Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 11.06.2009

Untertitel: Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte in seiner Rede imDeutschen Theater Berlin: "Das Schicksal von Anne Frank und anderer Verfolgter lehrt uns alle, von welch elementarer Bedeutung Zivilcourage und Mut des Einzelnen sind. Es darf kein Wegsehen geben, wenn Menschen in unserer Gesellschaft ausgegrenzt oder diskriminiert werden. "
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/06/2009-06-11-neumann-anne-frank,layoutVariant=Druckansicht.html


ich begrüße Sie im Namen der Bundesregierung zum Festakt anlässlich des 80. Geburtstages von Anne Frank. Ganz besonders bewegt mich, dass heute zwei Menschen hierher ins Deutsche Theater gekommen sind, die eng mit Anne Frank vertraut waren. Anne Franks Cousin Buddy Elias aus Basel und ihre Schulfreundin, Hannah Pick-Goslar aus Jerusalem, haben die weite Anreise auf sich genommen, um an diesem Festakt teilzunehmen. Ich freue mich auch sehr über die Anwesenheit von Frau Professorin Goodman-Thau, die selbst als Kind im holländischen Versteck überlebte und sich in ihrem beeindruckenden Lebenswerk sehr für den jüdisch-christlichen Dialog eingesetzt hat. Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und danke Ihnen dafür, dass Sie heute bei uns sind.

Am 12. Juni 1942 bekommt ein Mädchen in Amsterdam zu seinem 13. Geburtstag ein rot-weiß kariertes Tagebuch geschenkt. In den folgenden zwei Jahren berichtet sie in diesem Buch einer imaginären Freundin Kitty von ihren Erlebnissen, von ihren Gedanken und Träumen. Die letzte Eintragung vom 1. August 1944 endet mit den Worten: "Ich suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn … wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden".

Das Mädchen, das dies notierte, hieß Anne Frank. Morgen hätte sie ihren 80. Geburtstag feiern können. Sie hatte dazu keine Chance. Vom NS-Regime verfolgt und in ein Versteck gezwungen, wurde sie schließlich verraten und zum Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Sie starb fünfzehnjährig im Konzentrationslager Bergen-Belsen wenige Wochen vor der Befreiung.

Millionen von Juden fielen der Verfolgung der Nationalsozialisten zum Opfer. Das unendliche Leid, das diese Vernichtungspolitik über fast ganz Europa gebracht hat, lässt sich nicht begreifen es entzieht sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen. Das Tagebuch der Anne Frank, das mittlerweile in mehr als 70 Sprachen übersetzt wurde, ist Zeugnis eines individuellen Schicksals im Grauen des Holocaust. Es erzählt nicht von Gefangenschaft, nicht vom Sterben in den Konzentrationslagern, nicht von Folter und Massentötungen. Gleichwohl gibt es wie kaum ein anderes biographisches Dokument Einblicke in das Wesen und den Schrecken des nationalsozialistischen Terrors. Nicht zuletzt lässt es den Leser persönlich trauern um dieses so lebendige und kluge Mädchen, das seine Begabungen und Träume nie verwirklichen konnte.

Es sind die Stimmen der Zeitzeugen, die die zunehmende zeitliche Distanz zum Nationalsozialismus überbrücken. Es ist darum ein großes Glück, dass Persönlichkeiten wie Frau Pick-Goslar und Buddy Elias über alle unmenschlichen Taten hinweg Zeugnis ablegen. Dies ist gerade für die Vermittlung an die junge Generation hier in Deutschland von entscheidender Bedeutung. Denn dem Erinnern an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes und dem Gedenken an seine Opfer kommt in der deutschen Erinnerungskultur eine unvergleichlich hohe Bedeutung zu jetzt und für alle Zeiten. Dieses Erinnern nimmt einen wichtigen Platz in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes ein, die im letzten Jahr von meinem Haus vorgelegt und vom Deutschen Bundestag verabschiedet wurde.

Für die Realisierung der Gedenkstättenkonzeption, die den programmatischen Titel "Verantwortung wahrnehmen, Aufarbeitung verstärken und Gedenken vertiefen" trägt, haben wir die Mittel in den Jahren 2008 und 2009 um 50 % erhöht. Dies kommt in erster Linie den pädagogischen Vermittlungsangeboten in den Gedenkstätten zugute. Damit sich auch künftige Generationen ein Bild von der Vergangenheit machen können, müssen wir die authentischen Orte erhalten. Sie sind für Deutschland unverzichtbar wie die Gedenkstätte, die an das Konzentrationslager Bergen-Belsen erinnert, wo Anne Frank zu Tode kam. Der Bund hat Bergen-Belsen als Gedenkstätte von nationaler Bedeutung gemeinsam mit den Erinnerungsorten Dachau, Neuengamme und Flossenbürg in diesem Jahr in die dauerhafte finanzielle Förderung aufgenommen. Anne Franks Schicksal spielt in Bergen-Belsen eine zentrale Rolle im Programmangebot für Kinder und Jugendliche nicht nur in diesem Gedenkjahr. Dort wird auch der Mut derjenigen angesprochen, die trotz aller Bedrohungen den Verfolgten halfen. Auch ich möchte nicht versäumen, heute der Helferinnen und Helfer zu gedenken, die Anne Frank und ihre Schicksalsgenossen jahrelang unter ständiger Lebensgefahr in deren Versteck versorgten. Allen voran ist Miep Gies zu nennen, die im Februar ihren 100sten Geburtstag feiern konnte. Ihrem Mut ist es auch geschuldet, dass das Tagebuch von Anne Frank der Nachwelt und damit Millionen Lesern erhalten blieb. Ihr Handeln beweist, dass Anteilnahme, Unterstützung und Rettung auch in Zeiten der menschenverachtenden Nazidiktatur möglich waren. Dies ist auch die zentrale Botschaft zweier neu errichteter Gedenkstätten in Berlin, die mein Haus institutionell fördert.

Im Dezember 2006 wurde in der Rosenthaler Straße, in unmittelbarer Nähe des Anne Frank-Zentrums, das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt eröffnet, das anhand von verschiedenen Lebensschicksalen die Bemühungen des Kleinfabrikanten Otto Weidt nachzeichnet, seine jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter vor Verfolgung und Deportation zu schützen. Die benachbarte Gedenkstätte "Stille Helden" dokumentiert seit Oktober 2008 Schicksale jüdischer Verfolgter und illustriert anhand der Lebensgeschichten ihrer Helfer unter anderem die Vielfalt der Motive, die mutiges Eintreten gegen das Unrecht haben konnte.

Es ist mir ein besonderes Anliegen, dass viele Jugendliche etwas über Zivilcourage und Mut in dunkler Zeit lernen. Das Schicksal von Anne Frank und anderer Verfolgter lehrt uns alle, von welch elementarer Bedeutung Zivilcourage und Mut des Einzelnen sind.

Es darf kein Wegsehen geben, wenn Menschen in unserer Gesellschaft ausgegrenzt oder diskriminiert werden. Anne Franks Tagebuch wird auch in Zukunft in aller Welt zeigen, dass wahre Humanität nicht zum Schweigen gebracht werden kann bis über den Tod hinaus.

Ich danke Ihnen.