Redner(in): Angela Merkel
Datum: 18.05.2009
Untertitel: in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/05/2009-05-18-rede-merkel-zukunftskongress,layoutVariant=Druckansicht.html
Lieber Herr Professor Reitzle,
sehr geehrte Zukunftsforscher und Zukunftsinteressierte
ich freue mich, dass auch unser Kanzleramtsminister heute dabei ist,
ich bin gerne hierher gekommen, in einer Zeit, in der wir uns im Wesentlichen mit der Rückschau beschäftigen, um sozusagen etwas Antizyklisches zu machen und einmal nach vorne zu schauen.
Wir sind uns alle einig: 60 Jahre Bundesrepublik und 60 Jahre Grundgesetz das ist eine Erfolgsgeschichte. Dies ist nicht nur die beste Verfassung, die Deutschland je hatte, sondern sie ist auch eine Verfassung, die weltweiten Vergleichen standhält. Dass sich das Jubiläum im November mit dem 20. Jahrestag des Mauerfalls verbindet, ist eine günstige Fügung. So haben wir alle etwas zu feiern. Ein Teil der Deutschen lebte nicht in Recht und Freiheit, sondern mit ziemlich viel Unrecht, wobei ich die Straßenverkehrsordnung in der früheren DDR ausdrücklich von der Wertung als Unrechtstatbestand ausnehme. Diesbezüglich ging es einigermaßen geordnet zu. Die Zahl der Autos war wegen der zehnjährigen oder zwölfjährigen Wartezeit auf den Trabant ohnehin gering.
Seit fast 20 Jahren gibt es also Einigkeit und Recht und Freiheit. Das ist eine große Erfolgsgeschichte, auf die wir diese Woche, am Samstag, in Form eines großen Bürgerfestes und am Freitag in Form eines Staatsaktes zurückblicken werden.
Umso mehr stellt sich die Frage: Wie können wir diese Erfolgsgeschichte fortsetzen? Außerdem: Welche Fragen müssen wir uns in einer spezifischen Situation überhaupt stellen? Wir sind uns, glaube ich, alle einig: Geschichtsvergessenheit würde uns wurzellos, aber Ignoranz hinsichtlich der Zukunft auch richtungslos machen. Beides müssen wir deshalb nicht nur in einem solchen Jubiläumsjahr, sondern eigentlich immer vermeiden.
Nun haben wir auch noch eine Wirtschaftskrise, die die Zukunftsdiskussion eben auch ein Stück weit bestimmt hat, wenn ich den Teilausschnitt, den ich soeben verfolgen konnte, richtig eingeordnet habe. Es wurde gesagt, sie wäre im Wesentlichen von Männern gemacht. Ich habe dazu gesagt: So lange noch nicht so viele Frauen wie Männer Verantwortung tragen, sind Krisen eben von Männern gemacht, wenn man so will. Aber die Frage lautet: Würden solche Krisen, wenn in Zukunft einmal in allen Verantwortungspositionen zur Hälfte Männer und zur Hälfte Frauen sitzen würden, verhindert werden? Das ist, bei allem Selbstbewusstsein, nicht unbedingt klar. Auch dann braucht man noch ordnende Mechanismen und Regeln, um die wir kämpfen.
Wir haben in der Tat eine Krise, die sicherlich wie jede Krise ihre Chancen in sich birgt, aber zu der ich doch sagen würde, da sie auch sehr stark international eingefärbt ist: Ich hätte sie nicht gebraucht und viele Menschen auch nicht, weil durch diesen dramatischen Wirtschaftseinbruch bei uns und weltweit natürlich auch Erfolge in Frage gestellt werden. Ich muss im Hinblick auf die Bundesrepublik Deutschland sagen: Wir waren gerade auf einem Pfad, auf dem die Menschen nach der "Agenda 2010" und nach Reformen dieser Regierung gesehen haben, dass es Chancen bergen kann, etwas evolutionär zu verändern. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken und der Staatshaushalt sah so aus, als ob er 2011 konsolidiert sein würde. Die Gefahr dieser Krise, ohne jetzt pessimistisch zu werden, besteht darin, dass die Menschen fragen: "Was nutzt es, wenn ich mich so anstrenge? Es ist ja doch mit einem Mal alles wieder zerstört. Ist es da nicht doch besser, im Jetzt und Heute zu leben, zu nehmen, was ich bekommen kann, und nicht an die Zukunft zu denken?" Diese Gefahr sehe ich, wenn wir mit den Ursachen dieser Krise nicht richtig umgehen und nicht die richtigen Lehren aus ihr ziehen.
Die Lehren können eben nicht nur national gezogen werden, sondern sie sind Ausdruck zum einen der internationalen Krise und zum anderen der internationalen Veränderungen, die wir brauchen. Das stellt eine unglaubliche Herausforderung für unsere politischen Systeme dar, weil wir eigentlich keine internationale politische Architektur haben, in der Entscheidungen sehr schnell und routiniert gefällt werden können. Deshalb sind diese G20 -Prozesse, die wir jetzt durchführen, so wichtig. Ich sage sogar, sie sind essentiell, denn wir werden in fünf oder zehn Jahren nicht vor die Leute treten und bei einem ähnlichen Desaster sagen können: Leider haben wir die gleichen Fehler noch einmal gemacht. Wir müssen den Menschen schon sagen, dass diejenigen, die diese Krise verursacht haben, in vielen Fällen letztlich nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Aber wenn wir noch nicht einmal eine Analyse vornehmen und lernen, was geschehen ist, dann ist das, glaube ich, für die Politik eine große Fehlleistung. Deshalb setze ich und setzt auch die ganze Bundesregierung mit aller Kraft darauf, dass jetzt, auch wenn es einigen Banken wieder besser geht und die Finanzmärkte sozusagen wieder ein bisschen Oberwasser bekommen, nicht wieder so weitergemacht wird, wie es bisher der Fall gewesen ist.
Dazu gehört auch die Frage: Welches Wachstum brauchen wir denn? Das Wachstum hat alles determiniert. Es hieß immer: Wir brauchen Wachstum. Und nach dem Preis, für den wir es erhalten, ist nie gefragt worden. Die erste Große Koalition Ende der 60er Jahre hatte schon einmal Wachstum zum Oberziel erklärt und gleichzeitig damit begonnen, schrittweise eine grandiose Staatsverschuldung aufzubauen, weil Wachstum nicht in ein Verhältnis zu dem Preis gesetzt wurde, den man dafür zahlt. Das, was wir jetzt als internationale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise bezeichnen, beruhte letztendlich auch auf einem Wachstum auf der Basis nicht tragfähiger Grundlagen.
Das heißt, ich bin für Wachstum, aber ich bin dafür, dass es auch so nachhaltig ist, dass man nicht nur deshalb Risiken eingeht, weil das Ziel des Wachstums das Oberziel ist. Deshalb haben wir in der G20 auch eine sehr harte Diskussion über die Frage geführt: Können wir politisch jetzt schon wieder weltweite Wachstumsziele für 2010 und 2011 vorgeben oder können wir das nicht? Ich gehörte zu denjenigen, die gesagt haben: Ich setze nicht ohne Randbedingungen wie stabile Währung, Ressourcenverbrauch und Ähnliches einfach ein Wachstumsziel in die Welt, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Dann würden wir nämlich den gleichen Fehler wieder machen.
Nun bestimmt die Krisenhaftigkeit unserer augenblicklichen Lage sicherlich diesen Kongress. Aber die Frage, wo das Ganze hingeht, ist durch die Krise keine ganz andere Frage geworden. Manches wird sich beschleunigen, die Karten werden neu gemischt werden und Deutschland wird noch stärker darauf achten müssen, dass es vorne mit dabei ist. Aber die Grundzüge der Veränderung werden nach meiner festen Auffassung die gleichen sein. Wir haben die gleichen demographischen Probleme und wir haben die gleiche Wettbewerbssituation auf der Welt. Insoweit stellt sich diese faszinierende Frage wegen der Krise nicht in einer völlig neuen Art und Weise.
Wir können und wollen uns nicht von der Verantwortung für das frei machen, was in der Zukunft passieren wird. Aber wir müssen doch auch akzeptieren, dass Zukunft das ist ja auch das Spannende an der Zukunft immer ein Stück Ungewissheit in sich birgt. Man kann auf diese Frage der Ungewissheit der Zukunft in verschiedenen Formen reagieren. Man kann sagen: Wir schwelgen in der Vergangenheit und dann wird sich der Rest schon ergeben. Das sind die Nostalgiker. Sie fühlen sich temporär ganz wohl. Ob sie damit den Zukunftsherausforderungen genügen, weiß ich nicht. Man kann auch immer das Schlimmste befürchten und beklagen. Das sind die Katastrophenrufer, von denen es, wie ich glaube, ausreichend viele gibt. Dazu, richtig Mut zu machen und am Morgen fröhlich aufzustehen, führt ihre Einstellung auch nicht unbedingt. Man kann seine Ungewissheit sozusagen dadurch überkompensieren, dass man immer den grandiosen Masterplan vor sich hat und sich einfach einredet, man wisse schon, wie es kommen werde. Der Versuch, die Zukunft in den eigenen Masterplan hineinzuzwängen, birgt immer die Gefahr, ideologisch zu sein.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir die Zukunft als einen Raum von Möglichkeiten verstehen, die dadurch, dass sie Möglichkeiten sind, noch keine Sicherheiten sind, die aber als Möglichkeiten auch etwas anderes als einfach nur Unsicherheit und Ungewissheit bedeuten. Das heißt, Zukunft ist ein Raum der Gestaltung. Natürlich wird die Gestaltungsmöglichkeit von der heutigen Situation bestimmt, aber sie birgt eben auch immer die Chance, aus den heutigen Gegebenheiten herauszukommen.
Nun lautet die Frage: Wessen Aufgabe ist es eigentlich, die Zukunft zu gestalten? Es gibt die Theorie, dass alles immer individueller werde und damit die Aufgabe der Politik auch eine geringere sei. Politik bräuchte Wertentscheidungen nicht mehr vorzunehmen und verbindliche Ziele zu formulieren, sondern sie müsse sozusagen nur die Freiräume genügend groß gestalten. Ich glaube aber, dass die Politik auch im 21. Jahrhundert nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, gemeinsame Ziele und Werte für eine Gesellschaft zu formulieren allerdings immer mit dem Blick darauf, dass nationale Politik nicht mehr die Macht hat, eine Nation allein sozusagen ins Glück zu führen, sondern in viel stärkeren Interdependenzen mit der Politik anderer Nationalstaaten steht. Wir Europäer sind darin vergleichsweise geübt, auch durch die Abgabe von Souveränität an die europäische Ebene. Das wird nicht immer geliebt, aber dahinter steht im Grunde genommen ein unglaubliches kulturelles Lernen, das wir bereits hinter uns haben. Andere Länder man merkt das bei den G20 -Diskussionen tun sich viel schwerer damit, irgendeine Kompetenz an eine internationale Organisation abzugeben und sich nationalstaatlich sozusagen demütig der Entscheidung dieser Organisation hinzugeben und sich ihr zu verpflichten. Wir sehen auch bei den wenigen multilateralen Organisationen wie der Welthandelsorganisation, wie immer wieder versucht wird, selbst so überschaubaren Fragen, ob der Welthandel frei oder protektionistisch ist, auszuweichen und zu entkommen.
Die Staaten und die Politik müssen also versuchen, Werte und gemeinsame Ziele zu formulieren, allerdings mit Blick darauf, dass die Bürger und das ist die Erfolgsgeschichte von 60 Jahren Bundesrepublik mündiger geworden sind. Die Bürger haben mehr individuelle Vorstellungen. Das wird oft fast ein bisschen beklagt, aber das ist natürlich das Produkt unseres eigenen Erfolgs. In einer Gesellschaft, in der sich alle nur um die elementaren Bedürfnisse kümmern können, wird die Individualisierung natürlich zurückgedrängt. Aber in einer Gesellschaft, in der vieles selbstverständlich ist, können sich die Menschen und das ist schön auch individuell verhalten.
In einem Thesenpapier zu diesem Kongress, das Sinus Sociovision ausgearbeitet hat, heißt es mit Blick auf die Institutionen: "Die Gesellschaft verändert sich im Schatten der Institutionen, die zwar als administrative Strukturen bedeutend bleiben, aber ihre führende Rolle und sinngebende Funktion für die Gesellschaft verlieren." Das ist eine spannende These; ich will aber leisen Widerspruch anmelden. Erstens weiß ich nicht, ob sich die Gesellschaft wirklich im Schatten der Institutionen verändert, denn in den Institutionen sitzen schließlich Menschen, die auch irgendwie zur Gesellschaft dazugehören. Zweitens glaube ich, dass Institutionen eine wichtige freiheitssichernde Funktion haben. Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Institutionen sind für die Statik und für den Aufbau einer Gesellschaft unabdingbar. Ich sage damit nicht, dass sich diese Institutionen nicht verändern müssen. Ich sage Ihnen aber: Mein Albtraum als Politikerin ist, dass es keine Institutionen, keine Gruppenbildungen von Ämtern, Behörden, Kammern, Berufsverbänden, Universitäten, Schulen, Parteien, Parlamenten usw. mehr gibt und dass sozusagen die Aufgabe darin besteht, in einem hochkomplexen Diskussions- und Diskursprozess von 80 Millionen Menschen untereinander die kombinatorischen Möglichkeiten können Sie sich leicht ausrechnen irgendwie herauszufinden, wie denn nun gerade das, was sich im Schatten der Institutionen entwickelt, denkt, fühlt, macht, meint usw. Ich bin vielleicht nicht zukunftsbegabt genug, aber zumindest versagt meine Phantasie, wenn ich mir vorstellen soll, dass das alles ohne Bündelungsmechanismen, zu denen Institutionen sozusagen geboren und befugt sind, funktionieren kann.
Die Frage ist nur, ob die Institutionen, die wir heute haben, überhaupt noch widerspiegeln, was die Bürger denken, fühlen und machen. Die Frage, ob die Behörden noch widerspiegeln, inwieweit sich die Bürger noch aufgehoben fühlen wollen, ist vielleicht am einfachsten zu beantworten. Die Frage, ob die berufsständischen Vereinigungen oder Wirtschaftsverbände überhaupt noch repräsentativ sind, ist schon schwieriger zu beantworten. Es passiert einem immer wieder, dass man die Spitzen der deutschen Wirtschaft in Form von DIHK, ZDH und BDI trifft und sie selten einer Meinung sind. Aber selbst wenn sie einer Meinung sind, trifft man natürlich haufenweise Menschen unterhalb und innerhalb dieser Institutionen, die sagen: Da müssen Sie nicht hinhören, das ist bei uns eigentlich ganz anders gemeint. Wenn man dann fragt, warum sie nicht zu ihrer Verbandstagung kommen, heißt es: Na ja, was soll ich da so lange rumsitzen, da passiert doch sowieso nichts; und die ganze Art, wie das gestaltet ist, passt nicht mehr in das normale Leben eines Managers, also kann ich mich da nicht ewig aufhalten.
So droht die Gefahr, dass sich unsere Institutionen der Veränderung der Gesellschaft, die zum Beispiel im wirtschaftlichen Bereich durch die Globalisierung dramatisch ist, nicht schnell genug anpassen und dass Institutionen die letzten sind, die an einer alten Zeit festhalten, während sich sozusagen unten der Sand schon langsam in eine andere Richtung bewegt hat; und eines Tages wundert man sich, warum die ganze Burg zusammenstürzt. Ich sage trotzdem: Es ist für mich unabdingbar, weiterhin Institutionen zu haben. Ansonsten wäre es fast nicht mehr möglich, Politik zu machen. Ich erwarte von den Institutionen aber, dass sie sozusagen Sprecher ihrer individuellen Mitglieder sind, denn sonst wird es sehr, sehr schwierig.
Das, was ich jetzt in Bezug auf die Wirtschaft gesagt habe, kann ich auch für die Parteien sagen. Wenn Sie sich anschauen, wie das Parteileben funktioniert, dann stellen Sie fest, dass das mit dem Alltag eines Menschen, der zum Beispiel Akademiker oder Ingenieur ist und der Arbeitszeiten hat, die nicht auf die wöchentlichen Treffen von Ortsverbänden abgestimmt sind, zum Teil sehr wenig zu tun hat. Das heißt, auch wir müssen uns verändern. Aber wehe dem Land, das weder Parteien noch berufsständische Organisationen oder anderes hat. Ein solches Land wird aus meiner Sicht ganz schwer Zusammenhalt stiften können.
Nun möchte ich in drei Punkten darlegen, was meiner Meinung nach dazu beitragen könnte, dass die Strukturen dieses Landes auch das Lebensgefühl widerspiegeln und den Erfolg dieses Landes möglich machen.
Erstens. Wir müssen natürlich über den Zusammenhalt reden. Es wird viel über das Miteinander von Jung und Alt, von Arm und Reich gesprochen. Wie wir eine Spaltung der Gesellschaft angesichts fast grenzenloser Möglichkeiten vermeiden, ist vielleicht die entscheidende Frage. Da kommen wir dann zu dem, was Herr Professor Reitzle schon erwähnt hat, nämlich zu der Bildungsfrage bzw. der Frage: Wie bereiten wir die Menschen darauf vor? Diese Bildungsfrage ist in Deutschland, so glaube ich, viel zu sehr noch eine Wissensvermittlungsfrage und viel zu wenig eine Befähigungsfrage, wenn es darum geht, in der Vielfalt der Möglichkeiten zu Entscheidungen zu kommen und selbstbewusst auf diese Entscheidungen zu vertrauen.
Daher hat es mich sehr gefreut, dass Herr Bischof Wanke darauf hingewiesen hat, dass sich und sei unsere Gesellschaft noch so individualisiert und hätten wir noch so viele Möglichkeiten ganz wesentliche Punkte an der Frage entscheiden werden, ob sich der Mensch sozusagen im Auftrag Gottes die Erde untertan macht oder ob der Mensch versucht, sich in Gottes Situation hineinzubewegen. Bei allem, was wir können, ein Stück Demut zu haben in Bezug auf die Endlichkeit des Lebens, des Auftrags, der Verantwortung, und sich bewusst zu machen, dass man niemals alles richtig macht, sondern auch Fehler begeht, und zu wissen, dass man trotzdem ein aufgehobenes Individuum ist, ist zumindest für mich persönlich sehr wichtig. Ich werde in dieser Gesellschaft dafür kämpfen, dass das nicht irgendwie ausgeblendet wird und dass nicht gesagt wird, es sei völlig egal, welchen Blick man auf diese Gesellschaft hat. Ich glaube, dass das mit der Frage, wie wir uns selber verstehen, sehr stark zusammenhängt.
Bildung auf allen Ebenen und Bildungschancen für jeden das bedeutet mit Sicherheit, dass die Institutionen, über die ich eben gesprochen habe, besser miteinander verzahnt sein müssen. Bildung muss aus der Biographie eines Menschen gedacht werden und nicht aus dem Blickwinkel, ob jetzt gerade die Stadt für den Kindergarten, das Land für die Schule und die Hochschule, der Bund für die Berufsausbildung und der Betrieb für die lebenslange Bildung zuständig und verantwortlich ist. Man muss die verschiedenen Institutionen darauf trimmen, dass sie immer das Individuum mit seiner Biographie im Auge haben und dass sich daraus Chancen entwickeln.
Ich bin daher sehr dankbar dafür, dass viele Stiftungen hervorragende Modelle anbieten. Als ich im letzten Jahr meine Bildungsreise gemacht habe, habe ich gelernt, dass eine Erzieherin im Kindergarten normalerweise nie Kontakt zu einem Grundschullehrer aufnimmt. Man spricht nicht miteinander. Die einen haben studiert, die anderen haben eine Ausbildung, die einen werden so bezahlt, die anderen werden von anderen bezahlt. Die Hertie-Stiftung hatte daher zum Beispiel in einem Fall gemeinsame Weiterbildungsprojekte angeboten, wodurch es sozusagen zu einer zwangsweisen Begegnung von Erziehern und Grundschullehrern kam, was in der Folge dazu geführt hat, dass der eine den anderen besucht hat und sich einmal angeschaut hat, wie es denn ist, wenn man vom Kindergarten kommt, wo alles noch freudig ist, und dann in der Grundschule der Ernst des Lebens beginnt. So konnte man sich einmal überlegen, ob Überschneidungen möglich sind, damit das arme Kind nicht eine schwierige qualitative Veränderung durchmachen muss, für die es gar nichts kann. Und siehe da, es funktioniert und man hat sozusagen auch den gegenseitigen Dünkel ein bisschen überwunden. Aber für so etwas sind in Deutschland Stiftungen notwendig.
Dieses Beispiel ist zwar zu rühmen, aber ich glaube, solche Stiftungsprojekte müssen dazu führen, dass es normal wird, dass man sich gegenseitig besucht. Das reicht vom Älteren, der lernt und ehrenamtlich tätig ist, bis zu der Verknüpfung von Arbeitszeit und Bildungszeit, bis hin zur Ausgestaltung von Tarifverträgen, bis zu der Setzung von Prioritäten, bis zu dem Verständnis, dass Bildung im Grunde sehr früh beginnt und nicht erst in der Schule, dass Spielen auch Bildungseffekte, zumindest Nebeneffekte, haben kann und dass das Kind zumindest den Unterschied im Wechsel von der Nichtschulzeit zur Schulzeit als nicht so gravierend empfinden soll.
Bildung wird der Schlüssel für die Zukunft unseres Landes sein. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Es ist bedauerlich, dass wir 200 Jahre nach Humboldt eigentlich an vielen Stellen wieder am Anfang ansetzen müssen. Unser föderales System ist ein stabilisierendes System, das auch den Zusammenhalt sehr fördert, aber es ist kein schnell lernendes System. Deshalb müssen wir alle Kraftanstrengungen hierauf lenken und dürfen uns nicht in Kompetenzstreitigkeiten verirren.
Der zweite Punkt, der sozusagen die Voraussetzungen dafür schafft, dass wir überhaupt Bildungsanstrengungen unternehmen können, ist die Frage der Wachstumspotentiale. Hier gibt es in der Krise eine spannende Diskussion, denn im Hinblick auf die Frage, wie die Zukunft unserer Arbeitswelt aussieht, werden sich die Vorgänge durch diese Krise wahrscheinlich eher beschleunigen, als dass sie sich verlangsamen. Ich glaube, wir tun gut daran, dass wir unsere Industriefähigkeiten nicht zur Disposition stellen, sondern die Verbindung von Dienstleistung, Hightech und industriellen Fähigkeiten als eine verbreiterte Basis dessen nehmen, was uns schon immer zum Erfolg geführt hat. Es hat sich an einigen Stellen gezeigt wenn ich zum Beispiel an Werkzeugmaschinen und die Implementierung der Lasertechnologie denke, dass wir das gut gemeistert haben, und zwar auch in Verbindung mit allen Möglichkeiten der Datenverarbeitung.
Aber ich muss sagen, dass wir uns an anderen Stellen, wo aus meiner Sicht auch unsere Chancen liegen, elendig schwer tun. Denken Sie nur an das Drama um die Einführung der Gesundheitskarte. Wenn wir bei der Chip-Produktion schon nicht vorneweg sind, wenn wir bei der Programmierung schon nicht vorneweg sind es gibt wenige Ausnahmen: SAP und ähnliches, wenn wir bei der Computerentwicklung, bei Betriebssystemen, schon nicht vorne mit dabei sind, liegt doch unsere Chance darin, die Verbindung der realen Welt mit der Computerwelt möglichst zügig vorzunehmen. Aber wir haben uns auch in vielen Fällen nicht dadurch hervorgetan, dass wir im gesellschaftlichen Bereich vorneweg sind.
Wir haben in der Bundesregierung viel Kraft darauf verwendet, eine einheitliche Behördennummer und sonstige Vereinfachungen einzuführen. Man könnte wieder viele Berichte über den Föderalismus schreiben. Aber dem Bürger ist das auch egal. Wenn er ein Problem hat, will er zur richtigen Stelle geführt werden und nicht zuerst die Auskunft bekommen, dass es leider keine Bundessache, keine Ländersache, sondern eine kommunale Sache ist. Wir müssen hier sehr viel kooperativer werden.
Deutschland sollte an seine Stärken anknüpfen. Neugier und Entdeckerlust sind Kraftquellen von Innovation. Wir sollten Schnittstellen verbessern und durchaus in unseren Arbeitsstrukturen die so genannte "Diversity" nutzen, wie der Amerikaner sagt. Wir sollten dieses Instrument viel stärker als eine Möglichkeit der Teamarbeit nutzen. Obwohl das in vielen Unternehmen schon sehr viel besser ist, tendieren unsere Strukturen noch dazu, zu hierarchisch und nicht flach genug zu sein, um auch schnell genug reagieren zu können. Auch deshalb kommt dem Mittelstand eine so große Bedeutung zu, weil er in dieser Hinsicht sehr gut dabei ist.
Kein gegenseitiges Ausspielen der Interessen von Älteren und Jüngeren, von Männern und Frauen und die Verbindung von unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen ich glaube, das ist die beste Garantie, um in der Arbeitswelt vorne mit dabei zu sein.
Es ist ganz wichtig, dass wir diejenigen, von denen wir erwarten, dass sie die wachstumstreibende Arbeit erledigen, nicht immer weiter belasten. Deshalb führen wir im Augenblick eine etwas strittige Diskussion über die Frage "Entlastung Ja oder Nein?"
Es ist schon komisch: Als wir in die Krise gerauscht sind, konnte man das Geld nicht schnell genug ausgeben. Da gehörte ich zu denen, die gesagt haben: Hoppla, warten wir erst einmal ab und schauen uns an, wofür wir das Geld ausgeben. Jetzt, wo wir vielleicht in naher Zukunft die Talsohle erreicht haben, geht es um die spannende Frage diese wird im Übrigen später auch noch einmal über die Krisenbewältigung entscheiden, und zwar sehr, sehr stark, wann wir wieder dort sein werden, wo wir einmal im Jahr 2008 waren. Es wird nach allem, was ich höre, leider nicht so schnell gehen. Die Wachstumskurve wird nicht wie ein "V" verlaufen. Wir werden allem Anschein nach nicht so schnell wieder aus der Krise herauskommen, wie wir in sie hineingekommen sind.
Trotzdem müssen wir jetzt dafür Sorge tragen, dass wir nur kurz in der Talsohle sind und möglichst schnell wieder aus ihr herauskommen. Das wird natürlich auch vom internationalen Wettbewerb abhängen. Wenn wir nun aber in dieser Phase genau diejenigen stärker belasten, von denen wir erwarten, dass sie es schaffen können, uns aus der Talsohle herauszubringen, dann glaube ich nicht, dass daraus Motivation entsteht. Deshalb werde ich an dieser Stelle weiter streiten. Man wird sicherlich in Zukunft noch mehr davon hören."Zukunft" bezieht sich übrigens auf die nächsten drei Monate.
Wir haben gute Voraussetzungen. Ich will noch einmal daran erinnern, dass Deutschland in 30 von 31 Gruppen im Maschinenbau zu den Top 3 gehört. Es wäre jammerschade, wenn wir es durch falsche Weichenstellungen nicht schaffen würden, diese Stellung auf der Welt zu behalten. Es ist jetzt ganz wichtig und das ist meine Bitte an die anwesenden Wirtschaftsvertreter, dass wir wie in Baden-Württemberg darauf achten, dass nicht schon in Arbeit befindliche Ingenieure, Techniker und gut ausgebildete Menschen arbeitslos werden. Wir müssen auch schauen, dass diejenigen, die von den Universitäten kommen, nicht in ein Loch fallen. Es darf sich in einem mühseligen Prozess nicht alles wiederholen, was schon mehrfach in Deutschland der Fall war. Wir haben in den letzten Jahren viel Werbung für Naturwissenschaften, Ingenieurwissenschaften usw. gemacht. Wenn diejenigen, die diese Fächer studiert haben und sowieso den Eindruck haben, dass das nicht so ganz einfach ist, schließlich die Lebenserfahrung machen, dass sie nicht gebraucht werden und auf der Straße stehen, dann muss man sich nicht wundern, wenn die Attraktivität dieser Studiengänge schwindet.
Man muss sich einmal anhören, wie viele Bewerbungen im Augenblick junge Leute, die die Universität verlassen oder ihre Ausbildung beenden, schreiben müssen, um überhaupt irgendeine Chance zu bekommen. Das wird uns um Jahre zurückwerfen. Wenn wir in der Mitte des nächsten Jahrzehnts dringend Fachkräfte brauchen, werden wir uns mühsam daran erinnern, dass wir in diesem Bereich falsch gelegen haben. Hier muss der Staat zusammen mit den Betrieben und den Universitäten schauen, dass wir etwas Besseres schaffen. Made in germany "oder" created in germany " sind erfolgreiche Markenzeichen, die wir auch in Zukunft brauchen. Wir haben gute Voraussetzungen, das voranzubringen. Aber es muss hart daran gearbeitet werden, denn in China, Indien und anderen Teilen der Welt schläft man nicht. Wenn ich vom südkoreanischen Premierminister gehört habe, dass in Südkorea 2012 fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Innovation ausgegeben werden sollen, dann kann ich nur sagen: Wir müssen uns sputen. Wir sind froh, wenn wir es schaffen, drei Prozent dafür aufzuwenden. Je mehr das Wirtschaftswachstum sinkt, umso schneller schafft man natürlich diese Quote. Aber das kann eigentlich auch nicht die Lösung des Problems der Zukunftsfähigkeit sein.
Der dritte Punkt ist die soziale Komponente unseres Wohlstands. Diese hat sehr viel mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun. Die Soziale Marktwirtschaft war immer eine Ordnung, in der versucht wird, die Spannbreiten des Möglichen sowohl mit Blick auf die Armut als auch mit Blick auf den Reichtum einzuengen, also eine Balance zwischen freiheitlicher Verwirklichung und Ausgleich in der Gesellschaft zu finden, weil diese Balance natürlich ein herausragender Faktor ist.
Ich glaube, dass wir deshalb alles daransetzen müssen, unsere "Verbands- und Zusammenhaltsgesellschaft" für die Menschen im Sinne der Modernisierung der Institutionen weiter akzeptabel und lebbar zu machen. Dazu gehört das Thema Mitbestimmung, das uns viel Beschwer bereitet hat, das sich aber jetzt in der Zeit der Krise außerordentlich bewährt. Ich kann nur sagen: Ohne viele Betriebsräte, die darüber sprechen, welche Einschränkungen man machen muss, würde vieles anders aussehen. Ich kann das mit meinem Wahlkreis für den Bereich Aufbau Ost sagen. Ohne das enge Miteinander von Betriebsräten und Unternehmensführungen wäre in Deutschland vieles ganz anders gelaufen.
Es geht darum, dass wir unser Sozialvermögen in unserem Land so weiterentwickeln, dass es die Freiheiten nicht einschränkt und das Auseinanderdriften der Gesellschaften auch nicht gerade fördert. Das wird im internationalen Wettbewerb eine sehr, sehr schwierige Aufgabe sein. Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" ist eine gelebte Realität gewesen und deshalb ist die Soziale Marktwirtschaft so populär gewesen. Die Soziale Marktwirtschaft ist heute nicht mehr so populär, weil viele Menschen spüren, dass sie Sicherheiten, die sie hatten, so nicht mehr haben. Es kann einem Unternehmen insgesamt gut gehen und trotzdem kann es einem Unternehmensteil in Deutschland schlecht gehen. Das schafft bei einem Arbeitnehmer natürlich erhebliche Unsicherheiten, die sehr ernst zu nehmen sind.
Diese Tagung findet nicht umsonst beim Stifterverband statt. Auch hier muss wieder sehr vieles, was aus dem Privaten heraus gemacht wird, sicherlich verstärkt werden, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Nach meiner festen Überzeugung müssen wir Möglichkeiten finden, Menschen, die bereits aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind, aber angesichts der Lebenserwartung noch eine sehr intensive Lebensphase vor sich haben, stärker für das Ehrenamt zu begeistern. Wir müssen mit bestimmten Anreizen arbeiten, ohne das Ehrenamt zu kommerzialisieren. All das werden spannende Aufgaben sein, denen wir uns in den nächsten Jahren widmen werden. Kleine Schritte haben wir schon gemacht.
Eine der interessanten Fragen im Zusammenhang mit den Aufgaben Sicherung des sozialen Zusammenhalts und Erhaltung des Wohlstands ist: Wie behandeln wir einen privaten Haushalt? Wollen wir ihn wirklich als Arbeitgeber behandeln? Das wäre insofern sehr interessant, als Dienstleistungsberufe sehr viel spannender in einer Gesellschaft werden, die sich in der Arbeitswelt immer weiter diversifiziert und die gleichzeitig darauf angewiesen ist, dass auch einfache Berufe gelebt werden können und Menschen dazu übergehen, lieber zwei Stunden länger zu arbeiten, weil sie die Sicherheit haben, dass für sie zu Hause steuerlich bevorzugt Haushaltskräfte arbeiten. Das sind Weichenstellungen, bei denen wir die Arbeitswelt sicherlich so weiterentwickeln müssen, dass sie letztlich dem Anspruch auf Wohlstand, aber auch dem Anspruch auf sozialen Zusammenhalt entspricht.
Meine Damen und Herren,"die Zukunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern möglich machen." Das Zitat ist von Antoine de Saint-Exupéry und nicht von einem Zukunftsforscher. Aber er hatte auch Visionen. Schon die alten Griechen wussten, dass man die Zukunft nicht voraussagen, aber auf sie vorbereitet sein kann. Deshalb glaube ich, dass dieser Kongress an der richtigen Stelle und am richtigen Platz ist. Auf jeden Fall bin ich von einem zutiefst überzeugt: Wenn wir es richtig anstellen und die Grundströmungen, die heute schon erkennbar sind, durch unsere Politik und die unternehmerischen und gesellschaftlichen Aktivitäten fortentwickeln und bewusst entwickeln, haben wir alle Chancen, eine gute Zukunft vor uns zu haben, so wie wir eine gute Vergangenheit hinter uns haben.
Aber es ist nicht gesichert, dass Deutschland immer vorne bei den Ländern mit dabei ist, die man als die fortschrittlichsten, wohlhabendsten und vielleicht glücklichsten betrachtet. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sich auf der Grundlage von 60 Jahren Erfolg dafür eine Art innerer Rechtsanspruch bei den Menschen herausgebildet hat. Wenn man einmal die Geschichte betrachtet, ist es eher unwahrscheinlich, dass man über allzu lange Zeitläufe vorne mit dabei ist. Das muss hart erarbeitet werden. Wenn ich die Chinesen höre, die sagen, dass sie an ihr 10. Jahrhundert anknüpfen wollen, als sie in allen wichtigen Wissenschafts- und sonstigen Disziplinen auf der Welt vorne waren ich war gerade bei der Veranstaltung " 2.000 Jahre Varusschlacht; damals hat man sich schon gefreut, wenn man einmal gegen die Römer gesiegt hat, erahnt man, dass das in den langen geschichtlichen Dimensionen alles andere als selbstverständlich ist. Deshalb ist die Idee, dass mit der Deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Kriegs die Geschichte zu Ende sei, natürlich eine falsche. Aber das wissen die Zukunftsforscher.
Ich wünsche Ihnen weiter einen tollen Kongress. Dem Stifterverband herzlichen Dank.