Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.09.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Spiegel, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/76/19176/multi.htm


Sperrfrist: Redebeginn!

Mit der heutigen Feierstunde erinnern wir an die Gründung des "Zentralrats der Juden in Deutschland" am 19. Juli 1950. Dieses Ereignis ist in jeder Hinsicht "historisch" zu nennen. Ich möchte deshalb auch mit dem Zitat eines Historikers beginnen.

Zu diesem Gründungsakt, zu dem sich die Vertreter der jüdischen Organisationen aus den ehemaligen Besatzungszonen mit den Repräsentanten der Juden in den Lagern der "Displaced Persons" zusammengefunden hatten, schreibt der amerikanische Forscher Michael Brenner: Gegen allen Widerstand von innen und außen errichteten sie den Grundstein für eine längerfristige jüdische Infrastruktur in Deutschland."

Aus diesem "Widerstand von innen und außen" ist schnell eine Akzeptanz und eine herausragende gesellschaftliche Institution erwachsen, die für die Pflege und das Ansehen der deutschen Demokratie im In- und Ausland unschätzbaren Wert hat.

Auf diese Geschichte kann der Zentralrat der Juden in Deutschland heute mit allem Stolz zurückblicken.

Es war ja wenige Jahre nach dem Ende des Krieges und des verbrecherischen Nazi-Regimes keineswegs selbstverständlich, dass diejenigen, die aus den Lagern befreit werden konnten, die überlebt hatten, für sich und ihre Kinder ausgerechnet im "Land der Täter" eine neue Existenz und neue Gemeinden aufbauen wollten.

Die Gründung des Zentralrates als Dachorganisation der jüdischen Gemeinde und ihrer Landesverbände war ein "Signal zum Bleiben" für Menschen jüdischen Glaubens. Nie wieder ", hieß es dagegen 1948 zum Beispiel in einer Stellungnahme des Jüdischen Weltkongresses, dürften Juden" auf dem blutgetränkten deutschen Boden " heimisch werden.

Das war auf dem Hintergrund der Geschichte und des nationalsozialistischen Völkermords an den Juden nicht unverständlich und nachvollziehbar.

Zwar hatte sich die Bundesrepublik ein vorbildliches Grundgesetz gegeben.

Aber in manchen ihrer Institutionen herrschte durchaus noch jener Untertanengeist, der das sogenannte "Tausendjährige Reich" möglich gemacht hatte.

Und dessen Schande manche nun rasch vergessen wollten. Die von "Zusammenbruch" sprachen, wo es die Befreiung vom Hitler-Faschismus war.

Gegen den äußeren Widerstand gab es Stimmen wie die von Eugen Kogon, der denen, die zum Rückzug der Juden aus Deutschland aufriefen, antwortete, dass "Ihre vollkommen verständliche Haltung einen endgültigen Triumph Hitlers bedeutet."

Und Stimmen wie die von Heinz Galinski, der fest davon überzeugt war, dass "die Wannsee-Konferenz nicht das letzte Wort sein kann im Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland."

Meine Damen und Herren!

Es war diese Meinung, die sich am Ende durchsetzte.

Dieses Beharren, dieses Bleiben - Wollen in Deutschland war kein "Verzeihen" - und konnte es auch nicht sein.

Den Völkermord kann man nicht verzeihen, so wenig, wie man ihn vergessen oder verdrängen kann.

Nein, die Juden, die überlebt hatten oder nach Deutschland zurückgekehrt waren, beharrten auf ihrem selbstverständlichen Recht, hier zu leben und an der Gestaltung einer neuen, freiheitlichen Gesellschaft mitzuwirken.

Mit der Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland begann die Ära der Konsolidierung der jüdischen Gemeinschaft.

Der Zentralrat war stets ein wichtiger Impulsgeber für das gesellschaftliche Leben in der Gründungsphase der jungen Bundesrepublik.

Und er hat maßgeblich Anteil am Aufbau einer stabilen und erfolgreichen Demokratie und an der Entwicklung einer toleranten Gesellschaft.

Die Stärkung jüdischer Identität in Deutschland durch die Erhaltung des geschichtlich-kulturellen jüdischen Erbes, die Weiterentwicklung jüdischen Lebens und zugleich die Suche nach Zusammenarbeit mit der nichtjüdischen Umgebung in Staat und Gesellschaft - dies sind wesentliche Aufgaben, die sich der Zentralrat gesetzt hat.

Meine Damen und Herren!

Es zeichnet das Wirken des Zentralrats der Juden in Deutschland besonders aus, dass er seit seiner Gründung nicht nur die Infrastruktur "jüdischen Lebens", sondern demokratisches Leben überhaupt gegen Widerstände verteidigt.

Und zu diesen "Widerständen" gehört nicht allein der nur "widerlich" zu nennende Rechtsradikalismus.

Bei dessen entschlossener Bekämpfung stehen Bundesregierung und Zentralrat einmütig beisammen.

Besonders danken möchte ich an dieser Stelle Paul Spiegel für sein Engagement und seine Bereitschaft, im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit Gesicht zu zeigen.

Überhaupt beweisen die jüdischen Gemeinden in Deutschland Tag für Tag ihren unermüdlichen Einsatz gegen jede Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit, für wahre Menschlichkeit, unabhängig von Konfession und Hautfarbe.

Meine Damen und Herren!

Damit komme ich zum vielleicht härtesten "Widerstand", mit dem sich der Zentralrat der Juden in Deutschland auseinander zusetzen hatte und hat. Das ist der Widerstand des Vergessens.

Die Erinnerung wachzuhalten an die Verbrechen der Vergangenheit, die Menschen zu konfrontieren mit der Erfahrung von Rassenhass und Völkermord - das gehört zu den Grundvoraussetzungen einer zivilen, freiheitlichen Gesellschaft.

Dass ein Verdrängen der Vergangenheit jede bewusste Auseinandersetzung mit der Gegenwart unmöglich macht, haben wir in Deutschland übrigens nicht nur aus der Geschichte der ehemaligen Bundesrepublik gelernt.

In der einstigen DDR, das wissen die hier anwesenden Vertreter der ostdeutschen jüdischen Gemeinden besser als ich, herrschte so viel staatlich verordneter "Antifaschismus", dass das jüdische Leben gleich mitverschwiegen wurde und Ressentiments gegen Juden kultiviert wurden.

Ich will hier keine soziologischen Erklärungen versuchen. Aber vielleicht sollten wir uns fragen, warum Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gerade auf ostdeutschen Straßen anzutreffen sind?

Und auch darüber nachdenken, wohin es führt, wenn man junge Menschen - und sei es aus einer überzogenen "Gleichheits-Ideologie" heraus - nicht mehr über die Unterschiede in einer Gesellschaft aufklärt, und sie zur Toleranz im Leben mit diesen Unterschieden erzieht.

Insofern finde ich es immer etwas zu kurz gegriffen, wenn die Rolle des Zentralrats der Juden in Deutschland auf seine Funktion als "Mahner" der Vergangenheit beschränkt wird.

So wichtig und unverzichtbar das ist: Aber der Beitrag der jüdischen Gemeinden in Deutschland besteht eben auch darin, dass sie jüdisches Leben in Deutschland sind. Und damit eine Bereicherung unserer Gesellschaft sind.

Meine Damen und Herren!

Erinnern an die Verbrechen der Deutschen unter dem Nationalsozialismus, an die Verstrickung der Menschen in Rassenhass und Völkermord, das gehört zu den Verpflichtungen, die uns die Vergangenheit aufgibt, wenn wir die Gegenwart und die Zukunft bewältigen wollen.

Niemand kann und will die heutige Jugend, die dritte und vierte Nachkriegsgeneration, für Taten in Haftung nehmen, die sie nicht zu verantworten hat.

Aber ihr die Verbrechen der Vergangenheit vor Augen zu führen und sie mit der Verstrickung von Menschen in Rassenhass und Völkermord zu konfrontieren, das gehört zu unserer notwendigen Erinnerungsarbeit.

Diese Aufgabe wird, und Sie wissen das alle, mit fortschreitender Zeit nicht leichter.

Die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen von Auschwitz lässt sich ohnehin schwer in Worte fassen, die man jüngeren Menschen vermitteln könnte. Umso schwerer wird es, je weniger Zeitzeugen noch am Leben sind, die davon berichten können.

Deshalb hat die Erinnerungsarbeit, zu der uns der Zentralrat immer wieder auffordert, so herausragende Bedeutung. Und das macht auch den unschätzbaren Wert von Veranstaltungen wie der Ausstellung im Centrum Judaicum zum Schicksal der Berliner Juden von 1938 bis 1945 aus.

Meine Damen und Herren!

Als der Rabbiner Nathan Peter Levinson, der auf ausdrücklichen Wunsch von Leo Baeck nach Deutschland zurückgekehrt war, 1950 seine Antrittspredigt in Berlin hielt, stellte er sie unter das Motto: Ein Ort ist nicht einfach ein Ort. Ein Ort, das sind die Menschen, mit denen man zusammen ist."

Diese Menschen, die Eltern, Freunde und Geschwister, waren grausam aus der Stadt Berlin herausgerissen worden. Das Berlin, in dem Levinson geboren war, gab es nicht mehr.

Und: Beim Ort "Berlin" musste man fortan die Begriffe "Führerhauptquartier" und "Wannsee-Konferenz" mitdenken.

Heute ist Berlin wieder Hauptstadt des vereinten Deutschland, seit 1999 dessen Regierungssitz. Und seit 1999 ist es auch Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Für die Bundesregierung, aber auch für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, ist dies auch eine Rückkehr in die eigene Geschichte.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte - und hier muss man es ganz besonders betonen: gegen allen Widerstand von innen und außen - erheblich dazu beigetragen, dass die Bundesrepublik wieder in die Völker- und Staatengemeinschaft aufgenommen werden konnte.

Auch daran gilt es die Erinnerung wachzuhalten, wenn wir heute gemeinsam diesen Ort Berlin beleben wollen.

Eine Stadt, die das Berlin der 20er Jahre nicht mehr sein kann, und die das Berlin der 30er und 40er Jahren nie wieder sein darf.

Gerade deshalb muss Berlin auch ein Ort der Erinnerung sein. Allerdings, so glaube ich, werden wir dem mit Mahnmalen und Gedenkstätten allein nicht gerecht.

Wir brauchen viele Orte der Erinnerung und der Auseinandersetzung. Orte, die uns an den Schrecken erinnern; aber auch Orte, die uns an die wenigen - und deshalb umso wichtigeren - Beispiele von Mut und Zivilcourage erinnern.

Gerade wenn wir jüngere Generationen mit den Verbrechen der Vergangenheit konfrontieren müssen, sollten wir ihnen auch berichten, dass es selbst in düstersten Zeiten Mitmenschen gegeben hat, die als Polizisten, Pfarrer oder Politiker ihre Pflicht getan haben - und zwar als Menschen, nicht als Untertanen.

Die drangsalierten und verfolgten Mitmenschen geholfen haben.

Die Würdigung dieser "kleinen Helden" des Alltags verharmlost keinesfalls das große, unsägliche Verbrechen.

Im Gegenteil: Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Zivilcourage das Leben anderer schützen und retten kann, wird jede Ausrede, man habe ja "nichts tun können" oder "von nichts gewusst" umso kläglicher.

Man konnte etwas tun - und man kann heute etwas tun.

Meine Damen und Herren! Etwas tun " - damit sind sicher und zu Recht auch diejenigen gemeint, die politische Verantwortung tragen.

Das betrifft die Vergangenheit, aber auch und vor allem die Gegenwart und die Zukunft.

Es hat lange genug gedauert, bis eine Bundesregierung endlich Verantwortung für das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter übernommen hat.

Mit der Errichtung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" haben wir endlich einen ersten Schritt getan.

Ich kann auch von dieser Stelle aus nur noch einmal eindringlich an alle betreffenden Unternehmen appellieren, jetzt endlich einzuzahlen.

Aber "etwas tun" - das betrifft natürlich vor allem den Umgang mit den unerträglichen Tatsachen von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und fremdenfeindlicher Gewalt in Deutschland.

Hier steht nicht einfach der "Standort Deutschland" auf dem Spiel, unser Ansehen in der Welt, oder die Bereitschaft ausländischer Investoren und Fachkräfte, sich bei uns zu engagieren.

Nein, hier geht es zuallererst um die Grundwerte unserer Demokratie, um das, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält.

Um es kurz zu sagen: Um Toleranz, die nur zu erreichen ist, wenn wir keine Toleranz gegenüber den Intoleranten zeigen.

Ich habe wiederholt das Zusammenspiel von drei Elementen genannt, das gegen Rechtsradikalismus und Gewalt mobilisiert werden sollte.

Erstens: die unnachgiebige Verteidigung des Rechtsstaats und seines Gewaltmonopols. Das heißt auch: Frühzeitiges Eingreifen der Ordnungskräfte, wirksame Abschreckung, effektiver Fahndungsdruck.

Zweitens: das Gesprächs- und Integrationsangebot an die Jugendlichen, die zum Gespräch und zur Integration bewegt werden können. Und das heißt natürlich auch: Eröffnen von sozialen Perspektiven, Beschäftigungsangeboten, gemeinsames Engagement im Städte- und Stadtteilbereich.

Drittens: die Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Dazu muss ich Ihnen, dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der seit 50 Jahren eine der wichtigsten Säulen unserer Zivilgesellschaft ist, nicht viel sagen.

Nur das vielleicht, was Ihr unvergessener Vorsitzender, der Mann, der sich selbst ausdrücklich und programmatisch als "deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" bezeichnet hat, für sich formuliert hat.

Dieser Mann, Ignatz Bubis, sagte bereits 1994: Ich hoffe, dass sich die politische Situation wieder beruhigt, dass ich wieder mehr Zeit für die jüdischen Dinge haben werde."

Diese Hoffnung gilt heute mehr als je zuvor. Dem Zentralrat der Juden in Deutschland will ich dabei die uneingeschränkte Unterstützung der Bundesregierung versichern.