Redner(in): Angela Merkel
Datum: 16.03.2010

Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Erika Steinbach, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag, Exzellenzen, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/03/2010-03-16-merkel-bund-vertriebene,layoutVariant=Druckansicht.html


Ich nehme in der Tat wieder sehr gerne an Ihrem Jahresempfang teil das erst recht, weil dieses Jahr 2010 auch ein Jubiläumsjahr ist. Wir sind hier heute, schon ganz selbstverständlich, im Opernpalais. Deshalb will ich noch einmal daran erinnern: In diesem Jahr werden wir am 3. Oktober an 20Jahre Deutsche Einheit denken. Außerdem wurde vor 60Jahren die Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet. Wie Erika Steinbach eben sagte: Diesen Jahrestag werden Sie im August am Ort der Verkündung, in Stuttgart, feierlich begehen. Der Bundestagspräsident wird zu Ihnen sprechen. Es wird Zeit und Raum sein, noch einmal an dieses wegweisende Dokument zu erinnern.

Die Wunden, die Gewalt, Flucht und Vertreibung damals geschlagen haben, waren noch frisch. Es war schon schwierig genug, in einem zerstörten Land ein neues Leben zu beginnen erst recht für diejenigen, die vertrieben worden und fern der Heimat waren. Man muss Jüngeren eigentlich immer wieder sagen ich gehöre auch zu denjenigen, die es nur aus Erzählungen kennen, wie schwierig das damals war, wie viel Zurückhaltung es sicherlich von Menschen verlangt hat, die zu Wildfremden kamen, die es ihrerseits auch nicht ganz einfach hatten, die sich dann ein Stück weit ducken mussten, sich klein machen mussten und teils auch nicht über ihr Schicksal der Vertreibung sprechen konnten. Das war eine extrem schwierige Situation, wie sie den allermeisten von uns heute glücklicherweise erspart bleibt.

Ein Satz aus der Charta hat mich besonders berührt: "Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde." Dieser Satz in der Charta, finde ich, weckt heute noch einmal die Emotionen, die damals so ausgedrückt wurden. Er ist so kurz und schlicht und vielleicht auch gerade deshalb so beeindruckend. Aber ich glaube, er drückt aus, wie die Gefühlslage von Flüchtlingen und Vertriebenen damals war. Sie mussten schmerzlich erfahren, was es bedeutet, Heimat zu verlieren, eine vertraute Region und Landschaft, angestammte Sitten und Bräuche, Menschen, mit denen man groß geworden ist. Wenn man sich einmal überlegt, wie empfindlich wir alle heute sind, wenn wir einmal in eine fremde Umgebung kommen und uns umgewöhnen müssen je älter man wird, umso schwerer tut man sich mit so etwas, dann kann man erahnen, was es bedeutet hat, wenn das alles, was mit Heimat zu tun hat, plötzlich gefehlt hat.

Deshalb ist es so eine großartige Sache, dass sich die deutschen Vertriebenen nicht in der Heimatlosigkeit verloren gegeben haben, sondern dass der Satz "Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde" eben nicht für sich allein gestanden hat. So ist die Charta nicht etwa ein Dokument der Hoffnungslosigkeit, sondern es ist ein Dokument voller Hoffnung. Es hat schon damals von dem Selbstverständnis gezeugt, sich nicht nur der eigenen Wurzeln zu vergewissern das natürlich auch, sondern aus dieser Vergewisserung heraus auch die Fähigkeit zu entwickeln, Brücken in die Gesellschaft und in ein neues Land zu schlagen dies auch immer in dem Gedanken nicht nur an dieses Land, sondern auch an Europa. Auch das geht uns heute recht leicht von den Lippen. Aber dies mit Leben zu erfüllen, war natürlich schwierig.

Deshalb sage ich: Es war alles andere als leicht, nach dem Leidensweg der Flucht und Vertreibung ganz bewusst den Weg der Aussöhnung und der Verständigung zu beschreiten. Die Charta gab diesen zukunftsgerichteten Weg vor. Sie als BdV und als die dazugehörigen Landsmannschaften haben dafür bin ich sehr dankbar nunmehr über Jahrzehnte hinweg diesen Weg des Miteinanders nie verlassen. Sie sind ihn immer gegangen, den Weg der Integration und den Weg des gemeinsamen Wiederaufbaus unseres Landes.

Ich will, weil ich am Anfang über 20Jahre Deutsche Einheit gesprochen habe, auch daran erinnern, dass es viele Flüchtlinge und Vertriebene in der ehemaligen DDR gab. Dort haben auch sie Fuß gefasst, auch sie hatten den Willen zum Wiederaufbau, aber sie konnten über ihr Schicksal noch viel weniger sprechen und ihre Gedanken in der Öffentlichkeit nicht ausdrücken. Flucht und Vertreibung waren in der ehemaligen DDR ein Tabu. Bestenfalls wurde, ganz neutral, das Wort "Umsiedlung" gewählt. Es wurde nie überlegt, was man tun könnte, um zu versuchen, dieses Leid ein bisschen zu mildern. Deshalb war es auch so wichtig, dass wir diese Frage nach der Wiedervereinigung sofort auf die Tagesordnung gesetzt haben. Natürlich konnte es keinen vollen Ausgleich oder einen Lastenausgleich geben einen vollen Ausgleich kann es sowieso nicht geben, aber wir haben ein Zeichen gesetzt. Ich glaube, das haben die Menschen, die 40Jahre lang nicht über ihr Schicksal sprechen konnten, auch sehr geschätzt. Dass heute der Sprecher der Gruppe der Vertriebenen jemand ist, der seinen Wahlkreis in Sachsen hat, ist doch auch ein schönes Zeichen für die Deutsche Einheit. So ist es ich sage das als Bundeskanzlerin sehr bewusst ganz selbstverständlich, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung heute Teil des gemeinsamen Verständnisses der 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist.

Sie haben, sozusagen in der Kontinuität der Charta, auch in diesem Jahr, wie es die Präsidentin eben schon gesagt hat, das Leitwort "Durch Wahrheit zum Miteinander" geprägt. Für die Wahrheit eintreten, das heißt natürlich auch, Ursache und Wirkung zu benennen. Wir wissen, dass es ohne den nationalsozialistischen Terror und den von Deutschland begonnenen Krieg nicht zu dieser Vertreibung Deutscher gekommen wäre. Noch leben Zeitzeugen unter uns, die über alles, was damals geschah, berichten können sowohl über das Menschheitsverbrechen des Holocaust als auch über die furchtbaren Folgen des Krieges mit Flucht, Vertreibung und Tod. Gerade persönliche Schilderungen können uns immer wieder Vergangenes näher bringen. Deshalb wiederhole ich gerne noch einmal das, was eben auch schon gesagt wurde: Alles, was Unrecht ist, muss auch weiterhin Unrecht genannt werden können.

Aber eines Tages, meine Damen und Herren, wird es nicht mehr möglich sein, persönliche Erlebnisse zu hören. Deshalb ist es mir so wichtig gewesen, das zu unterstützen, das Sie auf den Weg gebracht haben, nämlich Verantwortung vor der Geschichte so deutlich zu machen, dass Erinnerungen an das Geschehene wissenschaftlich fundiert aufbereitet und bewahrt werden und so an die kommenden Generationen weitergegeben werden können.

Das ist auch der Grund, warum die Idee einer "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" so wichtig ist. Deshalb habe ich sie auch von Beginn an unterstützt, weil ich den Zweck, die Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil deutscher und europäischer Geschichte historisch angemessen darzustellen, für außerordentlich wichtig um nicht zu sagen: unabdingbar halte. Ich will an dieser Stelle sagen: Ich unterstütze auch die Idee des vorigen Präsidenten des Europäischen Parlaments, unseres Kollegen Hans-Gert Pöttering, uns einmal in einem europäischen Haus der Geschichte die Geschichte Europas vor Augen zu führen. Wir ahnen, was das für Diskussionen geben wird. Aber natürlich muss auch dort das Thema Vertreibung und Flucht einen großen Stellenwert haben.

Wir wissen jetzt, wie lange und schwierig der Weg hin zu dieser Stiftung geworden ist. Ich sage ganz ehrlich: Ich habe mir manches einfacher vorgestellt. Aber es ist ja immer so: Wenn man sich schon vorher alle Schwierigkeiten ausmalt, macht man zum Schluss gar nichts mehr. Deshalb bin ich immer wieder zu der Überzeugung gelangt: Es hat sich gelohnt, dass wir uns dafür eingesetzt haben. Es lohnt sich, weiterzumachen. Es lohnt sich auch, die Schwierigkeiten, die es jetzt noch gibt, auszuräumen.

Ich will auch noch einmal zitieren, was Frau Steinbach, unsere Präsidentin, hier heute schon zitiert hat. Es geht darum,"im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wach zu halten." Ich finde, dieser Auftrag ist so klar definiert, dass man, wann immer Fragen aufkommen, ihn einfach nur wieder herausholen muss, neu zeigen muss und sagen muss: Das ist es, davon wird nicht abgewichen, aber das wird jetzt auch erfüllt.

Wenn wir diese Aufgabe angehen, dann können wir das doch in dem Bewusstsein tun, dass wir heute in einem friedlichen, freiheitlichen und geeinten Europa leben. Dieser in der Charta der Vertriebenen manifestierte Wunsch und Auftrag ist Wirklichkeit geworden. Er wäre nicht Wirklichkeit geworden, ohne dass die Vertriebenen einen solchen Wunsch in ihrer Charta schon angelegt hätten. Auch das muss einmal ganz deutlich gesagt werden.

Deshalb sind es auch gerade diejenigen, die vertrieben wurden, die heute in der Verbindung mit unseren osteuropäischen Nachbarn so viel mehr als nur einen gemeinsamen Binnenmarkt sehen, die seit Jahrzehnten jetzt, nachdem wir die europäische Einigung erreicht haben, noch sehr viel mehr glücklicherweise auch viele positive Kontakte finden, viel Anerkennung für dieses Engagement verdienen. Diese vielfältigen Bande, die von den Vertriebenen, aber auch von den nachkommenden Generationen gepflegt werden, sind ein wichtiger Teil des europäischen Einigungsprozesses, der doch ansonsten oft sehr technisch daherkommt und so selten so lebendig ist. Wenn man einmal wissen will, wie es um bestimmte Teile der ehemaligen Heimat bestellt ist, dann muss man Vertriebene oder Angehörige der Vertriebenen fragen, dann bekommt man ein sehr gutes Bild über die dortige Lebenssituation. Auch das fließt wieder in unsere Diskussionen ein.

Deshalb sage ich, dass es nicht den geringsten Zweifel gibt: Sie, die Mitglieder des Bundes der Vertriebenen und vor allem auch die vielen ehrenamtlichen Helfer, machen sich um unsere Gesellschaft verdient. Ich sage: Die Bundesregierung weiß das. Sie weiß um den Wert Ihres Wirkens. Ich möchte deshalb ein ganz besonderes Dankeschön an Ihre Präsidentin aussprechen. Sie hat in vielen gemeinsamen Diskussionen es ist ja nicht so, dass wir uns in der Fraktion nur schweigend gegenübersitzen, weil ich vorne sitze und sie mir gleich gegenüber immer wieder einen Weg gefunden, klar zu machen: Es geht um das Projekt, es muss ein Weg gefunden werden, es ist im Hinblick auf die kommenden Generationen unabdingbar, dass wir das schaffen. Deshalb, liebe Erika Steinbach, ein ganz herzliches Dankeschön.

Ich darf Ihnen sagen, auch beim Anblick des Staatsministers Neumann: Wir werden als Bundesregierung die Unterstützung aufrechterhalten und weiterführen. Das ist auch wichtig. Das, was schon ganz früh, in den ersten, schweren Nachkriegsjahren, begann, nämlich der Erhalt und die Pflege des kulturellen Erbes, wird weitergeführt. Sie haben sich als BdV später dann auch um viel mehr als nur um ihre eigene Geschichte gekümmert, zum Beispiel um die Aussiedler. Sie helfen heute den Spätaussiedlern, wirtschaftlich und gesellschaftlich Fuß zu fassen. Sie wissen, wovon die Rede ist, wenn man in eine neue Umgebung kommt. Aber es ist alles andere als selbstverständlich, dass Sie das gemacht haben. Auch hierfür ein Wort des herzlichen Dankes.

Lassen Sie uns den Weg weitergehen, den Weg dahin, dass wir eines Tages in ein Haus mit einer nun noch größeren Fläche und mit einer ordentlichen und wissenschaftlich ausgearbeiteten Ausstellung gehen können, die dann vielen die Möglichkeit geben wird, etwas über das Schicksal zu erfahren, das heute für viele noch nicht so zu erschließen ist. Ich kann Ihnen nicht voraussagen, dass das alles ganz einfach werden wird. Ich würde bereit sein natürlich nur, wenn Sie mich einladen wollen, nächstes Jahr wiederzukommen. Aber ich glaube, wir werden noch einige Zeit brauchen, um dem Kind sozusagen richtige Formen zu verleihen. Aber wir sind schon weit gekommen. Lassen Sie uns deshalb auch die anstehenden Diskussionen in aller Ruhe, aber mit der tiefen Überzeugung führen, dass es hierbei um einen wichtigen Teil deutscher Geschichte geht.

Herzlichen Dank.