Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.09.2000

Anrede: Sehr geehrter Rabbi Schneier, sehr geehrter Herr Kissinger, lieber Romano, Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/39/17939/multi.htm


Ich bedanke mich zunächst für diesen überaus freundlichen Empfang hier. Es ist für mich ein bewegender Moment, diese sehr ehrenvolle Auszeichnung entgegenzunehmen."World Statesman", das ist ein anspruchsvoller Titel. Er drückt - für mich jedenfalls - mehr Erwartung als bereits gelieferte Leistung aus. Er drückt die hohe Erwartung aus, dass es dem Träger gelingt, seinem Staat zu dienen, wie in der internationalen Politik Verantwortung zu übernehmen. Deshalb danke ich Ihnen, lieber Henry Kissinger, für die ermutigenden Worte, die Sie gefunden haben.

Als Teilnehmer des Millenniums-Gipfels der Vereinten Nationen will ich auch von hier aus den Bürgern der Stadt New York für ihre großartige Gastfreundschaft danken. Die Staats- und Regierungschefs der Welt sind hier zusammengekommen, um gemeinsam nach Wegen zu suchen, wie wir als Weltgemeinschaft die Chancen des neuen Jahrhunderts nutzen, aber auch seine Herausforderungen meistern können.

Die Weltgemeinschaft ist aber nicht nur eine Gemeinschaft der Völker und Staaten, sondern auch der Kulturen und Religionen. Gerade dem Dialog zwischen den Religionen widmet sich die "Appeal of Conscience Foundation" mit großem Engagement und ebenso großem Erfolg. Ihr Wirken für die Verständigung zwischen Christen, Juden und Moslems in aller Welt verdient hohe Anerkennung. Sie wendet sich entschieden dagegen, Religion, die doch der Nächstenliebe verpflichtet ist, als Vorwand für Ausgrenzung, Unterdrückung und Krieg zu missbrauchen. Für Ihren langjährigen Einsatz, verehrter Rabbi Schneier, für dieses hohe Ziel wird Ihnen jeder hier danken.

Das vergangene Jahrhundert ist zu Recht das "Jahrhundert der Extreme" genannt worden. Politische Ideologien haben Träume der Menschen von einer besseren Welt ausgenutzt und pervertiert und sie in Krieg, totalitäre Herrschaft und schreckliche Verbrechen geführt. Für das 21. Jahrhundert brauchen wir eine internationale Ordnung, die auf den Werten beruht, die wir auch in unserem persönlichen Leben, im Umgang etwa mit unseren Nachbarn und Mitbürgerinnen und Mitbürgern, schätzen. Sachliche Zusammenhänge, die Verflechtung unserer Schicksale, haben uns schon längst zu einer Weltgemeinschaft werden lassen. An uns selbst liegt es aber - das ist die große Herausforderung dieses Jahrhunderts - , uns auch wirklich als eine Gemeinschaft zu definieren und vor allem als eine solche Gemeinschaft zu handeln.

Diese Herausforderung richtet sich an alle - an Regierungen und Organisationen ebenso wie an jeden einzelnen von uns. Was wir brauchen, um dieser Herausforderung gerecht zu werden, sind zuerst und vor allem Toleranz, Offenheit für Fremde und Fremdes. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Vielfalt und der Verschiedenartigkeit. Verschiedenartigkeit ist Reichtum. Kaum irgendwo lässt sich das besser beobachten als hier in den Vereinigten Staaten. Ich glaube, dass die Erfolgsgeschichte dieses Landes viel damit zu tun hat, dass sich hier die Talente, Fähigkeiten und die Kreativität von Menschen aus aller Welt vereinigen und auch entfalten können. Diese Vielfalt setzt Kräfte frei und stärkt die Fähigkeit zur Innovation.

Dass die amerikanische Gesellschaft sich durch Risikobereitschaft auszeichnet, das ist nicht zuletzt das Erbe von Generationen von Einwanderern. Einwanderung ist nie eine Routineangelegenheit - weder für die, die einwandern, noch für diejenigen, die neue Nachbarn bekommen. Dafür bietet sie aber auch beiden neue Chancen und Möglichkeiten - wenn sie mit Offenheit einhergeht statt mit Angst oder gar Ablehnung. Für mich ist es ein zentrales Anliegen, dass auch Deutschland ein offenes und attraktives Land für Menschen der unterschiedlichsten Völker und Religionen aus allen Teilen der Welt ist und bleibt.

Viele werden es vielleicht nicht wissen, auch viele meiner Landsleute nicht: Der Anteil der im Ausland geborenen Menschen an der Bevölkerung ist in Deutschland inzwischen ebenso so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Das ist der Hintergrund, vor dem meine Regierung das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert und so den Menschen die Einbürgerung erleichtert hat. In den vergangenen Monaten gab es in Deutschland leider wiederholt Gewaltverbrechen und Übergriffe gegen Ausländer, Minderheiten und Schwächere. Ich möchte Ihnen mit Entschiedenheit vermitteln: Diese Verbrechen sind nicht Deutschland. Sie werden von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen mit Abscheu und Empörung verurteilt.

Die Bundesregierung unternimmt derzeit alles, um dem Rechtsextremismus den Boden zu entziehen, um die Gewalt und die zugrunde liegenden Geisteshaltungen einer Minderheit entschlossen zu bekämpfen. Das geschieht nicht nur aus Gründen der Bewahrung des staatlichen Gewaltmonopols. Nein, dazu verpflichtet uns auch die Erinnerung an die Verbrechen, die zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von Deutschen und in deutschem Namen begangen worden sind. Niemand wird das Unrecht je wiedergutmachen können, das in jener Zeit geschehen ist. Aber die Bundesrepublik Deutschland hat versucht, zumindest in materieller Weise Entschädigung zu leisten. In intensiven Verhandlungen ist es uns nun auch gelungen, eine Bundesstiftung zu errichten, mit der endlich Leistungen in Milliardenhöhe zugunsten ehemaliger Zwangsarbeiter möglich werden. Dieses Ergebnis ist maßgeblich mit dem Namen meines persönlichen Beauftragten, Otto Graf Lambsdorff, verbunden. Ich freue mich besonders, dass er heute unter uns ist.

Toleranz und Offenheit sind Werte, die nicht nur das Zusammenleben in unseren Städten und Ländern bestimmen, sondern auch wichtige Grundlage der internationalen Politik bilden müssen. Denn die Koexistenz verschiedener Kulturen, ethnischer Gruppen und Religionen bereichert uns alle. Nehmen wir nur unser altes Europa: Noch vor einigen Jahrzehnten glaubte man, dass die großen europäischen Nationen miteinander in einem naturgegebenen Kampf lägen, dass der Gewinn der einen notwendigerweise der Verlust für die anderen sein müsste. Heute ist diese Vorstellung endgültig überholt. Wir anerkennen und wahren in Europa unsere Verschiedenheit, und wir setzen gleichwohl Schritt für Schritt den Prozess der Integration fort. Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass es möglich ist, jahrhundertealte Konflikte zu überwinden. Dies ist der wahre Kern der Europäischen Union. Auf dem Weg zu einer Weltgemeinschaft müssen Offenheit und Toleranz mit der Bereitschaft zu Diskussion und Dialog einhergehen. In der Politik gibt es historische Beispiele dafür, wie die Bereitschaft zum Dialog Großartiges hervorbringen kann.

Für meine Generation von Deutschen war die Ostpolitik Willy Brandts und Helmut Schmidts ein prägendes Erlebnis. Als sie begonnen wurde, war Deutschland geteilt. Mitten durch Berlin verlief die Mauer. Als Regierender Bürgermeister im geteilten Berlin hat Willy Brandt den Gegensatz zum kommunistischen Staatsverständnis besonders unmittelbar erlebt. Er hat dennoch den Dialog begonnen, der zunächst Erleichterungen für die Menschen ermöglichte und längerfristig wesentlich dazu beigetragen hat, dass das auf Abschottung beruhende System des Ostens von innen her aufgeweicht werden konnte.

In den USA und der Welt ist der Name "Camp David" zum Synonym für mutige Gespräche auf der Suche nach Verständigung und Gemeinsamkeit geworden. Ich möchte gerade hier Präsident Clinton meinen Respekt und meine Anerkennung aussprechen für seine unermüdlichen Anstrengungen für einen dauerhaften und gerechten Frieden im Nahen Osten. Deutschland und die Europäische Union werden das Ihre tun, um diesen Prozess tatkräftig materiell und politisch zu unterstützen.

In Nordirland haben sich Katholiken und Protestanten an einen Tisch gesetzt und trotz aller Schwierigkeiten Pläne für eine gemeinsame Zukunft entwickelt. Das Gipfeltreffen der Präsidenten von Süd- und Nordkorea, mit dem nach 50 Jahren des Schweigens wieder ein Dialog auf der koreanischen Halbinsel eingeleitet worden ist - all dies macht hoffnungsvoll für das 21. Jahrhundert.

Die engen Beziehungen, die die Demokratien Europas und Nordamerikas dauerhaft verbinden, haben nichts von ihrer Bedeutung verloren. Diese Freundschaft ist lebendig, weil sie auf einer Wertegemeinschaft beruht, auf einem gemeinsamen Verständnis von Demokratie, der Würde des Menschen und seiner unveräußerlichen Rechte, auf der gemeinsamen Überzeugung des Wertes der Freiheit. Für eine funktionierende Weltgemeinschaft ist es aber erforderlich, einen Dialog nicht nur mit denen zu führen, die unsere grundlegenden Werte und politischen Herangehensweisen schon heute teilen. Nein, wir müssen auch solche Länder offensiv ansprechen, die sich bislang bewusst isolieren oder durch ihr eigenes Verhalten in die Isolierung geraten sind. Damit geben wir keineswegs Werte auf, sondern wir treten aktiv für sie ein. Zum Beispiel für unsere Überzeugung, dass ein Kernbestand an Menschenrechten, niedergelegt in den großen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen, allen Kulturen dieser Welt gemeinsam ist oder jedenfalls werden muss. An ihrer universalen Geltung ändert auch der Grundsatz der Souveränität eines jeden Staates nichts. Respekt vor der Souveränität des Gesprächspartners ist eine Grundregel der internationalen Beziehungen.

Aber die Beachtung dieser Grundregel kann nicht bedeuten, dass wir die Augen vor dem verschließen, was im Inneren anderer Staaten geschieht. Souveränität des Staates kann kein Schutzschild für Regierungen sein, die Kriegsverbrechen begehen oder systematische Menschenrechtsverletzungen zulassen. Zu einer handlungsfähigen Weltgemeinschaft gehört schließlich und insbesondere die Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Solidarität untereinander. Wir alle sind dazu aufgerufen, und wir sind alle auf sie angewiesen.

Ich fand es bemerkenswert, in der Rede von Herrn Vasella zu hören, dass sich dieser Gedanke auch mehr und mehr in der Geschäftswelt durchsetzt. Denn ebenso wie er, glaube ich, dass auf Dauer vernünftiges Wirtschaften nur dann möglich ist, wenn auch der Schwächere eine Chance bekommt bzw. behält. Wir brauchen Zusammenarbeit bei der Bewältigung von Armut und Unterentwicklung, und zwar nicht weniger, sondern mehr. Wir brauchen Zusammenarbeit zum Schutz und zur Bewahrung der Schöpfung und der natürlichen Lebensgrundlagen. Wir brauchen nicht zuletzt Zusammenarbeit bei der Vorbeugung von Konflikten und, wo nötig, bei deren Bewältigung. Wir Deutschen sind dankbar für die Hilfe und Solidarität, die wir selbst in den vergangenen Jahrzehnten von vielen anderen Nationen erfahren haben. Auch deswegen ist unsere Außenpolitik eine Politik der Solidarität zwischen den Völkern und eine Politik der gemeinsamen Verantwortung für eine friedliche Welt.

Die USA und die westeuropäischen Staaten haben nach 1945 mit der Bundesrepublik eine bleibende Freundschaft begründet. Nur auf dieser festen Basis konnte die Politik des Dialogs mit der DDR und unseren östlichen Nachbarn über die Grenzen der damaligen Blöcke hinweg geführt werden. Am Ende dieses Weges wurde die Berliner Mauer am 9. November 1989 eingedrückt, und zwar von den Menschen im Osten unseres Landes. Ohne die Bürgerbewegungen in unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarländern wäre die friedliche Revolution der Bürgerinnen und Bürger in der DDR nicht möglich gewesen. Ohne die verlässliche Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und allen voran der Vereinigten Staaten von Amerika hätte Deutschland vor zehn Jahren seine staatliche Einheit nicht wiedererlangt. Daran denken wir, wenn wir heute mit erheblichen Mitteln die Reformstaaten des Ostens auf ihrem manchmal nicht sehr einfachen Weg unterstützen.

Die Weltwirtschaft ist in den letzten zehn Jahren um mehr als ein Viertel gewachsen. Aber drei Viertel dieses Wachstums erfolgte in den traditionellen Industriestaaten - in Nordamerika, Westeuropa und Japan. Die Hälfte der Weltbevölkerung lebt weiterhin mit weniger als zwei Dollar pro Tag; 1,2 Milliarden Menschen mit einem Dollar oder mit noch weniger. Mehr noch: Die Lage dieser Menschen hat sich trotz der dynamischen Entwicklung der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren nicht wirklich gebessert. Das ist der Grund, warum wir im vergangenen Jahr im Kreis der G 8 in Köln eine Initiative beschlossen haben, um hochverschuldete arme Entwicklungsländer in einem bisher nicht gekannten Ausmaß zu helfen. Die begünstigten Länder verpflichten sich, die freigewordenen Mittel für die Bekämpfung von Armut und für Zukunftsinvestitionen einzusetzen.

Finanzielle Hilfe bleibt auch weiterhin unverzichtbar, wenn wir alle Länder auf den Weg der nachhaltigen Entwicklung und der Integration in die Weltwirtschaft bringen wollen. Europa - auch Deutschland - leistet hierzu einen entscheidenden Beitrag. Mehr als die Hälfte der Entwicklungshilfe in der Welt kommt aus den Ländern der Europäischen Union. Wir sind durchaus stolz darauf. Unsere Zusammenarbeit muss auch der Verantwortung für die Schöpfung gerecht werden. Die Verbesserung der Lebensumstände auf unserem Planeten muss nachhaltig, ökologisch verträglich und ressourcenschonend erfolgen. Wir tragen gemeinsam Verantwortung dafür, unseren Kindern und Enkeln eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen, in der klare Luft und sauberes Wasser keine Privilegien für einige Wenige sind.

Das Zentrum internationaler Zusammenarbeit sind die Vereinten Nationen. Für meine Regierung ist es ein vorrangiges außenpolitisches Ziel, die Weltorganisation zu stärken und ihre Handlungsfähigkeit zu verbessern. Die Vereinten Nationen sind der Ort, wo wir unsere gemeinsame Verantwortung in konkretes Handeln umsetzen müssen und können. Das ist übrigens der Grund, warum wir zurzeit alle hier in New York versammelt sind. Offenheit und Toleranz, Dialog und Diskussion, Zusammenarbeit und Solidarität - es wäre falsch, dies alles immer nur von anderen zu erwarten. Zunächst und zuerst liegt es an uns selbst, diese Verhaltensweisen vorzuleben.

Ich nehme diese Auszeichnung als eine persönliche Ermutigung an, weiter für gegenseitiges Verständnis, Toleranz und Pluralismus einzutreten. Wir gehen mit großen Chancen in ein neues Jahrhundert. Darum sollten wir alles daran setzen, eine bessere Gemeinschaft aufzubauen und damit auch für künftige Generationen eine lebenswerte Zukunft zu sichern. Die deutsche Bundesregierung will hierzu ihren Beitrag leisten. Ich werde weiterhin versuchen, das, was ich persönlich dafür tun kann, auch meinerseits beizutragen. Ich bedanke mich noch einmal herzlich für diese hohe Auszeichnung und danke Ihnen für Ihr Kommen am heutigen Abend.