Redner(in): Angela Merkel
Datum: 15.06.2009

Untertitel: in Berlin
Anrede: Lieber Herr Keitel, lieber Herr Genscher, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/06/2009-06-15-bdi,layoutVariant=Druckansicht.html


gern bin ich heute zum BDI gekommen, um einen der vielen Glückwünsche zum 60-jährigen Bestehen zu überbringen und angesichts einer nicht einfachen Lage mit Ihnen darüber zu sprechen, wie sich Deutschland weiterentwickeln kann.

60Jahre Bundesrepublik Deutschland sind nicht denkbar ohne 60Jahre starke deutsche Wirtschaft und Industrie. Dass die Wirtschaft schon bald nach Gründung der Bundesrepublik erkannt hat, dass sie sich zusammenschließen und ihre Interessen vertreten muss, ist auch ein Beweis dafür, dass sie um ihre Stärke, aber auch um die Notwendigkeit des Zusammenspiels zwischen Politik und Wirtschaft gewusst hat. So wie dieses in den letzten 60Jahren und selbst zu Zeiten von Ludwig Erhard nicht immer reibungslos war wenn ich das richtig gelesen habe, ist das Kartellrecht nicht ohne jeden Widerspruch des Bundesverbandes der Deutschen Industrie geschaffen worden, so wird es auch in Zukunft ein, wie ich hoffe, konstruktiver und fruchtbarer Dialog bleiben, in dem die verschiedenen Interessen deutlich gemacht werden. Aber es muss ich sage es noch einmal ein fruchtbarer Dialog sein, in dem Wissen um die gemeinsame Verantwortung und in dem Wissen darum, dass wir aufeinander angewiesen sind, wenn es uns ernst ist mit diesem Land.

Unstrittig ist, dass die Soziale Marktwirtschaft, deren Geburtstag wir schon letztes Jahr gefeiert haben, der Erfolgsschlüssel für die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland war. Inzwischen kann man allerdings sehr unterschiedliche Argumente dazu finden, was Soziale Marktwirtschaft unter den heutigen Bedingungen bedeutet. Deshalb ist es auch immer wieder interessant, sich noch einmal in die Schriften derer zu vertiefen, die damals die Soziale Marktwirtschaft entwickelt haben, übrigens als eine klassische europäische Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Das war nicht eine keynesianische Antwort, sondern eine Antwort, die den Staat durchaus als Hüter einer Ordnung, der Ordnung des Wettbewerbs, verstanden hat, und die von Anbeginn auch besagt hat, dass es Situationen gibt, in denen die Selbstheilungskräfte der Märkte versagen können, und dass dies genau die Momente sind, in denen staatliches Eingreifen zur Wiederherstellung dieser Selbstheilungskräfte notwendig ist. Nun ist immer zu fragen: Wann ist es soweit? Wann passiert das? Darüber werden ein zum Teil sehr konkreter Streit und eine konkrete Auseinandersetzung geführt.

Dass wir im 60. Jahr unserer Bundesrepublik Deutschland die schwerste Wirtschaftskrise erleben, hervorgerufen durch eine internationale Finanzmarkt- und internationale Wirtschaftskrise, ist ein Faktum, auf das wir so blicken sollten, wie Herr Keitel das eben getan hat. Wir haben schon ganz andere Herausforderungen bestanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, die deutsche Wiedervereinigung wurde bewältigt, Deutschland ist heute im Ausland besser und umfassender anerkannt als manchmal bei uns zu Hause. All das sind Beispiele, aus denen wir Kraft dafür schöpfen können, dass es uns auch dieses Mal gelingt, unsere Herausforderungen zu bewältigen.

Wenn man einen Blick auf diese Krise wirft, so zeigt sich, dass sie Besonderheiten hat. Sie ist eine klassische Exportkrise und nicht hervorgerufen durch eine schlechte Darstellung und Situation der inneren Gegebenheiten der Bundesrepublik Deutschland. Ich glaube, man kann sagen, dass nach der Agenda 2010, aber auch durch viele Maßnahmen dieser Bundesregierung, zusammen mit Anstrengungen der deutschen Wirtschaft selbst, und auch aufgrund sehr schwieriger Entscheidungen im Rahmen der Mitbestimmung die Wettbewerbsfähigkeit wieder gefestigt wurde, was unser Land relativ stark in diese Krise hineingehen ließ. Deshalb ist dies auch eine Krise, die vor allen Dingen die reicheren, die wohlhabenderen Regionen Deutschlands treffen wird, weil hier die Exportstärke Deutschlands in umfassendem Maße verankert ist.

In meinem Wahlkreis an der Ostsee sagen Menschen manchmal: Nun wollen wir doch einmal sehen, wie die im Süden damit umgehen, wenn sie es einmal schwer haben. Denn in 20 Jahren Deutscher Einheit gab es Arbeitslosigkeit, Abwanderung und vieles andere zumeist anderswo.

Diese Exportkrise wirft nun eine Frage auf, die ich gleich beantworten möchte: Sind wir zu exportabhängig? Ich glaube, es gibt keine Alternative dazu, dass wir eine exportstarke Nation sind. Ansonsten setzen wir unseren Wohlstand aufs Spiel.

Deshalb müssen wir sozusagen mit unseren Stärken wuchern, aber deshalb haben wir auch mehr als andere ein immanentes Interesse daran, die Ursachen dieser Krise zu bekämpfen. Diese können nur international bekämpft werden. Wenn die Welt die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft umfassend angewandt hätte, dann hätte es nicht zu dieser Krise der internationalen Finanzmärkte kommen können. Das ist zumindest meine tiefe Überzeugung. Deshalb heißt die Aufgabe, grundlegende Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft, die etwas mit Nachhaltigkeit zu tun haben, die etwas mit Risikoabsicherung zu tun haben, international zu verankern.

Dieses Thema hat uns bereits beschäftigt und wird uns in den nächsten Monaten weiterbeschäftigen, wobei ich meine Sorge nicht verhehlen will, dass in dem Maße, in dem einige Finanzinstitute wieder zu Kräften kommen, der Wunsch, grundsätzliche Veränderungen vorzunehmen, schon wieder schwächer wird. Wir müssen aber alles daransetzen, dass wir nicht zielstrebig in die nächste Krise dieser Art hineingehen.

Denn eines sage ich auch das betrifft meine Verantwortung als Politikerin: Wir müssen den Menschen erklären, wie so etwas passieren kann, wir müssen ihnen Rede und Antwort stehen, warum in vielen deutschen Unternehmen, nachdem man jahrelang auch eine maßvolle Lohnpolitik verfolgt hat, nun scheinbar alles, was man sich erarbeitet hat, wieder eingerissen wird. Wir müssen erklären, warum wir, obwohl wir im Jahr 2011 eigentlich einen ausgeglichenen Haushalt haben hätten können dafür haben wir den Menschen zum Beispiel mit der Mehrwertsteuererhöhung durchaus etwas zugemutet, nun in die Situation kommen, in der wir höhere Schulden als jemals zuvor aufnehmen müssen.

Ich werde immer wieder gefragt: Was tun Sie denn, damit jene, die das angerichtet haben, in irgendeiner Weise zur Rechenschaft gezogen werden? Dazu muss ich sagen, dass, da keine internationale Regelungen bestehen, auch niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann. Aber das Mindeste, was man von uns als Politikern erwartet, ist, dass wir alles tun, damit sich eine solche Krise nicht wiederholt. Ich denke, das ist auch in Ihrem Interesse, denn auch Ihre Unternehmen stehen so etwas nicht so leicht alle fünf Jahre durch. Das würde unseren Wohlstand in umfassendem Sinn zerstören.

Deshalb bin ich froh, dass es gelungen ist, in London eine Übereinstimmung dahingehend zu erzielen, dass wir über eine Charta des nachhaltigen Wirtschaftens nachdenken und diese erarbeiten. Dazu müssen wir jetzt, wie es der Präsident gesagt hat, die Beschlüsse von London umsetzen.

Man sieht schon wieder, wie, wenn es um eine europäische Finanzaufsicht der grenzüberschreitend tätigen Bankinstitute geht, bei leichter Erholung im Londoner Raum die Beschwerden und Einwände zunehmen. Ich bitte Sie, auch um Ihrer selbst willen, uns zu unterstützen, wenn es an diesen Stellen zu Konflikten kommt. Ein global agierendes Finanzsystem bedarf starker multilateraler Institutionen, einer engen intergouvernementalen Zusammenarbeit und vergleichbarer Regelungen. Wir brauchen ein gleiches Wettbewerbsfeld. Wenn wir hier in Deutschland ordnungspolitische Debatten führen, aber die anderen schauen, wie sie aus der Krise herauskommen, dann werden wir schließlich unter der nächsten Krise alle wieder gemeinsam leiden.

Ich stimme Ihnen zu. Im September in Pittsburgh werden wir die Lehren daraus ziehen und schauen, wo wir stehen. Wir müssen jetzt mit großer Nachhaltigkeit weiter an diesen internationalen Regeln arbeiten.

Ich stimme Ihnen auch darin zu, dass es an der Zeit ist, dem Protektionismus eine Absage zu erteilen. Wir haben das neulich in einem intensiven Gespräch am Beispiel der transatlantischen Kooperation miteinander erörtert. Man kann viele Länder benennen, in denen es solche Tendenzen gibt. Insgesamt gibt es glücklicherweise das Bekenntnis der Industriestaaten, dass Protektionismus in die Irre führt. Ich glaube, in dieser Krise hat es sich für die deutsche Wirtschaft im Großen und Ganzen bewährt, dass wir eine EU-Kommission haben, die wenn auch nicht immer zu unserer jeweiligen Erbauung mit Argusaugen darüber wacht, dass Protektionismus zumindest auf den europäischen Märkten keine Chance hat. Ich glaube, es ist richtig, dass wir diese starke Überwachung haben.

Meine Damen und Herren, neben der internationalen Frage gibt es natürlich auch noch unsere Situation zu Hause. Nach dem Fall der Mauer, der im November schon 20Jahre zurückliegt, hatte ich nicht erwartet, dass ich in meiner politischen Tätigkeit jemals in eine Situation kommen würde, in der gestandene Chefs von Banken vor mir stehen und sagen: Entweder der Staat agiert jetzt und zwar, was die Milliardenbeträge anbelangt, in einem Maße, wie ich es mir zuvor selten ausgemalt habe oder aber die gesamte Volkswirtschaft kollabiert.

Deshalb ist es wichtig, dass wir immer wieder sagen: Wir haben nicht agiert, um dieses oder jenes Institut fein herauszuputzen, sondern um letztlich die Sparguthaben der Menschen, die Volkswirtschaft und den Wohlstand unseres Landes nicht in Gefahr zu bringen. Das ist der gesamtgesellschaftliche Ansatz. Deshalb ist das auf breite Zustimmung, zum Beispiel auch im Deutschen Bundestag, gestoßen.

Wir haben damit die Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen bewiesen und sind jetzt in einer Lage, in der ich sage es einmal in übertragenem Sinne die Intensivstation hinter den Banken liegt, aber im Grunde, nach medizinischem Ablauf, nun die Reha kommen müsste. Die politische Diskussion über die Frage, wie viel wir nun noch in die Rehabilitation investieren wollen, ist sehr viel schwieriger als die eigentliche Notfallbehandlung.

Wir wissen aber deshalb haben wir einen Vorschlag für Bad Banks gemacht, deshalb haben wir einen Vorschlag für die Restrukturierung der Landesbanken gemacht, die aber in schwierigen parlamentarischen Beratungen noch abzuschließen sind: Wenn wir den Banken ihre Arbeitsfähigkeit nicht wirklich wiedergeben, dann können wir noch lange auf sie schimpfen; zum Schluss werden sie nicht das tun können, was sie tun müssten. Nur aus diesen Gründen tun wir das. Aber es ist auch verständlich, dass die Steuerzahler sagen: Bitte verschont uns, soweit es geht, vor zusätzlichen Belastungen. Wir müssen jetzt schauen, inwieweit wir durch das Kaufen von Zeit, also auf der Zeitachse, etwas erreichen.

Wir erleben in der jetzigen Situation auch, dass Deutschland mit seiner Finanzmarktstruktur nicht überbesetzt ist. Die internationalen Banken ziehen sich in hohem Maße zurück. Die Landesbanken haben zum großen Teil an den sehr risikoträchtigen Geschäften teilgehabt. Es nutzt jetzt nichts, aus vielen Landesbanken eine zu machen und damit das zu vergebende Kreditvolumen noch einmal durch eine Art Schock zu verkürzen. Wir müssen vielmehr alles versuchen, dass die Kreditvolumina nicht so weit eingeschränkt werden, dass es in dieser schwierigen Krise zu einem prozyklischen Effekt für die deutsche Wirtschaft kommt. So werden wir uns mit dem Thema noch eine Weile beschäftigen.

Ich setze mich in Brüssel dafür ein, dass wir die Maßstäbe von BaselII um die prozyklischen Auswirkungen korrigieren. Ich sage Ihnen, dass das ein extrem dickes Brett ist. Auf der einen Seite geht es nur auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs voran, auf der anderen Seite sind wir ein Land, das eine sehr ausgeprägte Industriestruktur hat, wohingegen viele andere Länder solche Probleme in diesem Ausmaß gar nicht kennen. Daher kommt man sich manchmal vor wie ein Rufer im Walde. Es ist gut, dass wir in diesem großen Wald unsere französischen Kollegen an unserer Seite haben sowohl auf der Ebene der Finanzminister als auch mit Nikolas Sarkozy auf der Ebene der Regierungschefs.

An der Unternehmensteuerreform, die die prozyklischen Effekte verstärken könnte, haben wir leichte Korrekturen vorgenommen. Ich vermute, Sie sagen, das werde nicht ausreichen. Deshalb sage ich, dass dieses Thema nach der Wahl wieder auf die Tagesordnung kommen muss. Wir haben bei der Ist-Besteuerung die geltenden Regeln für Ost und West verlängert und ausgedehnt. Das ist auch im Hinblick auf die Liquidität wichtig. Auch befinden sich nochmals Änderungen der Bilanzierungsregeln in der Diskussion. Das alles sind Maßnahmen, um die Krisenwirkungen nicht noch stärker werden zu lassen. Das alles sind Maßnahmen, über die man nicht solche ordnungspolitischen Grundsatzdebatten führt wie über andere Programme, die aber das Gleiche bewirken können.

Mir wäre es lieber, es käme zu Änderungen bei BaselII. Dann bräuchte ich mich nicht in einem so umfassenden Maße jeden Tag mit einem anderen Fall des Bürgschaftsprogramms auseinanderzusetzen. Denn jeder meint, vom Bürgschaftsprogramm verstünde er etwas. Bei BaselII kann ich hingegen davon ausgehen, dass das eher in Fachkreisen und mit weniger Aufhebens debattiert wird.

In der Kenntnis, dass es nicht reicht, allein den Banken zu helfen, haben wir versucht, mit zwei Konjunkturprogrammen wichtige Impulse zu setzen, die im Wesentlichen auf die Stärkung der Binnennachfrage abzielen, weil wir die Zeit, in der die Exporte einbrechen, überbrücken wollen. Natürlich setzt das voraus, dass irgendwann die Exportkräfte wieder gestärkt werden, indem das weltwirtschaftliche Wachstum wieder anspringt. Wir haben mit unseren Konjunkturprogrammen allerdings auch einen Effekt erreicht, der uns als Exportnation gut zu Gesicht steht. Durch die Stabilisierung unserer Binnennachfrage verändern wir unsere Außenhandelsbilanz allein in diesem Jahr um etwa 170Milliarden Euro zugunsten der Importe, was für andere Produzenten auf der Welt natürlich eine hervorragende Möglichkeit ist, dementsprechend nach Deutschland zu exportieren. Damit leisten wir, wie inzwischen auch der IWF zugibt, einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft.

Wir müssen also keineswegs dauernd in Sack und Asche gehen, weil wir angeblich nichts tun und uns nur auf uns konzentrieren. Das ist vielmehr aus meiner Sicht völlig abwegig. Wir können mit erhobenem Haupt durch die Welt gehen und sagen: Wir leisten unseren Beitrag, bei uns gibt es keinen Protektionismus, die Importe werden sogar noch gefördert.

Meine Damen und Herren, wir haben des Weiteren das Instrument der Kurzarbeit vorgeschlagen. Dieses wird angenommen. Ich will jenen, die mir zum "Kurzarbeitergeld plus" geschrieben haben zum Beispiel hatte sich Herr Hundt an mich gewandt, zusagen, dass es unternehmens- und arbeitnehmerfreundlich ausgestaltet wird. Wir haben die Kurzarbeit auf 24Monate verlängert, um auch ein Stück mehr Planungssicherheit zu geben. Wir werden ab dem sechsten Monat die Sozialversicherungsbeiträge übernehmen. Das ist eine erhebliche Leistung. Im Übrigen werden auch Beitragsgelder in erheblichem Umfang für diesen Schritt ausgegeben. Aber ich glaube, dies ist richtig. Wir tun etwas, was wir in normalen ordnungspolitischen Zeiten nicht machen würden, aber wir danken damit auch Ihnen, die Sie als verantwortliche Unternehmer oder Manager in vielen Fällen entgegen den betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten auch selber versuchen, eine Brücke über eine schwierige Zeit zu bauen. Das ist, wie ich finde, ein klassisches Beispiel für eine gute Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung von Verantwortung.

Das Infrastrukturprogramm, bei dem wir zwei Drittel der Mittel in Bildung und Forschung investieren und mit dem wir auch Verkehrsinfrastrukturprojekte erheblich vorziehen, ist etwas, was unser Land stärker macht.

Außerdem haben wir das Bürgschaftsprogramm, das vielleicht Gegenstand der größten Diskussion ist. Dieses Programm ist beliebt. Es liegen bereits über 1. 300Anträge vor. Fast 98Prozent davon kommen aus dem Mittelstand. Jedem, der das Bürgschaftsprogramm kritisiert, will ich an dieser Stelle nur sagen: Schauen Sie einmal in die Portfolios der Landesregierungen und schauen Sie sich einmal an, was diese in Zeiten tun, in denen es keine Wirtschaftskrise gibt, wie viel Bürgschaftsrahmen dort regelmäßig ausgeschöpft wird. Die Bürgschaft ist also keineswegs erst in der Krise erfunden worden. Dennoch bedarf es klarer Maßstäbe. Ich glaube, dass wir diese Maßstäbe haben. Wir haben schon bei Arcandor angesichts des Maßstabes "War das Unternehmen im Sommer 2008 gesund?" sagen müssen: Nein, dies ist kein Fall der akuten Finanzmarktkrise. Er wurde durch sie sicherlich beschleunigt und verstärkt, aber es gab schon vorher unternehmerische Schwächen. Deshalb haben wir uns so entschieden, wie wir uns entschieden haben.

Wir müssen auch sagen, dass der Fall der Insolvenz im Insolvenzrecht gibt es ja ein Insolvenzplanverfahren mitnichten bedeutet, dass das Unternehmen vom Markt verschwindet oder alle diese Arbeitsplätze nicht mehr existieren, sondern dass er auch die Chance vernünftiger Restrukturierung bietet. Ich denke, es ist unser gemeinsames Anliegen, dass wir das noch deutlicher machen.

Es gibt den Fall Opel. Herr Keitel hat dazu etwas gesagt. Beim ersten Satz wusste ich nicht, ob es eine Kritik war; im zweiten Satz war es keine mehr. Der Fall Opel hat natürlich viele bewegt. Das ist gar keine Frage. Ich habe meine Entscheidung davon abhängig gemacht, was denn passiert wäre, wenn wir versucht hätten, das deutsche Insolvenz- , meinetwegen auch Planrecht, auf Opel anzuwenden. Das wäre schlicht und ergreifend nicht möglich gewesen.

Es gibt ein Unternehmen, General Motors mit einem Teil Opel, von dem der amerikanische Staat 60Prozent besitzt; der kanadische Staat besitzt zehnProzent. Wir wussten, dass es in ChapterEleven geschickt wird, und zwar mit der netten Beisumme von insgesamt rund 50Milliarden Dollar das darf man auch nicht ganz vergessen, und dass wir den Trennungsbeschluss, ab dem wir überhaupt erst rechtlich einigermaßen überschaubar handeln können, von den Amerikanern garantiert nicht bekommen hätten, wenn wir gesagt hätten: Unser Plan ist die Insolvenz. Dann hätte nämlich jeder amerikanische Gläubiger gesagt: Das könnt ihr doch nicht machen; dann führen wir als Erstes die Bestverwertung der europäischen Liegenschaften durch.

Uns hat ein Insolvenzanwalt gesagt, es wäre eine unglaublich schöne Rechtserfahrung gewesen, wenn man einmal die Interaktion von ChapterEleven mit dem spanischen, deutschen, britischen und polnischen Insolvenzrecht erlebt hätte. Ich glaube, Tausende von Promotionen hätten in den nächsten 20Jahren darüber geschrieben werden können. Aber, ehrlich gesagt: Ich konnte mich nicht dazu entscheiden.

Jetzt haben wir nichts weiter gemacht, als Opel, soweit das überhaupt möglich ist über den nächsten Investor verhandelt immer noch GM, durch eine rechtliche Abtrennung die Möglichkeit und die Chance zu geben, sich zu entwickeln. Interessiert haben sich drei Investoren. Einer davon war ein Finanzinvestor. Dieser hat gesagt: Kaufmännisch gesehen, herrschte bei GM ein absolutes Missmanagement das ist auch bekannt; die Autos der Opel-Produktion sind aber gute Produkte.

Nun heißt es: Jetzt werden die Märkte bereinigt. Es gibt eine Automobil-Überproduktion. Richtig. Da frage ich mich als deutsche Bundeskanzlerin aber auch: Was ist eigentlich die Aufgabe der deutschen Politik? Dass wir möglichst unauffällig die Marktbereinigung für die Welt erledigen? Das sehe ich nicht als meine Aufgabe an. Es kann nicht sein, dass, wenn wir bessere Produkte als andere Autohersteller auf der Welt haben, die einen mit 50Milliarden Dollar super aus der Sache herauskommen und wir hier, ordnungspolitisch sauber, bessere Produkte vom Markt verschwinden lassen. Deren Herstellern möchte ich wenigstens eine Chance geben.

Arcandor Insolvenz. Opel Sonderfall. Ich nenne Ihnen ein drittes Beispiel: Qimonda. Bei Qimonda sind wir auch, aber sehr unauffällig, den Insolvenzweg gegangen. Aber bei Qimonda ist die Politik durchaus gefordert, den einzigen Cluster für die Chip-Herstellung in Europa AMD, Infineon und Qimonda sind schwierige Fälle soweit zu betreuen, dass man sich überlegen kann: Können wir es schaffen? Denn ich habe bei der CeBIT einen relativ fröhlichen Intel-Chef getroffen, der mit reichlichen Segnungen aus dem amerikanischen Konjunkturprogramm bedacht wurde und der mir mit leuchtenden Augen gesagt hat, dass seine Zukunftsperspektive jetzt eigentlich ganz gut gesichert ist. Das freut mich für Intel. Aber hier arbeiten wir nicht im luftleeren Raum. Im Augenblick werden die Karten in der Welt neu gemischt.

Ich möchte, dass Deutschland stärker daraus hervorgeht, als es in diese Situation hineingegangen ist. Das heißt, wir dürfen, soweit wir das überblicken können, nur zukunftsfähige Arbeitsplätze stützen. Aber ich kann auch nicht die Augen vor dem verschließen, was zahlreiche andere Länder im Augenblick tun, um ihre Arbeitsplätze zu sichern. Es wäre jammerschade, wenn zum Schluss bei gleicher oder etwas besserer Leistung, nur weil wir uns etwas weniger kümmern, Verschiebungen auf der Welt stattgefunden haben, die für uns alle nicht richtig sind.

So wie wir es bei der Kurzarbeit in großer Übereinstimmung tun, bitte ich Sie zu sehen, dass das Bürgschaftsprogramm wichtig sein kann, dass wir dabei versuchen, uns politisch herauszuhalten, und dass wir ganz klare Entscheidungskriterien haben. An jedem Fall über 300Millionen Euro ist der Lenkungsrat zu beteiligen, der im Übrigen aus Vertretern und Persönlichkeiten der Wirtschaft besteht und der die klare Maßgabe erhalten hat, Ratschläge zu geben, die wir dann Schritt für Schritt abarbeiten. Die Kreditmöglichkeiten werden in diesem Sommer so beschränkt sein, dass wir dieses Bürgschaftsprogramm brauchen und es auch nutzen werden, meine Damen und Herren.

Des Weiteren werden zum 1. Juli Entlastungen in Kraft treten. Wir werden in den letzten zwei Sitzungswochen vereinbaren, dass zum 1. Januar 2010 noch einmal erhebliche Entlastungen entstehen; einmal durch die Umsetzung der Verfassungsrechtsprechung, durch das Bürgerentlastungsgesetz, also durch die bessere Absetzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen das allein bedeutet rund zehnMilliarden Euro Entlastung für den Steuerzahler und außerdem durch eine zweite Stufe bei der kalten Progression, sodass wir in das Jahr 2010 mit etwa 14Milliarden Euro zusätzlicher Steuerentlastung starten werden.

Wir haben alles getan, um augenblicklich die Lohnzusatzkosten nicht steigen zu lassen. Wir machen das durch Darlehen. Das wird natürlich schrittweise schwieriger, aber ich glaube, für die Betriebe ist es im Augenblick ganz wichtig, dass sie sich darauf verlassen können.

Was die weiteren Entwicklungen anbelangt, haben wir noch zwei weitere wesentliche Punkte beschlossen, die ich hier noch einmal anführen will.

Das eine ist die Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz. Ich sage Ihnen: Es wäre ohne Wirtschaftskrise nicht zu dieser Verabredung gekommen. Sie ist eine Antwort darauf, dass wir im Augenblick viel zu viele Schulden aufnehmen, und dass wir eine Exit-Strategie, also einen Weg heraus, finden müssen. Dieser Weg ist hart. Bei normalem Wirtschaftswachstum dürfen wir im Jahr 2016 im Bund maximal eine Neuverschuldung in Höhe von 0, 35Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben und die der Länder muss ab 2020 bei Null liegen. Das heißt, wir haben in unserem Land seit den 60er Jahren zum ersten Mal wieder die Chance wie es Ludwig Erhard so selbstverständlich erwähnt hat, nicht mehr auszugeben, als man eingenommen hat. Das haben wir über 40 bis 50Jahre hinweg immer wieder vernachlässigt.

Wenn wir jetzt in die Zukunft schauen, so kommt natürlich der Wahlkampf ins Spiel. Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich jede Entscheidung von Arcandor bis Opel nicht anders getroffen hätte, auch wenn es keinen Wahlkampf gäbe. Aber selbstverständlich wird in den nächsten Monaten in der Frage, wie es nun mit Deutschland weitergeht, eine politische Auseinandersetzung stattfinden. In diese will ich Sie nicht hineinziehen. Ich will nur sagen, dass für mich die Schaffung nachhaltigen Wachstums der Schlüssel dafür sein wird, diese Krise zu überwinden.

Von daher war es gut, dass wir jetzt schon Zukunftsbeschlüsse über die drei Forschungs- und Innovationspakte Exzellenzinitiative, Hochschulpakt und Forschungspakt gefasst haben: bis zum Jahr 2019 zusätzlich 18Milliarden Euro für das deutsche Wissenschaftssystem; klare Berechenbarkeit. Das ist aus meiner Sicht wirklich ein wesentlicher Beschluss. Ich glaube, wir müssen alles daransetzen, um unser Ziel zu erreichen, bis zum Jahr 2015 zehnProzent unseres Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Wissenschaft auzuwenden. Mit den dreiProzent, die wir davon für die Forschung zur Verfügung stellen, sind wir nicht Weltspitze. Das muss man immer wieder sagen. Wir kommen uns toll vor, aber Korea wird in wenigen Jahren bei fünfProzent liegen. Insoweit müssen wir dranbleiben, zumal wir Mitte des nächsten Jahrzehnts einem massiven demografischen Wandel begegnen werden. Auch aus diesem Grund bietet es sich jetzt in hohem Maße an, Brücken zu bauen, um in der Zeit, in der Arbeitskräfte knapp werden, noch genügend Fachkräfte haben werden.

Wir müssen auch jene, die die Stärken unseres Landes repräsentieren das sind die Facharbeiter, das sind die Meister, das sind die Ingenieure, motivieren. Deshalb glaube ich, dass wir den Leuten auch maßvolle Entlastungen im Sinne der nicht dauernd wirkenden kalten Progression in Aussicht stellen sollten. Darum gibt es einen Kampf, aber es wird sehr viel maßvoller ausfallen.

Außerdem müssen wir die Haushaltskonsolidierung bewältigen. Das heißt: Bei allem, was wir bei einem erneuten Wachstum an Mehreinnahmen haben, sollten wir nach meiner Auffassung in einem Dreiklang vorgehen: Haushaltskonsolidierung, Zukunftsinvestitionen in Innovation und Bildung und keine höhere Belastung beziehungsweise, wenn möglich, eine Entlastung.

Dies müssten wir mit einer aus meiner Sicht etwas sinnvolleren Energiepolitik kombinieren. Ich sage das als Regierungschefin ganz vorsichtig. Als CDU-Chefin könnte ich jetzt auf die Pauke hauen und sagen: Wenn wir den Ausstieg aus der Kernenergie wieder rückgängig machen und nicht zulassen, dass wir bei jedem Kohlekraftwerk unsinnige Konflikte bekommen, und gleichzeitig in Energieeffizienz und in erneuerbare Energien investieren, dann haben wir auch als Energiestandort eine Chance. Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke auf der Welt in den nächsten Jahren gebaut werden, dann wäre es wirklich jammerschade, sollten wir aus diesem Bereich aussteigen.

Deutschland muss auch nicht gerade so viele Kilowattstunden produzieren, wie es selbst verbraucht. Wenn es noch eine in ein anderes Land Europas schickt, so geht davon die Welt auch nicht unter. Inzwischen wird aber so getan, als ob wir eine Art Drosselung haben müssten, plötzlich nur noch den Strom produzieren sollen, den wir selber verbrauchen, wie wir überhaupt eine Tendenz haben, nunmehr, angesichts der Globalisierung, stark darüber zu diskutieren, wer eigentlich wessen Strom erzeugt und wer wessen CO2 -Molekül bei der CCS-Speicherung nimmt.

Ich sehe schon das nächste Problem auf uns zukommen. Neulich habe ich bei einer Veranstaltung im Rahmen des Europawahlkampfs in Flensburg gesagt, man solle sich jetzt vor den Mineralwasserflaschen hüten, weil sich darin ja auch Kohlendioxid befinde. Aber mein Scherz ist an dieser Stelle wie immer nicht gut angekommen. Wenn aber die Menschen so denken, dann spricht es nur dafür, dass wir in Bildung noch mehr investieren müssen.

Meine Damen und Herren, ich möchte mit einem herzlichen Dankeschön schließen. Bei allem, was es an öffentlicher Diskussion gibt, habe ich in den letzten 20Jahren selten vielleicht nie ein so hohes Maß an Verantwortung und gemeinsamem Durchstehen einer Krise gesehen. Das kann man an der Zahl der Auszubildenden, an der Ingenieursinitiative, an der Frage, wie Kurzarbeit in Anspruch genommen wird, festmachen. Dieses Land hat sich in seinen Strukturen ich schließe die Gewerkschaften mit ein auch in der Art und Weise bewährt, wie wir diese schockartige Veränderung unserer Lage bewältigt haben.

Wir wollen politisch alles dazu beitragen, dass dies in den nächsten Monaten weiter gelingt. Dazu gehört ein Stück Optimismus, ein Stück Selbstbewusstsein, das Sie uns als global player und Vertreter wichtiger Unternehmen geben können, und dazu gehört ein Stück Bereitschaft der Politik, nichts zu tun, was Sie jetzt weiter belastet, beschwert, deprimiert oder demotiviert. Ich weiß, dass es einige Themen gibt, meinetwegen die Managerhaftung, die Ihnen schwer auf dem Magen liegen. Ich bitte an dieser Stelle nur um Verständnis. Denn in den letzten Jahren sind natürlich auch Dinge passiert, die wir uns alle so nicht gewünscht haben. Das darf nicht zur Generalisierung führen, aber das hat natürlich manche Diskussion gefördert.

Insgesamt haben wir uns als starkes Land erwiesen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam international dafür kämpfen, dass es keinen Protektionismus gibt, dass wir unsere Interessen im transatlantischen Verhältnis und bei anderen Handelspartnern deutlich machen können. Lassen Sie uns dafür kämpfen, dass wir im Lande das Beste aus dieser schwierigen Situation machen, dass wir, auch in der akuten Krise, immer die Kraft dazu haben, über den Tellerrand der nächsten Jahre zu schauen und zu fragen, wohin wir wollen, wo wir 2015, wo wir 2020 stehen, und dass, wenn die Karten dann neu gemischt sind, Deutschland weiter als eine starke Exportnation und als ein intelligentes, motiviertes und kreatives Land dasteht.

Danke, dass ich heute bei Ihnen sein durfte.