Redner(in): Angela Merkel
Datum: 20.10.2008

Untertitel: am 20.Oktober 2008 in Prag
Anrede: sehr geehrter Herr Prof. Hampl, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Mirek Topolánek, sehr geehrte Frau stellvertretende Parlamentspräsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Senatoren und Abgeordnete, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren Professoren, liebe Studentinnen und Studenten, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Archiv16/Rede/2008/10/2008-10-20-merkel-prag-uni,layoutVariant=Druckansicht.html


Magnifizenz,

es ist für mich natürlich eine ganz besondere Ehre, hier heute an der Karls-Universität, einer der ältesten und renommiertesten Universitäten Europas, zu Ihnen sprechen zu dürfen. Die Karls-Universität ist nichts anderes als ein Stück unseres gemeinsamen europäischen Geschichtszeitalters. Die Karls-Universität war Vorbild für die Universitäten des Heiligen Römischen Reiches nördlich der Alpen und damit auch für alle deutschen Universitäten.

Wir erinnern uns in diesem Jahr

natürlich an die Gründung der Karls-Universität im Jahr 1348 durch Karl IV. Ebenso erinnern wir uns in diesem Jahr an den Prager Frühling 1968. Wir haben am 25. Juni in Berlin in einem gemeinsamen Festakt mit Ministerpräsident Topolánek und dem slowakischen Ministerpräsidenten Fico unsere Erinnerungen und Gedanken an diese Zeit in einer wirklich bewegenden Veranstaltung ausgetauscht. Ich möchte mich dafür noch einmal bei den Botschaften der Tschechischen Republik und der Slowakischen Republik ganz herzlich bedanken. Ich glaube, es war für uns alle sehr bewegend.

Im kommenden Jahr werden wir den 20. Jahrestag der Überwindung des Eisernen Vorhangs und dann auch bald den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit feiern. An der Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas haben Sie, unsere tschechischen Nachbarn, sehr großen Anteil. Wir in Deutschland werden das nie vergessen.

Ich erinnere mich natürlich sehr gerne an meine Zeiten als Wissenschaftlerin hier in Prag. Es ist für mich ein sehr bewegender Moment, dass Prof. Rudolf Zahradn? k mit seiner Frau heute hier unter uns weilt an einem Tag mit einem runden Geburtstag, zu dem ich ihm noch einmal herzlich gratulieren möchte. Ich hatte viele Monate lang die Freude, als Wissenschaftlerin bei Prof. Rudolf Zahradn? k und seinen Mitarbeitern zu sein. Wenn ich zurückblicke, dann war dies eine Zeit, in der er uns, die Jüngeren, immer wieder dazu angehalten hat, sich trotz der widrigen gesellschaftspolitischen Umstände niemals hängen zu lassen, niemals leichtfertig und ungenau zu sein, sondern selbst unter diesen Umständen zu versuchen, an die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit zu gelangen.

Wenn wir heute manchmal zurückschauen, dann ist vielleicht eine der größten Lasten, die wir aus der Vergangenheit mit uns tragen, dass wir sehr viel auf den Staat in den sozialistischen Ländern geschimpft haben und dabei unsere eigenen Schwächen vergessen haben. Rudolf Zahradn? k hat mir immer gesagt: "Es ist völlig klar: Solche Systeme wie die unsrigen können nicht überleben. Aber es ist auch völlig klar: Wir müssen uns trotzdem anstrengen und für uns und die Wissenschaft das Beste daraus machen." Deshalb an diesem Tag ein herzliches Dankeschön an dich, lieber Rudolf!

Es war für mich auch ein sehr bewegender Moment, als ich mit

Mirek

Topolánek am 22. Dezember letzten Jahres ein anderes Ereignis feiern konnte, nämlich die Öffnung der Schengen-Grenze im Drei-Länder-Eck zwischen Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland. Das war ein Moment, in dem wir noch einmal die Vereinigung Europas bemerkt haben, erlebt haben, gefühlt haben. Erst durch diese Vereinigung Europas können Deutschland und Tschechien wieder eine zukunftsgerichtete Nachbarschaft pflegen.

Heute sind wir Nachbarn, die neugierig aufeinander sind, wie zum Beispiel auch der rege Hochschulaustausch zeigt. Im letzten Wintersemester haben rund 2. 000tschechische Studenten in Deutschland studiert, viele von ihnen mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Über die Jahre haben Hunderte von tschechischen und deutschen Abiturienten, Studenten, Dozenten und Wissenschaftlern an den Stipendien- und Austauschprogrammen des DAAD teilgenommen. Ich darf, glaube ich, im Namen all dieser Teilnehmer sagen: Dies hat unsere Völker einander näher gebracht. Deshalb finde ich es ein wunderbares Signal, dass heute auch der Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, Professor Hormuth, hier anwesend ist und die wichtige Rolle des DAAD durch eine besondere Auszeichnung gewürdigt wird.

Heute sind Deutschland und Tschechien Nachbarn, die sich besuchen und kennen lernen wollen: Dies zeigen auch 462.000 tschechische Schüler, die Deutsch als erste oder zweite Fremdsprache lernen.

Heute sind wir Nachbarn, die es vermögen, sich zu versöhnen. Der deutsch-tschechische Zukunftsfonds hat hierbei in den letzten Jahren viel Gutes geleistet. Wir wollen und müssen uns unserer Vergangenheit stellen. Nur so kann es gelingen, die Zukunft auf einem soliden Fundament zu gestalten. Aber wir tun dies auch in dem Wissen, dass unsere Zukunft mit dem Gelingen des europäischen Einigungswerks verbunden ist.

Tschechien gestaltet heute ganz selbstverständlich und gleichberechtigt unsere Zusammenarbeit in Europa mit. Das zeigt sich natürlich in besonderer Weise daran, dass Tschechien ab dem 1. Januar 2009 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Mein Kollege Mirek Topolánek wird natürlich in seiner Präsidentschaft ich unterstütze das aus vollem Herzen; wir haben heute Vormittag auch darüber gesprochen die Debatte über ein wettbewerbsfähiges und offenes Europa führen. Ich begrüße das ausdrücklich und sage: Mit Tschechien wird auch eine Stimme der Länder in der Europäischen Union laut werden, die über viele Jahrzehnte eine andere Vergangenheit als die hatten, die schon immer in Freiheit leben konnten. Aber ich werde immer dafür werben, dass diese Stimme genauso wichtig ist wie die Stimme derer, die sich mit der Freiheit schon länger auskennen. Denn das Erleben von Unfreiheit ist auch eine wichtige Erfahrung, um Freiheit für die Zukunft gestalten zu können.

Meine Damen und Herren, Tschechien hat bittere Erfahrungen mit der kommunistischen Zwangs- und Misswirtschaft gemacht. Gerade ein Land wie Tschechien kann und wird deshalb die ökonomische Debatte in Europa bereichern. Wir brauchen diese Debatte in der Europäischen Union. Die Welt hat sich in den letzten 20Jahren grundlegend verändert, also muss sich auch unsere Politik weiterentwickeln. Allein der reine Bezug auf den acquis communautaire, wie es innerhalb der Europäischen Union so schön heißt, also auf die bestehenden Regelungen, wird uns in Europa noch nicht zukunftsfähig machen.

Vor uns stehen völlig unbekannte Aufgaben. Wenn wir nur an die internationale Finanzkrise dieser Tage denken, so wird das deutlich. Diese ist die größte finanz- und wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Diese Krise ist nicht nur ökonomisch gefährlich. Sie verstärkt auch das Misstrauen der Menschen gegenüber der Globalisierung, offenen Märkten und Grenzen. Das heißt, die oberste Aufgabe ist: Wir müssen verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Dabei geht es natürlich an manchen Tagen auch um kurzfristiges finanzpolitisches Krisenmanagement. Aber eigentlich geht es um die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft als eine menschliche Marktwirtschaft; darum, dass Politik gestalten kann und nicht allein die Wirtschaft bestimmt.

Die Frage wird sein: Wie bestehen wir diese Diskussion? Ich bin der Überzeugung, wir tun das gemeinsam: Wir setzen auf offene Märkte, Privateigentum und freies Unternehmertum. So kann Solidarität und Teilhabe aller gefördert werden. Wir fühlen uns natürlich auch der Bewahrung unserer Schöpfung verpflichtet.

Die Finanzkrise bietet uns dabei die Chance wie auch jede Krise eine Chance bietet, einen Zusammenhang besser zu verstehen: Freiheit auf der einen und Ordnung auf der anderen Seite sind keine Gegensätze. Sie bedingen sich und sind sozusagen Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft. Konkret bedeutet das: Wir brauchen eine Gestaltung der Finanzmärkte, wir brauchen eine Verbesserung der Liquiditätsfragen, wir brauchen bessere Regelungen zur Bewertung, wir brauchen mehr Transparenz. Wir brauchen natürlich auch die Bereitschaft der Akteure, dass sie Produkte, die sie anderen als besonders gut verkaufen, auch selbst in ihren Bilanzen haben. Allein das hilft schon zu verstehen, ob einer das, was er verkauft, wirklich für gut hält. Wir brauchen auch eine Verbesserung der Arbeit der Rating-Agenturen, denen wir ein bisschen zu sehr geglaubt haben und deren Ratings zum Teil nicht ganz so "sophisticated" oder brauchbar waren, wie es erwartet wurde.

Ich glaube, dass die Europäische Union vernünftig und adäquat auf die Krise reagiert hat. Wir werden noch in diesem Jahr zu einem Finanzgipfel der großen Industriestaaten und der Schwellenländer zusammenkommen, weil wir verstehen, dass eine Krise dieser Art überhaupt nicht mehr national, auch nicht europäisch, sondern nur weltweit zu lösen ist. Aber wir Europäer haben die Chance, hierbei unser ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen, um unsere gemeinsamen Vorstellungen von Werten auch mit anderen zu diskutieren. Jedes unserer Länder in der Europäischen Union wäre allein nicht in der Lage, weltweit mit einem solchen Gewicht aufzutreten, wie wir es gemeinsam tun können. Wir sind gemeinsam 500Millionen. Das ist, gemessen an China und Indien mit jeweils mehr als einerMilliarde Einwohner, immer noch nicht viel, aber es verleiht uns zusammen mit unserer wirtschaftlichen Kraft und unserer gesellschaftlichen Erfahrung doch ein hohes Gewicht.

Es geht im Kern darum: Wie wollen wir denn die Zukunft weltweit gestalten? Dazu müssen wir uns in Europa natürlich darüber klar sein, wie wir in der Europäischen Union Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und damit Stärke und Wohlstand gestalten wollen nicht als Selbstzweck, sondern weil wir den Menschen Lebenschancen eröffnen wollen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, man kann sagen: Die Europäische Union bemüht sich, auch als eine Rechtsgemeinschaft, täglich um den Ausgleich zwischen Freiheit und Ordnung. Sie bemüht sich damit gleichzeitig auch um einen Ausgleich zwischen den Kompetenzen der Mitgliedstaaten und den Kompetenzen der Europäischen Union. Das richtige Maß an Regulierung in Prag, Berlin oder Brüssel zu finden, ist nicht leicht. Aber wir dürfen vor allen Dingen eines nicht vergessen, was uns in der Europäischen Union gemeinsam stark macht.

Ich glaube, Europa verdankt seinen hohen Wohlstand insbesondere seiner soliden, innovativen industriellen Basis und seinem leistungsfähigen Mittelstand. Mehr als 80Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung kommen aus der Industrie. Die industriellen Zentren in Europa spielen daher eine Schlüsselrolle bei der Umwandlung Europas in eine Wissensgesellschaft. Ein Teil dieser gemeinsamen europäischen Wissensgesellschaft ist die tschechische Wirtschaft. Deshalb haben wir von deutscher Seite aus genauso, wie wir ein Interesse an der Stärkung unserer innovativen Wirtschaft haben, auch ein Interesse an der Stärkung der innovativen Basis der tschechischen Wirtschaft.

Eines erleben wir in diesen Tagen auch: Bei aller Notwendigkeit und aller Bedeutung des Dienstleistungssektors ohne seine Vernetzung mit der Industrie sind Wohlstand und eine vernünftige Wirtschaft nicht möglich. Die Entkopplung der Finanzwirtschaft von der industriellen Basis ist das eigentliche Problem der Finanzkrise.

Europas Wirtschaft ist stark mittelständisch geprägt. Kleine und mittlere Unternehmen stellen mehr als 67Prozent der Arbeitsplätze. Typische mittelständische Unternehmen werden häufig von Familien geleitet. Sie vereinen viele vorbildliche Charakterzüge: Eigeninitiative, Ideenreichtum, Risikobereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit und vor allen Dingen eines, was in unseren Zeiten manchmal verloren geht, nämlich die Ausrichtung auf eine langfristige Zukunft.

Wieder ein Problem der Finanzwirtschaft besteht darin, dass aktuelle Bewertungen vorgenommen werden, aber die Frage des langfristigen Erfolgs ein viel zu geringes Gewicht in diesen Bewertungen hat. Dagegen hat die industrielle Basis gerade auch die familieneigentumsgeprägte industrielle Basis immer stärker die Tendenz, für langfristige Produkte und für langfristige Forschung einzutreten. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, genau diesen Charakterzug auch mit den kommenden Maßnahmen zu unterstützen.

Diesem Unternehmertypus bei mittelständischen Unternehmen ist auch gesellschaftliches Engagement nicht fremd. Das heißt also: Unternehmer leben soziale und politische Verantwortung. Wir als Politiker haben natürlich ein hohes Interesse daran, die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch die Wirtschaft zu fördern, sie zu belohnen und zu unterstützen. Sie als Wissenschaftler wissen auch: Wenn nur noch Sportereignisse, aber nie mehr die Wissenschaften von unternehmerischer Seite unterstützt werden, dann ist das langfristig für unsere Gesellschaften nicht vernünftig.

Das heißt, wir müssen in Europa unsere Schätze wie die Kultur des Mittelstandes pflegen. Das heißt nichts anderes, als dass diese Belange in der Rechtsetzung der Europäischen Union auch wieder stärker berücksichtigt werden müssen. Ich sage das auch im Hinblick auf die Diskussionen über den Klimaschutz. Ich bin sehr davon überzeugt und habe es auch immer wieder deutlich gemacht, dass die Reduktion der CO2 -Emissionen eine globale Aufgabe ist, bei der Europa als Vorreiter auftreten sollte, weil das zum einen eine globale Herausforderung ist, die wir mit unserem Wertesystem bestehen sollten, und weil wir uns zum anderen dadurch als ein eher alternder Kontinent neue Exportchancen in den Schwellen- und Entwicklungsländern sichern. Deshalb ist es wichtig, dass wir hierbei Zeichen setzen und Maßstäbe bestimmen.

Aber gleichzeitig ist natürlich nichts gewonnen, wenn wir in Europa Regelungen für uns selbst treffen, die unsere eigene industrielle Basis schwächen. Europa hat heute einen Anteil an den weltweiten CO2 -Emissionen in Höhe von rund 15Prozent. Schon allein aufgrund der Bevölkerungsentwicklung auf der Welt wird dieser Anteil abnehmen und zur Mitte des 21. Jahrhunderts auf weniger als zehnProzent zurückgehen.

Das heißt: Energieeffizienz fördern, neue Technologien entwickeln das muss europäische Aufgabe sein. Aber bestehende Industrien zu behindern, das darf nicht das Ergebnis unserer eigenen Klimaverpflichtungen sein. Bei der Suche nach dem richtigen Weg glaube ich, dass wir mit der Tschechischen Republik einen gemeinsamen Weg finden, die Kommission unterstützen und unsere Regelungen trotzdem so ausgestalten zu können, dass sie uns unserer industriellen Basis nicht berauben.

Ein zweiter Punkt: Es ist das Verdienst von Kommissionspräsident Barroso und Vizepräsident Verheugen, den Bürokratieabbau auf die europäische Agenda gesetzt zu haben. Wir haben im letzten Jahr gesagt: Wir wollen die durch europäische Gesetze verursachten Bürokratiekosten bis 2012 um 25Prozent reduzieren. Ich halte dieses Ziel für richtig. Ich glaube auch, dass wir Bürokratie reduzieren können, ohne Sicherheiten für die Menschen zu gefährden. Deshalb wollen wir gerade auch während der tschechischen Präsidentschaft diese Arbeiten fortsetzen. Und ich glaube, die tschechische Präsidentschaft wird dabei auch gemeinsam mit Deutschland vieles durchsetzen können.

Es gibt schon Vorschläge: Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber hat als unabhängiger Bürokratieberater der Europäischen Union zum Beispiel eine Befreiung der Kleinstunternehmen von den EU-Rechnungslegungsvorschriften gefordert. Allein damit ließen sich Kosten in Höhe von rund 5, 7Milliarden Euro einsparen. Ich kann nur sagen: Ich unterstütze diese Idee nachdrücklich. Im Rahmen des "Aktes für kleine und mittlere Unternehmen" soll die europäische Gesetzgebung stärker auf die Bedürfnisse des Mittelstandes zugeschnitten werden. Die Devise heißt: Zuerst an die Kleinen denken. Also: Think small first, wie es in der europäischen Sprache so schön heißt. Ich glaube, das ist richtig.

Wir dürfen den Bürokratieabbau aber nicht nur auf den Abbau überflüssiger Informationspflichten reduzieren, sondern wir müssen auch schauen, wo Regelungen und Ertrag nicht im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Wir haben heute über die Antidiskriminierungsrichtlinie gesprochen. Wir können genauso über die Bodenschutzrichtlinie sprechen. Es gibt immer wieder europäische Rechtsetzungsakte, bezüglich derer wir der Meinung sind, dass sie eher in die nationale Gesetzgebung gehören, weil sie keine europäische Dimension haben, und dass wir unsere Kräfte besser darauf richten sollten, in den wirklich relevanten Fragen gemeinsame europäische Positionen herauszuarbeiten.

Das heißt also, Europa muss dort handeln, wo es sein Gewicht von fast 500Millionen Menschen nutzen kann und wo ein klarer Mehrwert für uns entsteht: Etwa beim Klimaschutz, bei der Energieversorgung, bei der Gestaltung der internationalen Finanzmärkte, bei der Regelung des Welthandels. All dies sind Herausforderungen, die eben, wie ich sagte, kein Land allein bewältigen kann und für die wir die europäische Gemeinschaft brauchen. Es stellen sich neue Aufgaben, die es nach dem Zweiten Weltkrieg so noch nicht gegeben hat, die aber auch eine neue Definition Europas in der Zeit der Globalisierung bedeuten.

Europa als Friedenswerk das ist für uns geradezu selbstverständlich. Dies müssen wir erhalten und pflegen. Europa als eine Stimme in einer globalisierten Welt dies müssen wir entwickeln. Es wird sich für unsere Generation die Frage stellen, ob wir von unserem Gesellschaftsmodell überzeugt sind einem Gesellschaftsmodell, das von der Würde des einzelnen Menschen, von der Unantastbarkeit und Unteilbarkeit der Würde des einzelnen Menschen ausgeht; einem Europa, das zeigt, dass es mit der Akzeptanz der Würde des Menschen Marktordnungen findet, die menschlich sind. Wir stehen natürlich in einem Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen Angeboten, wobei heute noch nicht sicher ist, ob sie nicht genauso effektiv wie unseres sein könnten. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame europäische Stimme, die aus voller Überzeugung sagt: Wir glauben daran, dass unser Lebensmodell eines ist, das auch im weltweiten Wettbewerb bestehen kann.

Meine Damen und Herren, dazu braucht Europa eine Verfasstheit, eine Rechtsgrundlage. Deshalb trete ich dafür ein, dass wir den Lissabon-Vertrag auch als unsere neue Rechtsgrundlage akzeptieren. Es gibt an der Verfasstheit Europas immer viel zu kritisieren. Aber der Lissabon-Vertrag ist mit Sicherheit ein Vertrag, mit dem wir aus den Fehlentwicklungen auch der Europäischen Union in der Vergangenheit Lehren gezogen haben, der mehr Subsidiarität schafft, der den nationalen Parlamenten mehr Mitspracherecht gibt, der besser dafür sorgt, dass Kompetenzen so aufgeteilt werden, dass nur das nach Europa wandert, was auch wirklich nach Europa gehört, und dass das, was auf der lokalen oder nationalen Ebene besser oder näher am Menschen gelöst werden kann, dort bleibt.

Deshalb, meine Damen und Herren, hoffe ich, dass wir diesen Lissabonner Vertrag dann auch als unsere zukünftige gemeinsame Grundlage nutzen können, um uns den Aufgaben besser widmen zu können, die wirklich wichtig sind. Dazu gehört das sage ich abschließend den Kolleginnen und Kollegen der Karls-Universität als eine unserer Zukunftsaufgaben natürlich auch die wissenschaftliche Kooperation. Dazu gehören Studenten, die heute schon ganz selbstverständlich zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union hin- und herreisen und ihre Studienabschnitte aufteilen. Dazu gehört die Fähigkeit zur Innovation auf der Basis der Leistungsfähigkeit. Zum Beispiel ist der "European Research Council" Ausdruck einer solchen leistungsorientierten Basiertheit der Verwendung von europäischen Forschungsmitteln. Es ist nicht immer einfach in Europa, das Leistungsprinzip durchzusetzen, weil natürlich ein gewisses Gefühl der Gleichbehandlung die kurzfristige Bequemlichkeit ausdrückt. Aber ich glaube, Europa hat keine andere Wahl und darf nicht weiter auf Regionalproporz setzen, sondern muss auf Leistung setzen. Dann hat Europa eine Chance, seine besten Qualitäten zu zeigen. Dies hier, an der Karls-Universität, zu zeigen, ist mir nicht nur eine Ehre, sondern es ist auch insofern eine Verpflichtung, als die Karls-Universität für ein Europa steht, das dies schon immer gewusst hat.

Ich wünsche Ihnen, die Sie zur Karls-Universität gehören, alles Gute. Und ich wünsche mir, dass Sie dieser europäischen Idee auch vertrauen und einen Beitrag dazu leisten, dass unser Kontinent, unsere Tradition, unsere Kultur einen guten Klang auf der Welt haben und Sie damit einen Beitrag zu einer menschlichen Entwicklung der Welt leisten.

Herzlichen Dank.