Redner(in): Thomas de Maizière
Datum: 18.06.2009

Untertitel: "Die gesellschaftliche Verantwortung der Christen heute"
Anrede: sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_914560/Content/DE/Rede/2009/06/2009-06-18-chefbk-internationale-begegnung,layoutVariant=Druckansicht.html


Exzellenzen,

lieber Herr Decker,

herzlichen Dank für die Einladung zur mittlerweile 14. Internationalen Berliner Begegnung.

In Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wie wir sie momentan erleben, ruft nicht nur die Wirtschaft wieder mehr nach dem Staat, auch wir Politiker werden uns noch mal mehr unserer Verantwortung für die Gesellschaft bewusst.

Viele Entscheidungen, die wir als Bundesregierung in den letzten Wochen treffen mussten, sind uns nicht leicht gefallen. Über menschliche Schicksale und Existenzen verhandelt man nicht mal so eben am grünen Tisch.

Das gilt für mich persönlich auch deshalb, weil ich nicht nur Politiker, sondern auch Christ bin. Mein Handeln muss ich immer auch vor dem Hintergrund unserer christlichen Werte bewerten. Eine wichtige Grundlage ist für mich dabei eine der zentralen Schriften von Martin Luther, und zwar die "Von der Freiheit eines Christenmenschen".

In dieser Schrift stellt Luther zwei Sätze nebeneinander, bei denen der eine scheinbar das Gegenteil vom anderen behauptet: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan."Das ist der erste Satz. Und dann heißt es gleich weiter:" Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."

Was gilt denn nun? Untertan oder nicht? Luther erklärt, dass allein der Glaube selig mache. Kein einziges gutes Werk sei dazu nötig. Damit befreie der Glaube von der Last, nur durch das eigene Handeln vor Gott bestehen zu können: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan."

Das lässt sofort die Frage aufkommen: Kann der Gläubige also müßig gehen und sich faul zurücklehnen? Ersetzt der Glaube die Tat? Dem widerspricht Luther energisch. Nein, ganz im Gegenteil. Wer wahrhaft glaubt, wird nicht müßig gehen, noch sich faul zurücklehnen. Denn aus dem Glauben fließt die Tat.

Wer glaubt, der handelt aus freien Stücken und zur Freude Gottes. Und das heißt zugleich, sich in den Dienst des Nächsten zu stellen, Gutes zu bewirken. Die Freiheit von etwas ist zugleich die Freiheit zu etwas."Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Beide Sätze gehören zusammen.

Luther legt viel Wert auf die korrekte Richtung des Zusammenhangs: Ein erlöster Mensch bewirkt gute Werke. Aber gute Werke bewirken keine Erlösung des Menschen. Ein guter Baum trägt gute Früchte. Aber gute Früchte machen keinen guten Baum. Ein guter Zimmermann fertigt einen guten Schrank. Aber ein guter Schrank macht keinen guten Zimmermann. So argumentiert Luther.

Luther skizziert damit, wie wir zum Wohle der Gesellschaft wirken können. Nicht indem wir uns bemühen, Gott und den Menschen mit unseren Taten zu gefallen. Nein. Die Basis ist der Glaube. Er macht frei frei zu guten Werken.

Wer Freiheit allein als Freiheit von etwas versteht von Bindung, von Pflichten, von Verantwortung wer Freiheit so versteht, missversteht sie. Die Freiheit des Menschen ist immer auch zugleich die Freiheit zu etwas. Sie ist eine Freiheit, die Kraft verleiht. Sie ist eine Freiheit, die den anderen Menschen zugewandt ist. Sie ist eine Freiheit, die zum Wohle aller wirkt.

Ich bin fest davon überzeugt: Verantwortung, die aus einem festen Glauben übernommen wird, tut gut, uns und allen.

Die Herausforderungen, die sich uns heute stellen, sind kompliziert. Wie sich das Versagen der Finanzsysteme auf längere Sicht auswirkt? Darüber bestehen viele Ansichten. Was das richtige Gegenmittel ist? Da existiert eine Reihe von Lösungsvorschlägen. Für fast jeden gibt es triftige Gründe. Wie wir auf Unsicherheit insgesamt reagieren? Da sind ja gerade ganz unterschiedliche Haltungen zu beobachten: Von Panikmache bis zu Heilsversprechungen. Der Spannungsbogen ist weit.

Die Herausforderungen, die sich heute stellen, sind zudem vielfältig. Die Finanzkrise ist nur eines der großen Themen, das uns die Globalisierung spüren lässt. Wir sind über die Ländergrenzen, über die Kontinente hinweg in vielerlei Hinsicht vernetzt: Wenn in den USA eine Bank zugrunde geht, reißt das auch in Deutschland Lücken. Das gleiche gilt für Betriebe fast aller Wirtschaftszweige. Wenn in Mexiko eine neue Form der Grippe ausbricht, dann müssen auch wir sofort reagieren. Wenn sich in Afghanistan die Sicherheitslage verschlechtert, dann sind auch wir wieder stärker vom Terror bedroht. Und wenn der Regenwald abgeholzt wird, spüren wir das an unserem Klima.

Mit diesen Herausforderungen müssen wir gemeinsam handeln. Wir benötigen Strategien, die uns stärken und das Leben aller verbessern. Und um sie zu finden, sind Sachverstand, klare Leitlinien, Kraft, auch Macht und eine gute Portion Zuversicht erforderlich.

Zwar prägen konkrete Fakten, Daten und Nachrichten unsere Sicht auf die Welt. Die bestmögliche Kenntnis der konkreten Lage und der unterschiedlichen Handlungsoptionen bilden die Grundlage für eine Entscheidung. Arbeit am Sachverhalt, die Analyse der Wirklichkeit, die Prüfung des Machbaren, all dem können Christen mit dem Verweis auf den Glauben nicht ausweichen. Aber dieselbe Lagebeschreibung kann zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen.

Entscheidend für den Weg, den der Einzelne wählt, sind seine Leitbilder und Überzeugungen, denen er vertraut und folgt. Sie geben den Entscheidungen eine Richtung.

Mein Leitbild ist das christliche Menschenbild und Weltverständnis. Dem versuche ich zu entsprechen.

Da gibt es gewiss Nuancen in den Schlussfolgerungen, die wir treffen. Schließlich auch das habe ich bereits angedeutet ist die Auslegung im konkreten Fall nicht immer eindeutig. Aber die Grundrichtung ist vorgegeben.

Dass eine Grundausrichtung überhaupt besteht, ergibt sich eigentlich ganz automatisch. Denn Politik ist immer Politik von Menschen für Menschen.

Jeder Politiker ist auf seine Weise von Traditionen, Grundsätzen und moralischen Überzeugungen bestimmt. Sie haben Einfluss auf seine Politik. Zugleich trifft ein Politiker Entscheidungen mit Blick auf seine Wähler, mit Blick auf deren Traditionen, Grundsätze und moralischen Überzeugungen. Und das ist nicht nur legitimes Werben bei einer Wahl. Sondern da geht es um den vertrauensvollen Umgang mit den Interessen der Wähler.

Wer jedoch die Treue zum eigenen Fundament verliert, gerät oft heftig ins Schlingern.

Ich bin der Ansicht: Der Glaube hat auch noch eine andere wichtige und zugleich tröstende Wirkung in der Politik. Er zeigt Grenzen auf.

Der Glaube bewahrt nicht nur davor, dass der Staat seine Kompetenz überschätzt. Er lässt jeden einzelnen selbst seine Grenzen spüren.

Auch an diesem Punkt lohnt der Rückgriff auf Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Ganz unmissverständlich hält sie fest: Dem Menschen fehlt die Kraft, aus sich heraus Gottes Gebot in allem zu erfüllen. Er wird immer auch fehlgehen, ganz egal wie sehr er sich müht. Das gehört zum Menschen dazu. Gerecht wird er nur durch die Verbindung mit Jesus Christus im Glauben.

Und das heißt für jeden von uns: Misserfolge gehören dazu. Sie sind aber kein Grund zu verzweifeln. Genau wie Erfolge kein Grund zu Übermut sind. Wer in Gott die Quelle seiner Lebenskraft sieht, freut sich dankbar, wenn sich die Mühe einmal wieder gelohnt hat.

Lassen Sie uns Gelegenheiten nutzen, uns auch durch verantwortungsvolles Handeln in Freiheit im Glauben zu stärken. Damit wir zielgerichtet Entscheidungen zum Wohle aller treffen können. Damit wir Engagement und Gemeinschaft fördern. Damit wir Zuversicht gewinnen, um Herausforderungen anzupacken. Das wird uns davor bewahren, angesichts großer Fragen in Untergangsstimmung zu verfallen.

Und weil ich so viel von Martin Luther gesprochen habe, muss ich zum Schluss natürlich auch an das Apfelbäumchen erinnern. Von Martin Luther soll der Ausspruch stammen: "Auch wenn ich wüsste, dass die Welt morgen unterginge, pflanzte ich noch heute einen Apfelbaum." Vermutlich ist der Satz dem Reformator nachträglich in den Mund gelegt worden. Aber es liegt nahe, ihm den Spruch zuzuordnen. Er ist geradezu zum Symbol christlicher Hoffnung geworden.