Redner(in): Michael Naumann
Datum: 27.07.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/14847/multi.htm


Volksstimme: Pessimisten sagen, dass der Osten Deutschlands erst in 15 Jahren mit dem Westen gleichgezogen hat. Gilt das auch für die Kultur?

Naumann: Der Prozess der demokratischen Vereinigung ist kein Wettrennen, sondern ein Akt der demokratischen Solidarität aller Deutschen. Tatsache ist, was die Kultur angeht, dass in Sachsen-Anhalt pro Kopf jährlich 201 Mark für kulturelle Institutionen ausgegeben werden. Das ist mehr als in allen anderen Bundesländern mit Ausnahme von Berlin und Sachsen.

Bleibt aber in der kulturellen Infrastruktur im Osten nicht doch eine ganze Menge zu tun?

Der investive Nachholbedarf auf dem Gebiet der Kultur ist in den neuen Ländern ganz außerordentlich. Ich denke dabei an den kritischen Zustand vieler Museen, Bühnen, an die Denkmalpflege, an das alles, was man als kulturelle Infrastruktur bezeichnen kann. Es weiß wohl jeder, der dort wohnt, dass in den Jahrzehnten der DDR aus den verschiedensten Gründen wichtige Investitionen unterblieben sind. Das fällt jedem auf, der über Land fährt und die alten verfallenen Dorfkirchen sieht oder die schönen Herrenhäuser, die in diesen 40 Jahren oft aus ideologischen Gründen dem Verfall preisgegeben worden sind.

Sachsen-Anhalt hat ein ungewöhnlich dichtes Netz von Theatern. Es stammt zum Teil noch aus den Zeiten deutscher Kleinstaaterei. Manche fordern, aus Kostengründen mit solchen Relikten aufzuräumen, Theater zu schließen. Was halten Sie von solchen Forderungen?

Jedes Theater, das eine neunzigprozentige Auslastung hat, wird vom Rotstift der Stadtkämmerer und Landespolitiker verschont bleiben. Auf der anderen Seite ist es ja gerade auch dieses Erbe der Kleinstaaten, der Bistümer, der Herzog- und Fürstentümer, das die deutsche Identität nach der Wiedervereinigung ausmacht. Diese kleinen Spielstätten sollten ja nicht nur Herrschaft für die dort lebenden Fürsten ästhetisch oder repräsentativ ausstellen und legitimieren. Sie haben darüber hinaus ein wichtiges Kulturbedürfnis der ganzen Bevölkerung recht und schlecht, manchmal auch sehr gut befriedigt. Der Prolog zum "Faust" beschreibt dies sehr schön: "Wer vieles bringt...". Dieses Bedürfnis besteht auch heute noch - und stellt natürlich eine Herausforderung an die Künstler dar. Nur ist die Annahme dieser Herausforderung sinnlos, wenn den Theatern finanziell der Boden entzogen wird.

Gerade kleinen Theatern fehlt es zuweilen am Nötigsten. Wie hilft die Bundesregierung?

Die Bundesregierung hat ein mehrjähriges Kultur-Förderungsprogramm für die neuen Länder aufgelegt. Es umfasst - zusammen mit der komplementären Landesfinanzierung - ein Gesamtvolumen von einer halben Milliarde Mark. Dieses Geld ist vor allem für Investivmaßnahmen, zum Beispiel für dringend notwendige Reparaturen an Theatern und anderswo vorgesehen. Des Weiteren haben wir das Investitionsförderungsgesetz, das auch unter dem Namen "Aufbau Ost" bekannt ist, endlich für kulturpolitische Investitionsprojekte geöffnet. Die vorige Bundesregierung hatte das abgelehnt! Das bedeutet zum Beispiel in Sachsen-Anhalt zusätzliche Mittel in Höhe von zwei bis vier Millionen Mark für Kultur. Kurz gesagt: Die neue Bundesregierung tut alles ihr mögliche, um das kulturelle Erbe der neuen Länder - einen der größten Schätze, der sich mit der Wiedervereinigung nun für das ganze Land dargeboten hat - zu pflegen, zu verbessern und präsentabel zu machen.

Sie kümmern sich persönlich sehr intensiv um die Kulturentwicklung im Osten. Wirft man Ihnen das, aus westlicher Perspektive, manchmal vor?

Nein! Ich erlebe vielmehr auch im Westen für diese Politik prinzipielle Zustimmung, zuweilen sogar Enthusiasmus. Vorgeworfen wird mir allerdings, übrigens auch aus den neuen Ländern, eine Konzentration der Förderungsmaßnahmen auf Berlin. Aber auch Berlin ist ein Land - mit teurem Erbe.

Da spielen, was den Osten betrifft, freilich noch die unguten Erfahrungen aus sozialistischen Zeiten eine Rolle.

Gewiss, doch da kann ich nur wiederholen: Auch Berlin ist ein Bundesland. Und noch dazu eines, das außerordentlich starke Strukturprobleme zu bewältigen hat, die aus der deutschen Geschichte erwachsen sind. Die Verfassung gibt vor, dass wir Berlin mit den Leistungen ausstatten, die notwendig sind, damit sie ihrer Funktion als Hauptstadt gerecht werden kann. Genau das tun wir.

Bei Würdigung dieser Tatsachen: Ist Berlin nicht doch ein Fass ohne Boden?

Solche Fässer ohne Boden können Sie auch in anderen Bundesländern ausmachen. In den Kulturinstitutionen aller Länder sind die Begehrlichkeiten immer größer als die zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten. So muss es sein. Aber auch Berlin ist in der Wirklichkeit kein Fass ohne Boden, denn es kann überall nur das ausgegeben werden, was da ist. Allerdings hatte sich in der Hauptstadt in einigen Häusern während der vergangenen Jahre der Brauch entwickelt, Gelder auszugeben, die nicht da sind. Mit dem Erfolg, dass Opern und Theater eine hohe Schuldenwelle vor sich herschieben.

Zurück zu den Möglichkeiten, die die Wiedervereinigung für die Kultur eröffnet hat. Spiegelt sich für Sie das große Thema der deutschen Einheit auch in Kunst und Literatur selbst wider?

Die Wiedervereinigung mit ihrer dramatischen Geschichte und ihren Problemen lässt gewissermaßen die Sedimentierung dieser Erfahrungen zu einem großen Thema der Künste werden. Das ist ja in der Literatur bereits intensiv der Fall, denken Sie nur an das neue Buch von Christoph Hein "Willenbrock".

Wie finden Sie das Buch?

Lehrreich und schön.

Michael Naumann wird, gerade auch im Osten, öffentlich als ein engagierter Anreger von Diskussionen und produktivem Streit zur Kenntnis genommen. Wären Ihnen Schlagzeilen als finanzkräftiger Retter der Kultur nicht angenehmer?

Natürlich wären mir die lieber, eben weil sich ja auch seit 1998 einiges getan hat: Wir haben für Ostdeutschland in dieser Legislaturperiode, wie gesagt, eine Summe von einer halben Milliarde mobilisiert. Das sind zusätzliche Mittel, die es vorher nicht gab. Zu Anfang meiner Amtszeit habe ich immer gesagt: Wenn ich gegen einen Baum fahre, dann möchte ich, dass in meinem Nachruf vermerkt wird, Michael Naumann hat sich für den Wiederaufbau verfallener Dorfkirchen in Sachsen-Anhalt eingesetzt.

Warum ist dieser Teil Ihrer Arbeit öffentlich so wenig präsent?

Es ist eben die unspektakuläre, tägliche Arbeit hier, die aber den größten Teil meiner Kraft in Anspruch nimmt. Doch was die von Ihnen angesprochene öffentliche Kenntnisnahme betrifft: Wir haben einen Plan entwickelt, der unter der Federführung von Professor Raabe, dem Direktor der Franckeschen Stiftung Halle, verwirklicht wird. Es handelt sich um ein "Blaubuch" der neuen Länder, in dem deren kulturelles Erbe dem staunenden westlichen Teil des Landes vorgeführt werden wird. Das wird eine bebilderte Enzyklopädie der Schlösser, Gärten, Museen und Theater, der Baudenkmäler ganz Ostdeutschlands werden, die Sanierungsbedarf haben und auf die zu verzichten eine Sünde wäre. Ich glaube, dass der Westen nachziehen wird, wenn dieses Buch vorliegt.

Warum nennen Sie es "Blaubuch" ?

Blau ist die Farbe der Hoffnung. Das Pioniertuch lag mir nicht im Sinn.

Mit dem Staatsminister für Kultur wurde ein Amt eingeführt, das es früher nur in der DDR gab. Lässt sich Kultur wirklich zentral verwalten?

Nein. Ich bin nicht der Literaturminister und auch kein Kunstminister. Eine zentrale Kulturverwaltung ist etwas, was dieses Land nicht braucht und auch mit mir nicht hat. Der Betrag, der dem Bund für Kulturpolitik zur Verfügung steht, beträgt weniger als ein Zehntel der entsprechenden Mittel der Länder. Damit ist die Gewichtsverteilung ziemlich eindeutig.

Es gibt nicht wenige, die mit Blick auf den angespannten Staatshaushalt gegen die staatliche Finanzierung von Kultureinrichtungen, gegen die Subventionierung von Theater sind. Die führen die USA als Vorbild an, wo sehr viele Gelder von privaten Sponsoren fließen. Ist das amerikanische Beispiel für Deutschland erstrebenswert?

Fünfzig Prozent aller privat zur Verfügung gestellten Sponsorengelder sind in Amerika von der Steuer absetzbar. Mit anderen Worten, der Steuerzahler tritt auch dort in die Pflicht, wo scheinbar private Initiativen zum Tragen kommen. In Deutschland haben wir jetzt durch das neue Stiftungsrecht neue steuerliche Anreize geschaffen und damit Freiräume für breitere Schichten der Gesellschaft eröffnet, sich privat zu engagieren. Amerika ist für uns kein Modell, weil das, was wir historisch ererbt haben, einmalig ist in der Welt: die Vielfalt der regionalen, staatlich subventionierten Kultureinrichtungen. Es gibt keinen Grund, das aufzugeben. Wir sollten uns vielmehr daran erfreuen. In Amerika ist die Bevölkerung drei Mal so groß wie in Deutschland. Dort gibt es etwa vierzig Opernhäuser, wir haben mindestens sechzig.

Schließlich noch eine Frage persönlicher Natur. Sie waren früher als Journalist und Verleger tätig. Nun sind Sie Staatsdiener, verantwortlich für die Verwaltung von Sachgebieten. Trauern Sie ihrer früheren kreativen Tätigkeit nach?

Nein. Jetzt bin ich als Politiker in der wunderbaren Situation, dass ich keinen finanziellen Gewinn erwirtschaften muss. Ich darf zunächst einmal ausgeben. Das ist der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Unternehmer. Nur eines sollten beide nicht aus den Augen verlieren: Kreativität - und den Sinn ihrer Arbeit. Der wird von den Kritikern und den Wählern definiert. Unternehmer sprechen von ihren Kunden. Politik kümmert sich um mehr als um Kundschaft - um die Freiheit der Bürger zum Beispiel, über Sinn und Unsinn von Kulturpolitik mit dem Stimmzettel zu entscheiden.