Redner(in): Angela Merkel
Datum: 30.03.2010

Untertitel: in Istanbul
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Erdoğan, sehr geehrter Herr Koller, sehr geehrter Herr Hisarciklioğlu, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/03/2010-03-30-merkel-istanbul-deutsch-t_C3_BCrkisches-wirtschaftsforum,layoutVariant=Druckansicht.html


ich freue mich, heute wieder mit einer großen Delegation sowohl mit deutschen Unternehmern als auch mit der Staatsministerin für Integration bei uns im Kanzleramt, dem Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Mitgliedern des Deutschen Bundestages aus allen Parteien hier zu sein. Wir sind sehr froh, dass wir heute in Istanbul sein können, in dieser wunderschönen Stadt. Wir haben heute Nachmittag ein kleines gemeinsames Programm mit Vertretern der Kulturhauptstädte Essen, stellvertretend für das Ruhrgebiet, und Istanbul gehabt und haben noch einmal die Gemeinsamkeiten unserer kulturellen Beziehungen in den Mittelpunkt gestellt.

Das, was für die einen der wunderbare Reichtum der Kultur ist, das sind für die anderen die Wirtschaftsbeziehungen. Gerade die Region der Kulturhauptstadt Essen, die stellvertretend für das ganze Ruhrgebiet steht es sind 53Städte, die sich dort zusammengeschlossen haben, ist eine Region, die im klassischen Industriezeitalter mit Kohle und Stahl groß geworden ist. Die Vertreterin, die uns heute die Kulturhauptstadt Essen vorgestellt hat eine Deutschtürkin, hat ganz wunderbar gesagt: Wenn man zusammengearbeitet hat wie die Türken und Deutschen in den 60er oder 70er Jahren, zum Beispiel in der Kohlegrube, im Stollen oder am Hochofen zur Stahlherstellung, dann hat man nicht darüber gesprochen, woher jemand kam, sondern dann hat man einfach die Frage gestellt: Kann man sich aufeinander verlassen?

Ich glaube, das ist auch die Frage, die mich in diesen letzten zwei Tagen in den Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan immer wieder bewegt hat. Wir wollen uns aufeinander verlassen können, wir wollen unsere engen freundschaftlichen Beziehungen ausbauen und wir wollen das, was jedes Land kann Deutschland genauso wie die Türkei, zum Nutzen unserer beiden Völker einbringen. Ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg, aber da können wir auch noch mehr tun. Deshalb herzlichen Dank, dass Sie alle heute hierher gekommen sind und sich für die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen stark machen.

Istanbul ist eine klassische prosperierende Stadt. Beim Besuch der Deutschen Schule in Istanbul habe ich heute gesehen: Während die Zahl der jungen Menschen in Deutschland im Zuge des demographischen Wandels abnimmt, wird es in Istanbul und in der Türkei noch mehr junge Menschen geben, die ein Interesse daran haben, voranzukommen, eine gute Bildung zu bekommen und Wissenschaften oder Ingenieurwissenschaften zu studieren. Eines der großen Projekte, das wir jetzt gemeinsam auf den Weg bringen werden, ist zum Beispiel die Deutsch-Türkische Universität hier in Istanbul, die auch ein Beispiel dafür sein soll, wie sich unsere Ausbildungsaktivitäten annähern können und wie wir mehr kooperieren können, um so auch die Fachkräfte zu bekommen, die in der Wirtschaft und in den Ingenieurbereichen so dringend notwendig sind.

Wir können heute sagen, dass wir ein sehr gefestigtes Fundament der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen haben. Im letzten Jahr betrug das Handelsvolumen etwa 20Milliarden Euro. Das ist durch die Wirtschaftskrise etwas zurückgegangen, aber ich bin sehr optimistisch, dass sich die Zahl wieder vergrößern wird. Es ist vor allen Dingen wichtig, darauf hinzuweisen, dass der deutsch-türkische Handel ein Viertel der gesamten Handelsbeziehungen der Türkei mit allen 27Staaten der Europäischen Union ausmacht. Man kann wirklich sagen, dass das eine ganz besondere Partnerschaft ist. Wir haben gestern darüber gesprochen, dass das als ein strategisches Modell auch für den Weg der weiteren Annäherung der Türkei an die Europäische Union angesehen werden kann.

Die deutsche und türkische Wirtschaft ergänzen sich also ganz hervorragend. Wir merken seitens Deutschlands und der deutschen Unternehmer aber auch, dass uns der Wind immer mehr ins Gesicht bläst, weil die Türkei einen wahnsinnig raschen Modernisierungsprozess durchmacht. Gleichzeitig entsteht allerdings die Möglichkeit, in vielen strategischen Bereichen zusammenzuarbeiten. Im Rahmen des kleinen Round Table zur Wirtschaft haben wir soeben über einige dieser Projekte gesprochen. Ich glaube, dass man noch einmal daran erinnern darf, dass ein Projekt wie die neue Erdgasleitung Nabucco eine wunderbare Sache ist, denn die Türkei kann davon profitieren, weil es dabei um riesige Wirtschaftsvolumina geht. Dieses Projekt betrifft gleichzeitig aber auch ganz verschiedene Regionen. So wird Zentralasien über die Türkei mit dem westlichen Teil Europas besser verbunden werden können.

Der Ministerpräsident hat mir am Bosporus die Stelle gezeigt, an der die neue Straße und die neue Eisenbahnlinie gebaut werden. Wir reden über riesige Eisenbahnprojekte der Chef der Deutschen Bahn AG ist heute mit dabei. Wir reden über Projekte der modernen Wasserversorgung und des Abwassermanagements. Die Türkei hat ja nicht nur einige riesige Städte, sondern auch viele mittelgroße Städte, in denen es noch einen Modernisierungsschub geben muss. Wir haben in unserer Delegation außerdem Vertreter der Verteidigungsindustrie. Wir sind gemeinsame Partner in der NATO und brauchen hier eine moderne Sicherheitsarchitektur. Das heißt also, wir sind in vielen Bereichen engstens miteinander vernetzt.

Ich habe mich auch darüber gefreut, von der türkischen Seite zu hören, dass sich viele Mittelständler organisiert haben, um mit Deutschland Kontakte zu entwickeln, denn bekanntermaßen ist der Mittelstand in Deutschland sehr stark und sehr gut ausgeprägt. Die Stärke, die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft kommt natürlich auch von großen Unternehmen, zum Beispiel im Bereich der Telekommunikation, aber sie kommen genauso von den kleineren Unternehmen, die oft sehr flexibel reagieren können. Wir haben in Deutschland viele Weltmarktführer, die gar nicht so bekannt sind, weil sie sich auf bestimmte Bereiche spezialisiert haben, dies aber perfekt. Ich glaube daher, dass die Türkei gerade im mittelständischen Bereich sehen kann, wie man sich gut entwickeln kann.

Man darf auch sagen, dass es in Deutschland viele Türkischstämmige in der zweiten, dritten oder vierten Generation gibt, die inzwischen selber Unternehmer geworden sind und die so auch einen Beitrag zur Entwicklung der Wirtschaft in Deutschland leisten, die aber gleichzeitig natürlich auch die geborenen Partner für Kontakte in die Türkei hinein sind.

Im Jahr 2007 war die Türkei Partnerland der Hannover Messe. Ich erinnere mich sehr gut an den gemeinsamen Rundgang mit dem Ministerpräsidenten über die Messe. Ich glaube, wir müssen jetzt ganz zielgerichtet die bestehenden Hemmnisse, die es noch gibt, abbauen und dafür Sorge tragen, dass noch mehr Sicherheit und schnelleres Handeln in die Wirtschaftsbeziehungen hineinkommen.

Dazu gehört, dass wir das Doppelbesteuerungsabkommen erneuern Ministerpräsident Erdoğan und ich haben heute darüber gesprochen. Das ist ein sehr technisches Thema; aber wenn das nicht funktioniert, hat das viele Nachteile. Deshalb haben wir uns vorgenommen, unsere Finanzminister zu bitten, jetzt schnell die jeweiligen Punkte zu verhandeln. Wenn es politisch schwierige Punkte geben sollte, sind wir bereit, uns das mit den Finanzministern gemeinsam anzuschauen, sodass wir sicherstellen können, dass es spätestens bis Jahresende ein neues Doppelbesteuerungsabkommen gibt.

Ein Thema, das Sie auf der türkischen Seite sehr bewegt, ist das Thema der Visa. Auf der einen Seite haben wir dazu die Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei. Ich glaube, dass es diesbezüglich insbesondere ganz wichtig ist, dass die Türkei mit Blick auf die Außengrenzen die Sicherheit noch besser herstellt. Die Türkei ist an ihren Außengrenzen mit vielen Ländern verbunden. Aus diesen Ländern kommen wiederum Flüchtlinge, die die Türkei als Transitland benutzen können. Das muss eingedämmt werden. Ich glaube aber, dass die Türkei da auf einem sehr guten Weg ist; da sind erhebliche Anstrengungen unternommen worden.

Außerdem stellt sich uns natürlich immer wieder die Aufgabe, bestimmte Rückführungsabkommen abzuschließen. Auch diesbezüglich habe ich dem Ministerpräsidenten gesagt: Das sind praktische Dinge, die wir beschleunigen müssen. Das darf sich nicht so lange hinziehen. Ohnehin entwickelt sich die Wirtschaft unglaublich dynamisch. In der Zwischenzeit, in der der europäische Verhandlungsprozess voranschreitet, müssen wir auch darauf achten, was wir bilateral beschleunigen können. In diesem Sinne kann es sehr gut sein, wenn wir das Rückführungsabkommen schneller verhandeln, denn dann können wir das machen, was Spanien und Italien wohl schon gemacht haben, nämlich sehr schnell die Visabedingungen für Wirtschaftsvertreter, für Studenten und für Künstler wir haben ja eben darüber gesprochen, dass Istanbul europäische Kulturhauptstadt ist so zu gestalten, dass sie für längere Zeiten gelten, damit man nicht dauernd neue Visa beantragen muss, wenn man zum Beispiel sehr viele Geschäftskontakte nach Deutschland hat. Wir alle haben daran ein Interesse.

Deutschland hat in der Wirtschaftskrise einen Wirtschaftseinbruch von fünf Prozent erlebt. Das ist ein riesiges Loch, so etwas hatten wir noch nie in der 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik. Der schärfste Wirtschaftseinbruch vor dieser Krise betrug 0, 9Prozent, jetzt sitzen wir mit minus fünf Prozent da. Das heißt, wir haben ein hohes Interesse daran, dass wir auf der einen Seite exportieren können und dass wir auf der anderen Seite gute Waren kaufen können, dass also auch türkische Unternehmer zu uns einen Zugang haben.

Ich glaube, es gibt so etwas wie strategische Sektoren. Ich habe über die Infrastruktur und auch kurz über das Stichwort Nabucco gesprochen. Die Energiezusammenarbeit könnte aber noch sehr viel breiter angelegt werden. Deutschland hat sehr gute Erfahrungen im Bereich der erneuerbaren Energien. Wir haben eine rechtliche Grundlage für die Förderung der erneuerbaren Energien, die in Deutschland zu einem sehr starken Anstieg des Anteils der erneuerbaren Energien an der Gesamtenergieversorgung geführt hat.

Wenn wir uns die Türkei anschauen, können wir sagen: Die Sonne scheint hier eigentlich sehr oft, hier müsste Solarenergie noch sehr viel besser zu fördern sein. Ich gebe aber zu, dass die Solarenergie derzeit noch sehr stark subventioniert werden muss. Deshalb sollten wir uns vielleicht erst einmal die Küstengebiete der Türkei anschauen, denn die Windenergie ist sicherlich noch nicht in dem Maße entwickelt, wie sie es sein könnte. In diesem Bereich können wir also, auch was die Rechtsetzung anbelangt, noch enger zusammenarbeiten und uns austauschen. Deutschland ist im Bereich der Windenergie eben sehr führend und würde die Dinge gerne gemeinsam mit der Türkei weiterentwickeln.

Wir sehen natürlich auch, dass die Türkei ihre gesamte Energieinfrastruktur neu ausbaut. Die Türkei beschäftigt sich im Energiebereich außerdem auch mit einem Thema, das in Deutschland gar nicht auf der Tagesordnung steht, nämlich dem Neubau von Kernkraftwerken. Auf jeden Fall wissen wir, dass der Bereich der Energie in der Türkei in den nächsten Jahren aufgrund des anhaltenden Wirtschaftswachstums, der Bevölkerungsentwicklung und des wachsenden Wohlstands sicherlich ein riesiges Thema sein wird. Deshalb darf ich anbieten, dass Deutschland hier wirklich gerne mit Rat und Tat zur Seite steht.

Wir haben natürlich durchaus das große Interesse, auch weltweit gemeinsam aufzutreten. Ich will an dieser Stelle sagen, dass wir mit der Türkei eine sehr enge Zusammenarbeit im Rahmen des G20 -Prozesses pflegen und dass wir in der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Türkei diejenigen sind, die die Motoren für mehr Finanzmarktregulierung sind. Die Türkei ist in ihrem Bankensektor in der Finanzmarktkrise nicht allzu stark betroffen gewesen, weil schlechte Erfahrungen schon früher gemacht wurden und daraus aber auch die richtigen Lehren gezogen wurden. Wir müssen aber aufpassen, dass auf der Welt nicht Protektionismus um sich greift und wir unseren Handel nicht so entwickeln können, wie wir das wollen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir auch an dieser Stelle zusammenarbeiten und das umsetzen, was wir uns im G20 -Prozess vorgenommen haben, nämlich dafür Sorge tragen, dass kein Finanzmarktprodukt und kein Finanzplatz ungeregelt bleiben darf.

Ich weiß, dass die Frage des EU-Beitritts ein großes Thema bei Ihnen ist. Ich erinnere mich an meine letzte Reise, auf der wir uns auch schon kontrovers mit der Frage der Vollmitgliedschaft auseinander gesetzt haben. Ich glaube aber, wir sollten jetzt trotz dieser Differenzen erst einmal pragmatisch denken. Pragmatisch denken heißt, dass wir den Verhandlungsprozess fortsetzen. Wir haben darüber gesprochen, dass das Ankara-Protokoll im Augenblick vielleicht die größte Barriere darstellt. Denn solange diese Barriere nicht beseitigt wird, können einige Verhandlungskapitel nicht geöffnet werden, die gerade auch für die Wirtschaft von großer Bedeutung sind. Deshalb hat Deutschland angeboten, alles zu tun, um die Verhandlungen mit Zypern zu verbessern. Wir brauchen in Europa offene Häfen, freien Zugang und Handel. Ich bin diesbezüglich auch bereit, mit meinem Kollegen in der Europäischen Union, dem zypriotischen Präsidenten Christofias zu sprechen. Das Thema darf jetzt nicht ewig liegenbleiben, sondern wir müssen angesichts so vieler Wettbewerber auf der Welt denken Sie nur an China, an Indien und an Asien insgesamt versuchen, Fortschritte zu erreichen und unsere Probleme in dieser Region miteinander zu lösen.

Ich darf Ihnen sagen, dass wir auch alles tun, damit die vielen türkischstämmigen Menschen, die in Deutschland leben es sind über drei Millionen, an unserem gesellschaftlichen Leben teilhaben können, dass sie eine gute Entwicklung nehmen können und dass sie auch Brückenglieder zwischen unseren beiden Ländern sein können. Ich wünsche mir, dass aus denen, die früher, Anfang der 60er Jahre, als diejenigen gekommen sind, die wir Gastarbeiter genannt haben, Menschen werden, die ganz selbstbewusst in Deutschland ihre Heimat sehen, die gleichzeitig ihre Wurzeln in der Türkei nicht vergessen haben und die Ihnen heute als Unternehmer, als Wissenschaftler, als Journalisten und als Künstler wiederbegegnen und davon zeugen, wie sich die Kulturen durch Zuwanderung bereichern. Dass dazu Integration gehört ich sage bewusst Integration, nicht Assimilation, ist wichtig. Dass die Sprache der Schlüssel ist, um überhaupt an einer Gesellschaft teilhaben zu können, werden Sie auch verstehen. Wer in der Türkei nicht Türkisch kann, kommt hier schlecht voran. Und wer in Deutschland nicht Deutsch kann, der hat es auch sehr schwer.

Wir haben viele gemeinsame Projekte. Ich möchte zum Abschluss dies ist ja die letzte Veranstaltung auf dieser Reise noch ein herzliches Dankeschön sagen: ein herzliches Dankeschön an den türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan, an die Minister, denen wir begegnen konnten, für die Einsichten, die ich gewinnen konnte, und für die Gastfreundschaft gerade auch in dieser wunderschönen Stadt Istanbul. Ich fahre nach Hause und sage: Wir haben noch viel Gemeinsames vor, die Zukunft steht uns offen. Die Türkei und Deutschland haben vieles gemeinsam. Dieses Potential wollen wir nutzen, auch und gerade im Bereich der Wirtschaft. Dafür werde ich weiter arbeiten.

Herzlichen Dank.