Redner(in): Angela Merkel
Datum: 15.05.2009
Untertitel: in Detmold
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlaments, lieber Hans-Gert Pöttering, sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten, lieber Jürgen Rüttgers, lieber Christian Wulff, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/05/2009-05-15-rede-merkel-varus-schlacht-detmold,layoutVariant=Druckansicht.html
einschließlich all derjenigen, die hier in der Region Verantwortung tragen,
liebe Kollegen aus den Parlamenten!
Ich freue mich sehr, dass ich heute dabei sein kann als Schirmherrin kann man solche Pflichten gerne übernehmen und die Ausstellung "MYTHOS" hier in Detmold eröffnen darf.
Es gibt drei Ausstellungen, drei Orte, drei Schwerpunkte, durch die sich wie ein Band die Frage des Verständnisses der Varusschlacht zieht und die uns mit dem vertraut machen, was vor 2.000 Jahren war, sowie mit dem, was dann später daraus geworden ist.
Hier in Detmold setzt sich die Ausstellung "MYTHOS" mit der Rezeption der historischen Ereignisse vor zwei Jahrtausenden auseinander. Es wird anschaulich illustriert, wie die Varusschlacht über Jahrhunderte hinweg jeweils für die aktuelle politische Auseinandersetzung herhalten musste. Das eigene Handeln sollte immer wieder durch den Rückgriff auf die Geschichte in eine vermeintliche Tradition gestellt werden. Deshalb sind die Deutungen über die Varusschlacht eben auch sehr unterschiedlicher Natur.
Das unweit von hier errichtete Hermannsdenkmal ist nicht nur die bekannteste Darstellung des Arminius. Es ist auch ein Sinnbild dafür, wie sich in seiner Person Fakten und Phantasien vermengten. Tacitus führte Arminius als "Befreier Germaniens" ein. Fast 100Jahre nach dem Tod des Cheruskerfürsten zeichnete der römische Schriftsteller ein ziemlich stereotypes Bild von Arminius und wollte damit auch letztlich die im Niedergang befindliche römische Gesellschaft maßregeln.
Im Mittelalter geriet die Varusschlacht in Vergessenheit. Doch als Mitte des 15. Jahrhunderts die Schriften des Tacitus wiederentdeckt wurden, wurde sie von deutschen Humanisten und Reformatoren begeistert aufgenommen. In ihrer Auseinandersetzung mit dem römischen Papst stilisierten sie den römischen Bürger Arminius zu "Hermann, dem ersten deutschen Helden, dem strahlenden Führer eines deutsch-germanischen Freiheitskampfes".
Damit begann dann die vielseitige Rolle von Arminius alias Hermann als eine der bekanntesten Symbolfiguren der Deutschen. Es entstanden die ersten Phantasiebilder von Arminius. Zahlreiche Romane und Gedichte im 17. und 18. Jahrhundert zeigten ihn als Stammvater der Deutschen oder auch als Retter in der Not. Als Theater- und Opernheld erfuhr Hermann internationale Aufmerksamkeit. Mit den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Besetzung Deutschlands wurde Hermann zum Symbol des deutschen Widerstands gegen die Besatzer, zum Vorbild für die Befreiung und Einigung Deutschlands. Besonders nach der gescheiterten nationalstaatlichen Einigung 1815 diente der Hermann-Mythos als Projektionsfläche der deutschen Einheitssehnsucht. Ab dem 19. Jahrhundert vereinnahmten dann zunehmend nationalistische Kräfte den Sieger der Varusschlacht für sich.
Ein Vergleich mit entsprechenden historischen Symbolfiguren der Nachbarstaaten zeigt aber auch: Diese nationale Mythenbildung war kein isoliertes Phänomen. Sie spielte sich im 19. und 20. Jahrhundert in vergleichbarer Form in vielen europäischen Nationen ab. Es ist sehr interessant, dass die Ausstellung "MYTHOS" illustriert, welchen verblüffenden Überschneidungen in Charakter und Erscheinung, die den historischen Nationalhelden in verschiedenen Ländern angedichtet wurden, wir begegnen. Diese ähnlichen Phänomene sagen wiederum auch etwas darüber aus, wie einheitlich wir Europäer doch schon seit einer ganzen Weile sind.
Das 1875 eingeweihte Hermannsdenkmal war ursprünglich als Sinnbild der Einheit Deutschlands konzipiert worden. Nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs nahm der politische Hermann-Mythos aber zunehmend kriegerische Züge an, die sich dann im Ersten Weltkrieg sehr verstärkten. Das heißt, es war im Wesentlichen immer wieder der Versuch unternommen worden, eine identitätsstiftende Wirkung zu schaffen. Ich glaube, das verdeutlicht auch die kleinere Kopie des Detmolder Hermannsdenkmals, die deutschstämmige Auswanderer 1897 in New Ulm in den USA errichteten.
Die Nationalsozialisten postulierten die Varusschlacht als historischen Sieg der angeblich überlegenen Germanen. Bis 1945 instrumentalisierten sie den Hermann-Mythos für ihre menschenverachtenden Zwecke. Diese Vereinnahmung markierte schließlich das Ende des nationalen Hermann-Mythos.
Die Ausstellung "MYTHOS" belegt anschaulich: Die Rezeptionsgeschichte der Varusschlacht, der Germanen und der Symbolfigur Hermann ist stark von dem Bild geprägt, das sich die Deutschen im Laufe der letzten 500Jahre von sich selbst gemacht haben. Hier wird immer wieder klar, welche politischen Sehnsüchte und Befindlichkeiten die Deutschen hatten. Damit zeigt die Detmolder Ausstellung eben auch, wie Geschichte instrumentalisiert und vom eigentlichen Ereignis völlig entfremdet werden kann.
Wenn man sich das alles vor Augen führt, dann bemerkt man, welch unglaubliche Entwicklung wir erleben dürfen. Christian Wulff hat eben von Dankbarkeit gesprochen. Ich glaube, wenn man sich einmal überlegt, dass wir in diesen Tagen an 60Jahre Grundgesetz und an 60Jahre Bundesrepublik Deutschland denken, dann haben wir wirklich einen Grund zur Dankbarkeit dafür, dass wir in Einigkeit und Recht und Freiheit seit nunmehr fast 20Jahren leben dürfen und dass schon seit 60Jahren immerhin ein Teil Deutschlands in Recht und Freiheit leben darf, dass die europäische Einigung und das Bekenntnis zur eigenen Nation keine Gegensätze mehr sind, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Ein Blick in die Geschichte zeigt uns, wie lange es gedauert hat, bis wir ein Grundgesetz haben konnten, in dem steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das ist wahrhaft eine Leistung, mit der wir, unsere Generation, jetzt schon 60Jahre lang leben dürfen. Aber im Blick zurück zeigt es sich eben auch, wie wenig selbstverständlich dies ist. Deshalb dürfen wir stolz auf das sein, was wir erreicht haben. Wir können und dürfen unser Land lieben wir sollten es sogar, wie es Jürgen Rüttgers gesagt hat. Aber das heißt auch, dass wir die Aufgabe haben, das, was wir geschaffen haben, zu bewahren und es weiterzuentwickeln immer in dem Geist: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Die Ausstellung ist damit eröffnet. Ich hoffe, sie findet viele Zuschauer und Besucher, die sich einen Blick zurück gönnen, um sich für die Bewältigung der Zukunft kräftiger zu machen.
Herzlichen Dank, dass ich heute hier mit dabei sein darf!