Fall weiß die deutsche Wirtschaft Herr Mangold sagt das auch immer wieder: Russland ist für uns ein sehr interessanter Markt. Ich sage ausdrücklich: Ich lade auch Russland ein, den Markt in Deutschland mit zu gewinnen. Das kann beide Seiten nur bereichern. Wenn das auf der Basis der Reziprozität verläuft, habe ich keinerlei Bedenken, sondern glaube: Das ist das, was Kooperation leisten muss. Mit einem Wort: Wir brauchen weitere Sitzungen des Petersburger Dialogs. Städtepartnerschaften finde ich auch sehr gut. Wir brauchen im Übrigen auch Modellstädte, an denen wir bestimmte Beispiele zeigen könnten, etwa was das Thema Energieeffizienz angeht. Wenn wir hier auch eine solche Partnerschaft hinbekommen würden, wäre das sehr interessant. In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Beratungen und verspreche Ihnen, dass wir das Ganze nicht nur aufmerksam, sondern auch wohlwollend weiter betrachten wollen. Es ist ein einzigartiges Gesprächsforum. Es tut beiden Ländern gut, dass es dieses Forum gibt. Herzlichen Dank.