Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 14.09.2000

Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/17/18317/multi.htm


Anrede! Es ist gerade zwei Generationen her, dass sich Deutsche und Franzosen als Gegner, als Feinde gar begegneten. Und wer sich heute zweifelnd fragt, ob die Menschen im ehemaligen Jugoslawien je wieder friedlich zusammen leben werden, der mag Zuversicht schöpfen aus der Erfahrung, dass Deutsche und Franzosen, die sich unversöhnlich gegenüber standen, heute Motor und Symbol der europäischen Integration sind.

Es muss schwer gefallen sein, den Blick nach vorn zu richten. Die Vergangenheit nicht zu vergessen, aber aus der Erinnerung an Hass und Gewalt - und ihre schrecklichen Folgen - in gemeinsamer Verantwortung für ein friedliches Europa die Zukunft zu gestalten.

So wie die deutsch-französische Freundschaft den Grundstein für die Europäische Gemeinschaft legte, so ist die deutsch-polnische Aussöhnung und Partnerschaft ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Vollendung der Einheit unseres Kontinents.

Die Europäische Union der 15 ist auf diesem Weg nur ein Zwischenschritt. Erst nach der Aufnahme der Beitrittsstaaten aus Mittel- und Südosteuropa wird die Europäische Union ihren Namen wirklich zu Recht führen.

Die Erweiterung bringt für alle Europäer, in den bisherigen wie in den zukünftigen Mitgliedstaaten, ungeheure neue Möglichkeiten. Wirtschaftlich durch die Ausdehnung des europäischen Binnenmarktes, sicherheitspolitisch dadurch, dass Frieden und Stabilität gerade im Osten und Südosten des Kontinents auf eine solidere Basis gestellt werden.

Diese große Vision bedeutet heute ein gerütteltes Maß an politischer Alltagsarbeit. Die Beitrittsländer müssen das Gemeinschaftsrecht übernehmen und sie müssen ihre Wirtschaft, ihre Verwaltungen und die Bürgerinnen und Bürger auf die Mitgliedschaft vorbereiten.

Aber auch die jetzigen Mitgliedstaaten stehen vor nicht geringeren Aufgaben.

Das wird deutlich an dem außergewöhnlich großen und anspruchsvollen Arbeitsprogramm, bei der Vorbereitung der Tagung des Europäischen Rates in Nizza im Dezember. Dort steht neben der Schaffung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Erarbeitung einer Grundrechtscharta vor allem die institutionelle Reform der Union auf dem Plan. Sie muss erfolgreich zum Abschluss gebracht werden.

Die Bundesregierung hat erklärt, dass sie die französische Präsidentschaft vorbehaltlos unterstützen wird. Deutschland und Frankreich stimmen ihre Positionen laufend und auf allen Ebenen miteinander ab.

Wir sind uns einig:

Eine Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten kann nicht nach dem Prinzip der Einstimmigkeit arbeiten. Wir setzen uns daher gemeinsam dafür ein, Mehrheitsentscheidungen in allen Bereichen einzuführen - bis auf wenige besonders begründete Ausnahmen, etwa dort, wo es um europäische Militäreinsätze gehen wird.

Wir wollen eine Kommission, die nicht mit jedem neuen Beitritt größer und schwerfälliger wird.

Wir wollen die Stimmengewichtung im Rat aktualisieren.

Und wir wollen für solche Fälle, in denen neue Integrationsprojekte nicht die Zustimmung aller Staaten finden, mehr Flexibilität schaffen. Kleinere Gruppen von Staaten sollten die Möglichkeit haben, voranzugehen.

Diese Verbesserungen sind wichtig und sie sind Voraussetzungen für die Erweiterung. Sie werden aber nicht den Endpunkt der Entwicklung der Europäischen Union darstellen.

Das Gebäude der Verträge, das in den vergangenen Jahrzehnten immer komplizierter geworden ist, bedarf einer grundsätzlichen Überarbeitung. Deutschland und Frankreich haben gemeinsam eine Debatte angestoßen.

In wegweisenden Reden haben Präsident Chirac und Bundesminister Fischer erste Vorstellungen zur Zukunft der Europäischen Union entwickelt. Der Bundeskanzler hat diesen Überlegungen seine volle Unterstützung gegeben. Er hat vor allem einen Punkt herausgestellt:

Die europäischen Bürger haben angesichts des fortschreitenden Integrationsprozesses, der immer mehr Bereiche des Lebens betrifft, einen Anspruch auf eine echte Verfassung, die präzise und für jedermann verständlich ist. In ihr müssen die Verantwortlichkeiten der europäischen Institutionen und die ihnen gesetzten Schranken klar und erkennbar geregelt sein.

Sie muss einen verbindlichen Katalog von Grundrechten enthalten und sie muss die Gewaltenteilung zwischen den Brüsseler Institutionen in demokratischer Weise regeln.

Es gibt eine Entwicklung, die mir Sorge bereitet. Europa ist für Jugendliche heute eine Selbstverständlichkeit. Und das ist gut so. Doch ich fürchte, dass gerade deshalb der europäische Integrationsprozess auf wenig Interesse stößt. Hinzu kommt, dass mangelnde Transparenz und das Gefühl, europäische Institutionen regierten mehr und mehr und ohne unmittelbare Legitimation in alle Lebensbereiche hinein, Misstrauen wecken.

Die europäische Einigung ist heute nicht mehr in erster Linie eine Frage von Krieg und Frieden. Diese Motivation der Nachkriegsgeneration verblasst angesichts des Erfolgs der europäischen Integration.

So ist es an uns, ein neues Leitbild zu entwickeln. Nicht nur technokratische Diskussionen zu führen um institutionelle Reformen, left overs von Amsterdam usw. , sondern neue Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen.

Die Zeit für eine europäische Verfassungsdiskussion ist gekommen!

Nach dem Europäischen Rat von Nizza wird diese Debatte im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Ich wünsche mir, dass sie in den kommenden Jahren von einer kritischen Öffentlichkeit nicht nur verfolgt, sondern auch mitgestaltet und mitbestimmt wird.

Das Geflecht von zwischenmenschlichen Beziehungen in Europa, zu dem ja nicht zuletzt die Städtepartnerschaften beitragen, ist für eine solche Diskussion eine wichtige Voraussetzung.

Die gesellschaftliche Basis der europäischen Einigung ist heute wichtiger als je zuvor. Es liegt an uns, sie zu festigen und lebendig zu machen. Denn das Zusammenwachsen Europas wird nicht allein von Regierungen und Parlamenten bestimmt. Die Grundlage sind persönliche Kontakte von Bürgerinnen und Bürgern in Kommunen, Vereinen, Orchestern und Schulen.

Menschen, die neugierig aufeinander sind, die sich kennen- und schätzenlernen, die Partner und Freunde werden.

Die Partnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard hat vor 50 Jahren den Anfang gemacht zu der großen Bewegung der deutsch-französischen Städteverbindungen. Heute gibt es mehr als zweitausend solcher Partnerschaften allein zwischen Frankreich und Deutschland.

Immer wieder hat es in den vergangenen Jahrzehnten in der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich auch schwierige Phasen gegeben - aber immer stand die öffentliche Meinung klar auf der Seite der Partnerschaft und der gemeinsamen Arbeit.

Und immer konnten die Regierungen auf dieser Basis weitere Schritte in Richtung auf das gemeinsame europäische Ziel tun.

Auch die Verständigung und Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen hat große Fortschritte gemacht. Ich denke hierbei nicht zuletzt an die wichtige Rede, die Minister Bartoszewski 1995 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat. Aus gegenseitigem Kennen- und Verstehenlernen sind Vertrauen und Partnerschaft entstanden.

Auch zu diesem Prozess haben Städtepartnerschaften einen großen Beitrag geleistet - dass es zwischen Deutschland und Polen heute bereits 300 davon gibt, ist ein anschaulicher Beweis

für die Lebendigkeit dieser neuen Partnerschaft in der Mitte Europas.

Wir erwarten, dass nach einem baldigen EU-Beitritt Polens auch die deutsch-polnische Zusammenarbeit ein Motor für die europäische Integration sein wird, sowie es die deutsch-französische Partnerschaft ist und bleiben wird.

In der europäischen Integration könnte kein Schritt voran getan werden, wenn Deutschland und Frankreich sich nicht einig wären. Das bedeutet eine große Verantwortung. Unsere Partner erwarten von uns, nicht zu blockieren, sondern im Gegenteil der Zusammenarbeit Impulse zu geben und Beiträge zu leisten zur Konsensbildung im europäischen Kreis. Ich bin sicher, dass sich auch die Länder dieser Verantwortung bewusst sind.

die Resonanz auf Ihre Einladung hat gezeigt, dass die Idee der Städtepartnerschaft auch nach 50 Jahren jung und lebendig ist. Ich habe oft erlebt, wie herzlich sich die Menschen bei Partnerschaftsfeiern begegnen.

Sie wollen mit einem interessanten Kongressprogramm und einem Markt der Möglichkeiten Ideen austauschen und Impulse für die Zukunft geben.

Ich wünsche Ihnen im Namen der Bundesregierung gute Beratungen, anregende Gespräche und ein schönes Fest. Allen Gästen zudem schöne Stunden in Ludwigsburg und die Gastfreundschaft, die viele von uns bei Ihnen genießen durften.